8. KAPITEL

Denny wich zurück und stammelte: „R…Riley will, dass ich ihm J…Jameson’s aus dem Keller …“

„Den mein ich nicht“, sagte Finn ungehalten und zeigte auf den ankerförmigen Schlüsselbund. „Hier, die. Was hast du damit vor?“

„Ich … ähm, ich soll den beiden da die Wohnung von Mary und Johnny zeigen.“

„Wir würden sie gern mieten“, erklärte Will.

„Den Teufel werden Sie“, schnaubte Finn. „Mein Bruder ist noch nicht mal kalt. Sein ganzer Kram ist noch da unten, ich hab’s noch nicht rausgeräumt. Los, gib her“, befahl er und streckte die Hand nach dem Schlüsselbund aus.

„Mutter sagt, ich soll sie ihnen zeigen“, beharrte Denny mit bebender Stimme und versteckte die Schlüssel hinter dem Rücken. „Wenn ich nicht tu, was sie sagt, schmeißt sie mich wieder raus auf die Straße, das weißt du ganz genau.“

Finn ballte die Fäuste und zischte: „Und wenn du nicht tust, was ich sage, breche ich dir noch ein paar Knochen – aber diesmal so richtig, Arme und Beine. Willst du ein Krüppel werden oder mir endlich die Schlüssel geben?“

Nun trat Will vor den bulligen Finn, der sich bedrohlich vor dem völlig verängstigten Denny aufgebaut hatte. „Der Junge tut nur, was seine Chefin ihm gesagt hat. Und Sie ist doch auch Ihre Chefin, oder?“

„Sie halten sich da raus“, sagte Finn und bohrte Will seinen Finger in die Brust. „Das hier geht Sie gar nichts an.“

„Wissen Sie was“, meinte Will und drückte Finn eine Münze in die Hand. „Warum klären Sie die Sache nicht mit Mutter Nabby persönlich, während wir uns kurz das Zimmer anschauen. Vielleicht wollen wir es ja gar nicht.“

Finn betrachtete die Münze – einen goldenen Half Eagle – mit grimmiger Genugtuung, bevor er sie in seiner Hosentasche verschwinden ließ. „Ich weiß ganz genau, was da unten alles ist“, sagte er zu Denny. „Wenn du irgendwas mitgehen lässt, wenn du irgendwas auch nur anfasst, kriegst du meine Fäuste zu spüren. Gilt übrigens auch für Sie“, teilte er Will mit. Damit drehte er sich um und verschwand in Richtung Hinterzimmer, um mit Mutter Nabby zu sprechen.

Denny stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. „Danke, Mister. Finn ist so …“ Er schüttelte nur den Kopf.

„Ein richtig mieser Knochen“, schlug Nell vor.

„Der Teufel in Person“, sagte der Junge düster, als er Finn im Hinterzimmer verschwinden sah. „Der mieseste Typ, den ich kenne.“

„Er war es wohl, der dir deine Nase und die Finger gebrochen hat, was?“, fragte Will.

Denny zuckte nur die Schultern und blickte zu Boden.

„Warum?“, wollte Will wissen.

Kurz sah Denny auf, schaute von Will zu Nell und dann wieder auf seine Füße. „Ich denk mal, dass er sauer war“, meinte er achselzuckend und fügte hinzu, bevor Will ihm noch mehr Fragen stellen konnte: „So. Das hier ist die Treppe, wo’s zum Keller runtergeht. Ich geh vor. Und Sie passen gut auf, wo Sie hintreten, Miss. Ein paar von den Stufen sind lose, und da unten isses so finster wie in der Hölle.“

Während sie vorsichtig die Treppe hinabstiegen, drang ihnen von unten ein eigenartig süßlicher Geruch in die Nase – ein bisschen wie Melasse, die unten am Topf angebrannt ist, doch mit einem verräterisch berauschenden Aroma. Nell und Will wechselten kurz einen bedeutungsvollen Blick, als sie am Fuße der Treppe angelangt waren.

„Wo ist denn die Opiumhöhle?“, fragte Will und schaute sich angelegentlich im Keller um, einem kalten, äußerst spärlich beleuchteten Gewölbe mit Wänden aus unverputztem Mauerwerk und einer Decke, die so niedrig war, dass er sich ducken musste, um nicht an die frei liegenden Holzbalken zu stoßen.

