7. KAPITEL
„Ist es nicht ein bisschen warm für einen Schal?“, fragte Will, während er Nell in die etwas muffig riechende Kutsche half. Vor seiner Abreise nach Shanghai hatte er seinen Phaeton und die Pferde verkauft, sodass sie nun mit einer Mietdroschke vorliebnehmen mussten. Zum Einsteigen hatte sie sich eine besonders dunkle Straßenecke ausgesucht, zwei Häuserblocks von der Colonnade Row entfernt, damit keiner der Nachbarn der Hewitts sie sehen konnte. „Zum Nabby’s Inferno“, instruierte er den Kutscher, als er neben Nell in den Wagen stieg. „North Street, Ecke Clark.“
Nell zog das wollene Schultertuch mit den langen Fransen noch etwas enger um sich. „Vielleicht habe ich doch ein wenig übertrieben.“
Will hatte vorgeschlagen, sie sollten sich beide so anziehen, dass sie unter den Anwohnern des North End nicht weiter auffielen. Nur so könnten sie wohl deren Vertrauen gewinnen und sie zur Zusammenarbeit bewegen. Wenn wir im Nabby’s wie vornehme Schnösel aufkreuzen, die sich das berüchtigte Treiben in den Slums mal bei Nacht ansehen wollen, dürften wir höchstens erfahren, wie schnell sie uns ausplündern und in hohem Bogen wieder hinauswerfen können.
Die einzigen Frauen, die abends die Saloons im North End frequentierten, hatte Will gemeint, wären entweder jene, die ihre Gunst ganz offen für Geld feilboten oder aber solche, die sie einem gegen Unterkunft, Schutz und kleine Geschenke gewährten. So gesehen sei es wenig verwunderlich, dass sie ihre Reize recht frei zur Schau stellten – eine sittsam gekleidete Dame würde im Nabby’s also höchst suspekt wirken.
Womit Will vermutlich recht haben dürfte. Das einzige Problem an der ganzen Sache war nur – abgesehen von Nells Abneigung dagegen, billig auszusehen –, dass sie eigentlich nur Kleider besaß, die für einen solchen Ausflug allesamt viel zu geschmackvoll waren. Als Gouvernante war es unerlässlich, dass sie einen wohlerzogenen und kultivierten Eindruck machte. In ihrer Not hatte sie schließlich in den Kleidern gestöbert, die von den Hausmädchen bei ihrer Abreise ans Cape zurückgelassen worden waren – ihre „zivilen“ Kleider, die sie an ihrem freien Tag trugen. Der Ertrag war jedoch dürftig gewesen. Das meiste hatten sie mitgenommen – natürlich, denn so viel besaßen sie gar nicht –, und etwas, das so richtig billig und zweifelhaft aussah, hatte sich zunächst auch nicht finden wollen. Doch dann hatte Nell eine alte Schiffstruhe entdeckt, die der aufmüpfigen Mary Agnes Dolan gehörte, dem rothaarigen Zimmermädchen, das Nell noch nie sonderlich gemocht hatte. Darin fand sie drei enge, tief ausgeschnittene Mieder, einen blauen Rock mit modischer Turnüre, der mit unzähligen Rüschen, Schleifchen und Bändern aufgeputzt war, sowie einen pompösen kleinen Hut mit Federschweifen und ein Paar schwarze Spitzenhandschuhe, die die Finger frei ließen.
Nell entschied sich für ein Mieder aus smaragdgrünem Satin, das so eng tailliert war, dass sie ihr Korsett bis zum nahen Erstickungstod schnüren musste, um überhaupt hineinzupassen. Das Dekolleté war skandalös. Sie erbleichte, als sie an sich hinabsah und auf ihre unziemlich zur Schau gestellten Brüste blickte. Doch genau darum ging es ja, redete sie sich gut zu, und so stürzte sie sich mit neuem Eifer in ihre Rolle, färbte sich Lippen und Wangen rot, drehte ihr Haar zu einem lockeren Chignon auf, aus dem sie einige Strähnen ins Gesicht und den Nacken hinabhängen ließ. Dazu die Spitzenhandschuhe, ein Retikül – gleichfalls aus schwarzer Spitze –, das gefiederte Hütchen und ein paar von Mary Agnes’ unzähligen Glasperlenketten.