Der Junge deutete auf eine finstere Nische, in der sich ein schmaler Durchgang befand. Hinter einem Glasperlenvorhang flackerten einige Ölfunzeln in der Dunkelheit. „Da drin – ’nen Quarter pro Pfeife. Es ist meine Aufgabe, zu gucken, ob alles in Ordnung ist da drin und Nachschub zu holen, wenn die noch was wollen. Mutter hat das Zeug oben in ihrem Schreibtisch eingeschlossen.“

„Und wofür sind die?“, fragte Nell und zeigte auf vier kleine Alkoven, die mit Vorhängen abgetrennt waren. Hinter einem drang gedämpft eine Frauenstimme hervor.

„Das sind … ähm, ja …“ Dennys Blick schweifte sichtlich verlegen von Nell zu Will, dessen amüsiertes Lächeln ihr bewusst werden ließ, wie naiv ihre Frage gewesen war. Sie wünschte sich, sie gar nicht erst gestellt zu haben. Selbst in der unterirdischen Finsternis konnte sie sehen, wie Denny die Schamesröte in die Wangen kroch. „Wir nennen sie hier unsere Tanzkabinen, weil sie für Kunden sind, wenn sie mit einem der Mädchen allein sein wollen, um … ein privates Tänzchen zu machen.“

„Ja, natürlich“, beeilte Nell sich zu sagen. Mittlerweile glühten auch ihre Wangen, zumal sie wusste, wie sehr ihre Verlegenheit Will belustigte. Nur ihm gelang es stets, sie derart erröten zu lassen.

„Oben im ersten Stock sind noch mehr so Kabinen“, erklärte ihnen Denny. „Und auch ein paar richtige Zimmer – extra für die Schnösel, die’s ein bisschen schicker haben wollen. Kosten natürlich auch mehr.“

„Mutter Nabby sieht schon zu, dass der Laden sich auszahlt“, bemerkte Will.

„Ja, wenn man sie so sieht, würd’ man nie drauf kommen“, meinte Denny, „aber sie ist echt die reichste Frau im ganzen North End. Sie hat nämlich nicht nur den Laden hier, sondern ihre Finger in so einigen Sachen drin, in der ganzen Gegend. Und sie ist viel klüger, als man denkt. Nicht grad die Netteste, aber vom Geldmachen versteht sie was.“ Er schnappte sich eine der Öllaternen, die vereinzelt an Haken von den Deckenbalken herabhingen. „Zu Marys und Johnnys Wohnung geht’s hier lang, durch den Kohlenkeller.“

Durch ein wahres Labyrinth enger modriger Gänge führte Denny sie in den hinteren Teil des Hauses zu zwei nebeneinanderliegenden Türen, von denen grüne Farbe blätterte. Die linke Tür hatte ein dunkel beschlagenes Riegelschloss, an der rechten hing ein nagelneu funkelndes Vorhängeschloss. Denny steckte einen der beiden Schlüssel in das linke Schloss, machte die Tür auf und bedeutete Nell und Will einzutreten. Moderiger Grabesgeruch empfing sie – so muffig und durchdringend, dass er sogar noch den süßlichen Geruch des Opiums überdeckte.

„Gibt es nur das eine Zimmer?“, fragte Nell und sah sich um.

„Ja, tut mir leid. Mehr ist es nicht.“ Denny stellte die Laterne auf einem Tisch ab, auf dem ein von Flecken nur so strotzendes kariertes Tischtuch lag, und zündete eine Kerze an. Auf dem Tisch fanden sich noch die Karten einer angefangenen Partie Solitaire, daneben stand eine Tasse mit einem dunklen Bodensatz, wo der Tee eingetrocknet war. Ein Holzstuhl lag umgeworfen auf dem Steinboden, daneben ein eilig beiseitegeschobener Flickenteppich.