Als sie vor dem großen Spiegel in der Eingangshalle der Hewitts stand, musste sie lächeln und dachte: Wenn der heilige Augustus mich jetzt so sehen könnte … Das Lächeln verging ihr jedoch schnell, als sie Will durch die Hintertür hereinkommen hörte. Er war gerade kurz bei sich zu Hause gewesen, um ein paar Dinge zu holen. Geschwind griff sie sich eines von Violas Schultertüchern von der Garderobe und hüllte sich hastig darin ein. Hätte sie doch nur daran gedacht, sich wenigstens ein Spitzenfichu in das freizügige Dekolleté zu stecken! Das hätte natürlich den gewünschten Effekt zunichtegemacht, aber zumindest hätte sie Will erhobenen Hauptes entgegensehen können.
Als er sich ihr nun in der fahrenden Droschke zuwandte – auch er war dem Anlass entsprechend in eine schlichte Leinenjacke gekleidet und trug eine Tweedkappe –, meinte er: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass du es übertrieben hast. Dir mag es vielleicht so vorkommen, da du mittlerweile so unübertrefflich respektabel bist, aber es soll Frauen geben, denen es gar nie vergönnt ist, wirklich vulgär auszusehen – ganz gleich, was sie anhaben. Und du bist eine von ihnen, also kein Grund zur Beunruhigung.“ Er streifte ihr den Schal von den Schultern. „Schließlich willst du heute Abend wie ein leibhaftiges Flittchen aussehen und nicht wie eine Gou…“ Ungläubig blinzelnd sah er auf sie hinab. „Gouvernante.“
„Siehst du“, sagte sie und zog den Schal wieder um sich.
Er streifte ihn ihr wieder ab. „Nell, jetzt sei nicht albern. Es ist wirklich viel zu warm, um …“
„Aber ich sehe aus wie … wie …“
„Du siehst wunderbar aus“, sagte er leise.
„Den ganzen Abend werden furchtbare Flegel mich anstarren“, beschwerte sie sich. „Und es ist ja kein Wunder, so wie ich …“ Vielsagend sah sie auf ihr Dekolleté hinab.
„Die Männer, die im Nabby’s verkehren, dürften den Anblick spärlich bekleideter Frauen gewohnt sein“, beruhigte Will sie. „Niemand wird dich anstarren.“
„Aber … es ist schon eine Weile her, dass ich mit solchen Leuten Umgang hatte. Ich habe fast völlig vergessen, wie sie sind, wie diese Welt ist. Es ist so …“
„Ich weiß.“ Will schloss seine Hand um die ihre, zog sie aber sogleich wieder zurück, als hätte er sich eine Indiskretion zuschulden kommen lassen. „Du kehrst ja aber keineswegs in diese Welt zurück, sondern wirst nur eine Rolle spielen – Colin Cook zuliebe.“
„Und für seine Frau. Sie tut mir so leid. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was sie gerade durchmacht.“
„Dir ist schon bewusst, dass sie uns etwas verschwiegen hat?“, fragte Will.
Nell seufzte nur.
„Wie ausweichend sie reagiert hat, als wir wissen wollten, wie sie sich kennengelernt hatten“, fuhr er fort.
„Ich weiß.“
„Und dieser mysteriöse Gefallen, den er ihr getan hatte und für den sie sich bei ihm in ihrem Brief bedanken wollte.“
„Ja, ich weiß, ich weiß.“
„In anderer Hinsicht war sie ja sehr offen und entgegenkommend – nur dann nicht mehr, als ich sie unumwunden fragte, ob sie glaube, dass ihr Mann Johnny Cassidy umgebracht haben könnte. Ich will damit nur sagen, eigentlich finde ich sie sehr nett, aber so ein bisschen wundert mich das schon alles.“
„Ich komme dennoch nicht umhin, Mitleid mit ihr zu haben, weil Skinner ihr so niederträchtig zugesetzt hat – und das in ihrem Zustand. Er hätte ihr das alles gar nicht zu erzählen brauchen, das über ihren Mann und Mary Molloy.“
„Meinst du denn, dass es stimmt?“, fragte Will.
„Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Einerseits hat er immer so liebevoll von ihr gesprochen, aber andererseits … wie sie schon sagte, er ist eben nun mal ein Mann, und Männer …“
„Und Männer …?“ Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, dieser Schuft.
Nell bedachte ihn mit einem finsteren Blick. „Haben Bedürfnisse.“
„Ach ja, natürlich, unsere niederen, lüsternen Bedürfnisse. Ich habe indes festgestellt, dass ein Mann, der seine Frau wirklich liebt und reif genug ist, um zu wissen, dass man nicht immer alles haben kann, was man sich so dringlich wünscht, ihr allen Widrigkeiten zum Trotz treu bleiben kann. Selbst wenn es bedeutet, dass er auf die Freuden des Ehebettes mal ein paar Monate verzichten muss. Oder auch länger.“
„Dennoch“, beharrte Nell. „Es ist schließlich bekannt, dass Männer immer mal wieder auf Abwege geraten – selbst so herzensgute Männer wie Detective Cook. Und wenn wir davon ausgehen, dass er nichts mit Mary Molloy hatte, könnten wir etwas Wichtiges übersehen, das uns vielleicht helfen könnte, den wahren Tathergang zu erschließen. Wir sollten es also nicht von vornherein ausschließen.“
„Wie diplomatisch du dich meiner Meinung angeschlossen hast“, meinte Will und deutete ein feines Lächeln an. „Mein autoritäres Insistieren war also doch nicht vergebens.“ Indem er gegen das Dach der Droscke klopfte, bedeutete er dem Kutscher, den Wagen anzuhalten.
„Das Nabby’s liegt einen Block weiter die Straße runter“, sagte er, als er Nell beim Aussteigen behilflich war und dann den Fahrer bezahlte. „Es dürfte wahrscheinlich besser sein, wenn die Leute, mit denen wir es gleich zu tun haben werden, uns nicht aus einer Droschke steigen sehen. Lieber nicht zu vornehm daherkommen, was?“
Er nahm sie beim Arm und geleitete sie die North Street hinab, eine verwinkelte Gasse mit Kopfsteinpflaster, an der sich zu beiden Seiten Läden und Wohnhäuser reihten, von denen ein jedes armseliger und heruntergekommener war als das vorherige. Ganze Horden von Männern kamen die Straße entlangstolziert, brachen immer wieder in derbes Gelächter aus, tranken aus Flaschen und rauchten Zigaretten. Mitleiderregende Huren standen unter den Laternen beisammen und fächelten sich Luft in die schweißglänzenden, grell geschminkten Gesichter. Die warme Nachtluft wehte das Aroma von verrottetem Obst, Abwässern und saurem Bier durch die Gasse, und über allem lag der muffig feuchte Geruch des Bostoner Hafens, der wenig weiter gen Osten lag.
„Da wären wir“, sagte Will, als sie bei einem verfallenen Backsteinbau angelangt waren, dessen bleigefasste Fenster gelb-orange in der Dunkelheit leuchteten. Vor dem Haus standen Männer und Frauen zusammen, lachten und kokettierten miteinander, rauchten und tranken. Von drinnen drang gedämpftes, sehr lebhaftes Klavierspiel hinaus.
„Warst du schon mal hier?“, wollte Nell von Will wissen.
„Ein paar Mal, allerdings ist das schon etliche Jahre her, und auch nur, um was zu trinken, nicht zum Kartenspielen.“ Er senkte die Stimme, um nicht von den Umstehenden gehört zu werden. „Sogar damals war ich schon schlau genug, hier nicht einen Cent zu setzen. Alles abgekartet hier. Kaum dass man einen Fuß über die Schwelle gesetzt hat, wird man auch schon ausgenommen. Kommt ein Mann allein, wird er sogleich von einem der Mädchen um einen Tanz gebeten – für den er natürlich zu bezahlen hat. Danach hat das Mädchen furchtbaren Durst und möchte etwas trinken, und obwohl sich in dem Drink nicht einen Tropfen Alkohol findet, knöpft man dem armen Burschen dafür noch mal ordentlich was ab. Schließlich kommt die Einladung, sich doch in eines der Separees zurückzuziehen, wo man sich in Ruhe vergnügen könne, was ihn den allerletzten Rest dessen kosten wird, was sich noch in seiner Brieftasche findet. Beim Kartenspiel wird betrogen, ebenso beim Boxen …“
„Beim Boxen?“
„Ein oder zwei Abende die Woche wird die Tanzfläche in einen Boxring verwandelt, wo dann mit bloßen Fäusten gekämpft wird. An den übrigen Abenden gibt es einfach nur Tanz und Musik.“