Neben einem alten Kleiderschrank, dessen Türen von der Feuchtigkeit so stark verzogen waren, dass sie kaum noch schlossen, stand an der hinteren Wand ein Bett. Allem Anschein nach war es sauber und ordentlich gemacht worden, doch die zerwühlte Tagesdecke darauf ließ vermuten, dass jemand – oder wohl eher ein Paar – es benutzt hatte, ohne sich die Mühe zu machen, es aufzudecken.

Die Wände waren von zahlreichen Rissen durchzogen, von bräunlichen Stockflecken und Schimmel verunstaltet. An vielen Stellen war der Putz abgebröckelt, und an den Außenwänden war das bloße Mauerwerk sichtbar, an den Innenwänden verrottete Holzsparren. Über einer alten Schiffstruhe war ein dunkler Fleck an der rechten Wand – ein großer rotbrauner Klecks, umgeben von kleinen, teils winzigen Spritzern. Auch auf der Truhe war Blut. Johnny Cassidy musste nach dem Schuss zunächst daraufgefallen sein, bevor er zu Boden gestürzt war. Auf den rauen Steinen konnte man nur zu deutlich die große eingetrocknete Blutlache erkennen.

„Hier müsste mal gründlich geputzt werden“, meinte Nell.

„Ähm, ja … der Typ, der vorher hier gewohnt hat“, sagte Denny, „dem haben sie hier vor ein paar Tagen in den Kopf geschossen. War gleich tot.“

„Davon haben wir gehört“, sagte Will. „Johnny Cassidy, nicht wahr?“

„Ja, er und Mary Molloy haben hier gewohnt.“

„Und wo ist sie abgeblieben?“, fragte Nell.

„Weg.“

„Wie weg?“, fragte Will.

Der Junge zuckte mit den Schultern, schüttelte den Kopf und schien seinen Blick auf alles zu richten, nur nicht auf Will. „Das weiß keiner. Nachdem man Johnny erschossen hatte, ist sie abgehauen.“

„Woher willst du denn wissen, dass sie abgehauen ist?“, fragte Nell. „Immerhin ist hier ein Mord geschehen. Vielleicht ist ihr ja auch was zugestoßen. Man könnte ihr etwas angetan haben oder sie gegen ihren Willen von hier fortgebracht haben.“

„Nee“, meinte Denny und schüttelte entschieden den Kopf, ohne sie allerdings anzusehen. „So war’s nicht. Also, ich meine … ich hoffe, dass es nicht so war.“

„Wenn du weißt, wo sie ist“, sagte Will, „wäre es gut, wenn du uns das sagen würdest. Wir wollen schließlich nicht, dass sie plötzlich hier auftaucht und ihre Wohnung zurückwill, nachdem wir gerade eingezogen sind.“

„Ich wünschte, ich wüsste, wo sie ist“, sagte Denny. „Ich mach’ mir solche Sorgen um sie.“

„Magst du sie?“, fragte Nell ihn.

Der Junge errötete heftig. „Sie ist schon in Ordnung.“

„Ich habe draußen im Fenster ihr Bild gesehen“, meinte Nell. „Sie ist sehr hübsch.“

Denny schluckte so heftig, dass sein Adamsapfel auf und nieder hüpfte. Rasch griff er nach der Laterne. „Tja, ähm … haben Sie genug gesehen?“

„Führt die hier nach draußen?“ Will zeigte auf eine Tür an der hinteren Wand, neben einem kleinen Fenster, das sich knapp unterhalb der Decke befand und vor das ein Vorhang gezogen war.

„Ach, die … ja.“ Mit seiner Laterne ging er zu der Tür hinüber und schloss sie auf. Als er sie aufstieß, quietschten die rostigen Scharniere, und man konnte hinausblicken auf ein paar schmale Steinstufen, die hinauf in den Hinterhof führten. „Wenn Sie wollen, haben Sie hier Ihren separaten Eingang. Sie müssen nicht durch den Saloon gehen, wenn Sie nicht wollen.“

„Und was ist da draußen denn noch so?“, fragte Will, als er die wenigen Stufen hinaufstieg, dicht gefolgt von Denny und Nell. „Stallungen?“

„Nee, hier gibt’s keine Stallungen. Nur ein Klo und den alten Hühnerstall, wo Finn wohnt.“