Er führte sie zu einigen gerahmten Porträtfotografien, die schon etwas angestaubt in einem der vorderen Fenster ausgehängt waren, sodass man sie sich von der Straße aus im Schein der Laterne anschauen konnte. Die obere Reihe zeigte Bildnisse von kräftig gebauten Männern, die mit nacktem Oberkörper und erhobenen Fäusten grimmig in die Kamera schauten. Am unteren Rand jeden Bildes stand in krakeliger Schrift ein Name geschrieben: Phelix McCann, Davey Kerr, Pat „Bulldog“ Cunigan, Jimmy Muldoon, Finn „Southpaw“ Cassidy, Johnny Cassidy …
„Sieh nur“, meinte Nell und zeigte auf die Fotografien der beiden Cassidys, die einander auffallend ähnlich sahen, wenngleich der eine dunkles Haar hatte und der andere blond war. Der Dunkelhaarige – es war der jüngst verstorbene Johnny – posierte in lauernder Boxerstellung, die Fäuste auf Höhe des Gesichts zum Schlag bereit. Er hatte nicht in das Objektiv geblickt, und die Ansicht im Dreiviertelprofil betonte noch seine wuchtige Stirn und die starken Wangenknochen. Finn Cassidy, der zwar dieselben verwegenen Gesichtszüge hatte, war bedeutend schwerer als Johnny, ein Schrank von einem Mann, ein wahrer Koloss aus Muskeln, mit kleinen Augen, die unter der tiefen Stirn schier verschwanden. Beide Männer dürften wohl so Mitte dreißig sein.
„Brüder?“, fragte Nell.
„Sieht so aus. Und das müssen die Mädchen sein, die hier arbeiten.“ Will zeigte auf das gute Dutzend Fotografien, die unter den Bildern der Boxer hingen. Es waren Ganzkörperporträts junger, aufreizend gekleideter Frauen – manche trugen gar nur ihre Unterkleider –, die sich in verführerischen Posen hatten ablichten lassen. Beschriftet waren sie jeweils nur mit den Vornamen der Mädchen: Flora, Ivy, May, Pru, Fanny, Elsie, Mary …
„Glaubst du, das könnte Mary Molloy sein?“, fragte Nell und zeigte auf das Bild.
„Zumindest ist sie die einzige Mary.“
„Mir war nicht klar, dass sie hier arbeitet.“
„Mir schon.“
Das Mädchen auf der Fotografie wirkte noch jung, sehr jung sogar. Verstärkt wurde dieser Eindruck noch durch ihre zierliche Statur und die kindliche Kleidung. In auffallendem Gegensatz zu den anderen Mädchen trug sie ein artiges Kleid mit weißem Kragen, das ihr bis an die Waden reichte und den Blick auf ein Paar zierliche schwarze Stiefel, weiße Strümpfe und den berüschten Saum ihres Unterrocks freigab. Ihre Oberweite war bescheiden, doch ihr Gesicht das eines Engels, mit großen hellen Augen, einer kleinen Stupsnase und sinnlich geschwungenen Lippen. Ihr Haar, von dem Nell aufgrund ihrer Sommersprossen annahm, dass es wohl rot sein dürfte, fiel ihr in üppigen Locken über die Schultern.
„Eigentlich sieht sie nicht so aus, als wäre sie bereits alt genug, um mit einem Mann zusammenzuleben“, bemerkte Nell, „ganz zu schweigen von … Nun ja, gewiss gehe ich recht in der Annahme, dass diese Frauen allesamt Prostituierte sind.“
„Manche Männer haben eine Vorliebe für junge Mädchen“, sagte Will. „Oft sind diese Männer selbst recht unreif, und es gefällt ihnen, Macht über jemanden zu haben, der noch schwächer ist, als sie es sind.“
„Ich finde es verwunderlich, dass Johnny Cassidy es geduldet hat, dass sie sich an andere Männer verkauft.“
„Gut möglich, dass es sogar seine Idee war“, sagte Will. „Leicht verdientes Geld.“
„Für ihn, ja.“
Will ließ ihr den Vortritt, als sie zur Tür gingen. Dort hielt ein muskulöser, rotblonder Mann, der eine Tweedweste, aber keine Jacke trug, sie mit erhobener Hand zurück. Um sein Auge war schwach ein Bluterguss zu erkennen, an der Stirn hatte er eine Prellung, die noch jüngeren Datums sein dürfte. Nell erkannte ihn an den tief liegenden kleinen Augen und den verwegenen Wangenknochen sofort wieder.
„Für Sie ’nen Quarter“, sagte er zu Will und verriet seine irische Herkunft nur durch einen schwach herauszuhörenden Akzent. „Die Dame kommt umsonst rein.“
„Sie sind doch Finn Cassidy, oder?“, fragte ihn Will in einer ganz passablen Version des von der Bostoner Arbeiterklasse gepflegten Tonfalls. Du kannst nicht erwarten, dass sie dich in einer irischen Spelunke mit offenen Armen empfangen, hatte er vorhin in der Droschke zu ihr gesagt, wenn du klingst wie ein englischer Landadeliger. Er kramte in seiner Hosentasche nach den fünfundzwanzig Cent. „Tut mir leid, das mit Ihrem Bruder.“
„Kannten Sie ihn?“, fragte Finn.
„Nein, aber ich …“
„Nein, du bleibst draußen, Boyle“, knurrte Finn, weil sich ein schmuddeliger Koloss von einem Mann mit einer gewaltigen Alkoholfahne an Nell und Will vorbeidrängen wollte. Mit Wendigkeit, die angesichts seiner Körpermasse beachtlich war, stürzte Finn sich auf den Mann und packte ihn bei den Hosenträgern.
„Bin doch noch ganz nüchtern“, nuschelte Boyle und versuchte sich von Finn loszureißen, derweil dieser ihn von der Tür wegzerrte und auf die Gasse hinausstieß. „Und ich hab ihr doch gar nix getan, also nich’ so, dass sie morgen noch was davon merken würde. Ich mach’s auch nicht wieder, versprochen.“
„Heute Abend machst du eh nichts mehr.“ Finn versetzte dem Eindringling einen kräftigen Schubs, sodass der rückwärts gegen einen Laternenpfahl taumelte. Die Menge, die vor dem Haus herumlungerte, brüllte vor Lachen.
„Du kennst die Spielregeln, Boyle“, rief Finn ihm nach. „Wenn ich dich einmal rausgeschmissen habe, bleibst du für den Rest des Abends draußen. Komm morgen wieder, und wenn du den Mädels dann keine Scherereien machst, kannste vielleicht bleiben.“
„Och, Finn, sei ein guter Junge“, bettelte Boyle und kam zur Tür zurückgeschwankt, wobei er sich mit übertriebenem Eifer die Jacke glatt strich. „Lass mich wieder rein, nur noch einmal, und ich schwör dir aufs Grab meiner Mutter …“
Der Rest ging in einem Grunzen unter, als Finn ihn beim Kragen packte und ihm die rechte Faust in die Magengrube hieb, worauf Boyle sich unter Schmerzen krümmte. Das Publikum, ganz angetan von dieser spontanen Vorstellung, johlte und jubelte. Ein weiterer Fausthieb, diesmal an den Kopf, ließ Boyle stöhnend in sich zusammensinken. Mit blutender Nase ging er zu Boden.
Unwillkürlich wollte Nell ihm zu Hilfe eilen und Finn von weiteren Schlägen abhalten, der nun mit bestiefeltem Fuß auf Boyles Leibesmitte zielte, doch Will hielt sie zurück. Er zog sie ein wenig beiseite. „Keine gute Idee“, sagte er leise, aber sie spürte seine Anspannung und wusste, dass er selbst bereit wäre, wenn nötig einzuschreiten.
Der Tritt traf mit dumpfem Schlag in Boyles Magen, gefolgt von einem schmerzerfüllten Schrei.
„Von dir will ich nichts mehr hören, verstanden?“ Finn wandte sich zum Gehen.
„Oooh … Himmel Herrgo-hooottt, oooh …“, jammerte Boyle und hielt sich keuchend den Bauch.
Sogleich drehte Finn sich auf dem Absatz um und verpasste ihm noch einen krachenden Tritt in die Rippen, setzte seinen Fuß dann auf Boyles Hals, bis der japsend nach Luft schnappte und wild um sich schlug. Seelenruhig beugte Finn sich über ihn. „Was hab ich dir gesagt? Nix hören will ich von dir. Also halt endlich dein Maul, kapiert?“
Ein gurgelnder Laut entrang sich Boyles Kehle, als er mit hervortretenden Augen zu seinem Peiniger hinaufstarrte.
„Kapiert?“, wiederholte Finn und drückte mit seinem Fuß fester zu.
Boyle nickte heftig.
Finn ließ ihn noch einen Augenblick zappeln und betrachtete sein Opfer mit unverhohlener Verachtung, bevor er sich abwandte. „Schafft ihn mir aus den Augen“, sagte er zu niemand bestimmtem, doch sogleich eilten einige Männer herbei und taten wie geheißen. Finn trat derweil wieder vor Will und streckte seine breite, narbige Handfläche aus. „Ein Quarter.“
Will bezahlte, stopfte seine Kappe in die Jackentasche und führte Nell in den Saloon. „So, so“, meinte er. „Finn boxt also nicht nur, sondern macht sich auch als Rausschmeißer nützlich. Keine leichte Aufgabe in diesem Laden.“
„Das gibt ihm aber noch lange nicht das Recht, jemanden derart brutal zusammenzuschlagen.“
„So was gehört hier dazu“, sagte Will, „worüber der gute Mr. Boyle sich wohl im Klaren gewesen sein dürfte, bevor er sich so sehr danebenbenommen hat, dass man ihn sogar aus dem Nabby’s geschmissen hat. Aber glaubst du vielleicht, dass Finn Cassidy uns hier noch reingelassen hätte, wenn du ihn davon abgehalten hättest, seiner Pflicht nachzukommen?“
„Ich weiß, bloß …“ Nell schauderte, als sie sich an das grässliche Geräusch der brechenden Rippen erinnerte. Sie war wirklich nichts mehr gewohnt. Als sie noch selbst zu dieser Welt gehört hatte – auf Cape Cod zwar, doch der Unterschied war gering –, hatte sie ein weitaus dickeres Fell gehabt. Einerseits fand sie es beschämend, dass sie nun nicht mehr ertragen konnte, was sie früher recht einfach verkraftet hatte. Andererseits war ihre neue Empfindsamkeit unabdingbarer Bestandteil dessen, was sie in den Augen der Bostoner Elite zu einer Dame machte. Mittlerweile wurde sie von der guten Gesellschaft als ebenbürtig akzeptiert – nun ja, zumindest fast. Das war auf jeden Fall mehr, als sie jemals zuvor in ihrem Leben erreicht hatte.
Will legte ihr seinen Arm um die Taille und flüsterte ihr zu: „Wir dürfen unser Ziel nicht aus den Augen verlieren, Cornelia. Wir sind hier, um etwas über das Verbrechen in Erfahrung zu bringen. Wir sind wegen Colin Cook hier, weil wir nicht wollen, dass er an den Galgen kommt. Alles andere ist zweitrangig.“
Sie nickte tapfer, holte tief Luft, um sich zu beruhigen, und sah sich um.
Nabby’s Inferno befand sich in einem Gebäude, dessen Wände – zumindest im Erdgeschoss – größtenteils entfernt worden waren, sodass ein einziger großer Raum entstanden war, der sich auf verschiedene Ebenen erstreckte. Gleich am Eingang war eine lange Bar, an der sich Bier- und Whiskeyfässer stapelten. Sie lieferten den Nachschub für die Gäste, die an einem Sammelsurium kleiner Tische davor saßen – oder bereits betrunken auf dem Tisch zusammengesackt waren. Ein Kaleidoskop rauchverhangener Spiegel, Fotografien, Aktgemälde, derber Stiche und längst vergilbter Zeitungsausschnitte schmückte die Wände. Über allem hing ein dichter Dunst aus saurem Schweiß, ausgedünstetem Alkohol und billigem Tabak, der Nell bei jedem Atemzug Übelkeit verursachte.
Im hinteren Teil des Etablissements fanden sich ein Tanzboden und eine Bühne, auf der ein Mann mit pechschwarzem Haar und einem zerschlissenen Frack an ein Klavier gelehnt stand, mit schmachtender Stimme „The Man On The Flying Trapeze“ zum Besten gab und sich nebenbei immer wieder einen Schluck Whiskey genehmigte. Ein paar Matrosen tanzten mit einigen der Mädchen, die Nell auf den Fotografien im Fenster angepriesen gesehen hatte, derweil andere Gäste – eine bunte Mischung aus allen Schichten der Bostoner Gesellschaft –, müßig umherschlenderten, der Musik lauschten oder angeregt miteinander plauderten. Am Rand der Bühne saßen drei Frauen, grell geschminkte Cancan-Tänzerinnen mit gerüschten Röcken, teilten sich eine Zigarette und ließen die schwarzbestrumpften Beine baumeln.
Will wandte sich an ein strohblondes Mädchen, das mit zwei Krügen Bier vorbeilief, und fragte sie, an wen sie sich wenden könnten, wenn sie ein Zimmer mieten wollten. „Da kümmert Riley sich drum“, sagte sie und nickte zu dem Barkeeper hinüber, einem stämmigen Mann mit wallendem grauem Bart.
„Wir sind hier kein Logierhaus“, beschied Riley ihnen indes und wischte dabei ein Glas mit einem schmuddeligen Lappen aus. Dann stellte er es zu den „sauberen“ Gläsern und fügte hinzu: „Wie komm’n Sie denn drauf, dass wir Zimmer vermieten?“
„Also, ich habe mir sagen lassen, dass hier gerade eine Kellerwohnung frei geworden wäre“, sagte Will. „Der Typ, der da vorher gewohnt hat, soll den Löffel abgegeben haben, heißt es.“
„So, so. Und Sie wollen da nur wohnen, oder haben Sie noch was anderes im Sinn?“
„Wenn wir da nur wohnen wollten“, erwiderte Will mit einem spöttischen Lächeln, „könnten wir es woanders wahrscheinlich ruhiger haben als hier.“
Riley musterte Nell auf eine Weise, die sie wünschen ließ, sie hätte ihren Schal niemals abgelegt – zumal, als sein Blick dann auf ihrem Dekolleté verharrte. Als er sich endlich von ihr abwandte und „Flora!“ zu einem dicken Barmädchen hinüberbrüllte, warf Nell Will einen vielsagenden Blick zu.
Doch er lächelte nur und zuckte gleichmütig die Achseln. Sie legte sich den Schal wieder um die Schultern. Er zog ihn ihr wieder herab. „Nur nicht aus der Rolle fallen, Cornelia …“
„Ich muss mal eben mit Mutter sprechen“, sagte Riley zu dem Mädchen. „Pass du hier solange auf den Fusel auf – und wehe, du vergreifst dich dran.“
„Aber beeil dich“, meinte sie, als sie aufreizend langsam herbeigeschlendert kam. „War bislang kein guter Abend für mich, und meine Miete ist überfällig. Ich muss wieder an die Arbeit.“
Nell und Will dicht auf den Fersen, durchquerte der Barkeeper überraschend flotten Schrittes den Saloon und blieb schließlich vor einem Zimmer im hinteren Teil des Hauses stehen – wahrscheinlich der einzige Raum, dessen Wände nicht beseitigt worden waren. „Warten Sie hier“, wies er sie an und trat durch die offene Tür.
Das Zimmer war groß, schummrig beleuchtet und von dicht waberndem Zigarrenrauch erfüllt. An drei runden, mit Wachstuch bedeckten Tischen saßen Männer – manche mit einem Mädchen auf dem Schoß – und spielten Karten. Ansonsten befand sich nur noch ein wuchtiger Schreibtisch im Zimmer, gleich gegenüber der Tür, und dahinter saß in einem breiten, samtgepolsterten Ohrensessel die dickste Frau, die Nell je in ihrem Leben gesehen hatte.
Ihr Körper war wie ein kolossaler Teigkloß, der aus einem ärmellosen Leinenkleid hervorquoll, das verdächtig nach Unterhemd aussah. Als Zugeständnis an Anstand und Sittsamkeit trug sie darüber ein blau gestreiftes Schürzenkleid, das ihre Körperfülle indes nur noch mehr betonte und sie zugleich wie ein monströses, aus allen Nähten platzendes Kind aussehen ließ. Ihr Rock reichte bis knapp über die Knöchel und gab den Blick frei auf die weit auseinanderstehenden Füße, die in ungeschnürten, unförmigen Männerschuhen steckten, über deren Rand schwabbelig weißes Fleisch quoll. Jung war sie zwar nicht mehr – ihr offenes Haar, braun und strähnig, war schon von etlichen grauen Strähnen durchzogen –, doch auch keineswegs alt genug, um Rileys Mutter zu sein.
„Mutter Nabby“, sagte Riley und nickte zum Gruß, als er an ihren Sessel trat. Er beugte sich zu ihr hinab, doch sprach er zu leise, als dass Nell seine Worte über den lärmenden Applaus, der nun von der Tanzfläche zu ihnen herüberdrang, hätte verstehen können. Eben kündigte der Schnulzensänger an, dass er als Nächstes „Molly! Do You Love Me?“ zum Besten geben würde, woraufhin einzelne Rufe ertönten, die nach „Beautiful Dreamer“ verlangten. „Nun, da beugen wir uns natürlich ganz den Wünschen des werten Publikums“, meinte er charmant und begann stattdessen dieses Lied zu singen, nachdem der Pianist die ersten Takte angeschlagen hatte.
Riley sah zu ihnen hinüber, ebenso Mutter Nabby. Ihre winzigen Augen, wie zwei Rosinen, die man in die teigig glänzende Masse ihres Gesichts gedrückt hatte, waren mit nüchtern prüfendem Blick auf sie gerichtet. Sie hob eine Tonpfeife an die Lippen, paffte nachdenklich und blies eine Rauchwolke aus. Mit einem Schlüssel, den sie an einer Schnur um den Hals trug, schloss sie eine der Schreibtischschubladen auf, wobei ihre massigen Arme bei jeder noch so kleinen Bewegung wie Gallert schwabbelten, und holte einen Schlüsselring in Form eines Ankers heraus, an dem zwei große alte Eisenschlüssel hingen. Als sie Riley den Bund gab, sagte sie etwas zu ihm.
„Denny!“, brüllte Riley daraufhin.
Ein Junge, der Nell zuvor gar nicht aufgefallen war, sprang in einer Ecke des Zimmers vom Boden auf. In der Hand hielt er ein Buch. Ein schlaksiger Halbwüchsiger, vielleicht vierzehn, mit zu langem, zerzaustem Haar und schäbigen Kleidern. Eigentlich ein gut aussehender Bursche, obwohl er nur Haut und Knochen war und eine verunstaltete Nase hatte, die wahrscheinlich von einem schlecht verheilten Bruch herrühren dürfte.
„Bring die beiden nach unten und zeig ihnen die Wohnung“, rief Riley und warf den Schlüsselbund quer durch das Zimmer zu Denny hinüber.
Der Junge reckte sich vor, um ihn aufzufangen, griff jedoch knapp daneben und verzog kurz vor Schmerz das Gesicht, als die Schlüssel hart an seine Fingerknöchel schlugen und dann scheppernd zu Boden fielen. Als er sich bückte, um sie aufzuheben, sah Nell, dass Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand krumm verwachsen, die Gelenke geschwollen waren.
„Die von Mary und Johnny?“, fragte Denny und steckte sich das Buch hinten in den Hosenbund. „Warum?“
„Hör auf, so viele Fragen zu stellen, und verdien dir endlich deinen Unterhalt“, beschied Mutter Nabby mit rauchiger Stimme, derweil sie die Schublade wieder abschloss.
„Wenn er eh runtergeht“, meinte Riley zu Mutter, „könnte er mir auch gleich noch was vom Jameson’s mitbringen.“
Sie bedachte Riley mit einem verächtlichen Blick, weil sie seinetwegen schon wieder die Schublade aufschließen musste, bevor sie einen schimmernden Messingschlüssel hervorholte, der an ein rotes Band gebunden war, und ihn Riley gab. „Noch was?“, fragte sie grimmig.
„Nein, Ma’am. Entschuldigen Sie die Störung“, sagte Riley beflissen zu ihr und reichte Denny den Schlüssel. „Da. Bring mir aus dem Kohlenkeller einen Krug Jameson’s hoch. Und vergiss nicht, hinter dir abzuschließen, und komm gleich wieder rauf. Wehe, du machst es dir da unten wieder mit deinem Buch gemütlich. Hast du mich verstanden, Junge?“
„Meinen Unterhalt verdienen?“, murrte Denny, als er Nell und Will zurück durch den Saloon zur Kellertreppe brachte. „Mach ich doch. Immer, wenn was ist, laufe ich los. Als ob mir jemals jemand was gegeben hätte, was ich mir nicht verdient hätte. Niemand. Noch nie.“
„Halt, du kleiner Scheißer! Wo willst du mit den Schlüsseln hin?“ Das war Finn Cassidy, der mit sichtlich erboster Miene auf sie zukam.