„Er wohnt im Hühnerstall?“

„Hat ihn sich hergerichtet.“

Im Schein des zunehmenden Mondes konnte Nell sehen, dass der Hof recht klein und von Unkraut überwuchert war. Von der Gasse hinter dem Haus führte ein schmaler Trampelpfad durch den Hof bis zu den Stufen vor der Kellerwohnung. Der Abort war aus Holz gebaut, der Hühnerstall aus Stein mit einer breiten Doppeltür und einer Reihe kleiner Fenster mit geschlossenen Läden. Rechts von der Kellertreppe war ebenerdig das kleine Fenster der Wohnung, die Scheibe schmutzig und gesprungen, links der Treppe befand sich eine Kohlenluke, die mit einer verrosteten Metalltür verschlossen war. Form und Größe ließen Nell vermuten, dass dort früher ebenfalls ein Fenster gewesen war.

Aus dem Saloon drang lauter Applaus nach draußen, und jemand rief: „Holt die Mädels auf die Bühne!“ Andere Männer stimmten begeistert ein, pfiffen und johlten, stampften mit den Füßen auf den Tanzboden.

„Ist diese Tür denn immer verschlossen?“ Nell drehte sich wieder zu Denny um und ertappte ihn dabei, wie er hastig den Blick von ihrem Dekolleté wandte. Sie warf Will einmal mehr einen finsteren Blick zu. Der schien sich indes ein Lächeln verkneifen zu müssen.

„Ähm, ja“, meinte Denny achselzuckend und schaute zu Boden. „Ich meine, denk ich mir mal. Mary und Johnny hatten ja die Schlüssel. Bei dem Gesindel, was sich hier so rumtreibt, werden sie wohl immer abgeschlossen haben. Würd’ ich zumindest machen.“

„Hat Mutter Nabby möglicherweise ein Duplikat der Schlüssel?“, fragte Will und fügte schnell noch erklärend hinzu: „Ich meine, hat sie einen Zweitschlüssel zu der Wohnung?“

„Ja, klar. Sie hat Zweitschlüssel zu allen Türen hier. In ihrem Schreibtisch hat sie Hunderte von Schlüsseln. Und ich weiß selber, was ‚Duplikat‘ bedeutet – ich bin ja nicht blöd. Ich bin nämlich sieben Jahre zur Schule gegangen und habe nicht einen einzigen Tag versäumt.“

Drinnen gingen die ersten Takte des Pianisten im lauten Gegröle unter. Als der Lärm sich etwas gelegt hatte, erkannte Nell die stürmische Melodie des Höllenritts aus Offenbachs Operette „Orpheus in der Unterwelt“.

„Gehst du noch immer zur Schule?“, fragte sie Denny.

„Nee. Meine Mutter und meine Schwester haben die Pocken erwischt und sind gestorben. Da war’s nix mehr mit der Schule, da musste ich für mich selber sorgen. Wenn ich hier für Mutter Nabby Besorgungen und so was mache, hab ich wenigstens was zu essen und ein Dach über dem Kopf. Entweder das oder ab ins Armenhaus, aber ins Armenhaus bekommen mich keine zehn Pferde.“

„Das kann ich gut verstehen“, sagte Nell.

„Ich verdiene mir meinen Unterhalt selbst“, fuhr Denny fort, und in seiner Stimme schwang unverkennbarer Stolz mit. „Ich bin nämlich ein Delaney, und meine Mutter hat immer gesagt, wir Delaneys hatten es noch nie nötig, auch nur einen einzigen Cent von der Fürsorge anzunehmen, und werden es auch niemals tun.“

„Fehlt dir die Schule denn?“, fragte Nell weiter, denn sie hatte das Buch nicht vergessen, in das er vorhin ganz versunken gewesen war.

„Ach, das war schon in Ordnung.“ Er sah beiseite und schob unmerklich sein Kinn vor. „Doch, eigentlich hat es mir da ganz gut gefallen. Ich meine, Lesen und Schreiben hat mir gefallen, und dass man was über andere Länder lernt, aber diese … eingebildeten Lehrerinnen konnte ich nicht leiden. Die haben uns Iren wie den letzten Dreck behandelt. Morgens mussten wir protestantische Gebete aufsagen, und bekreuzigen durften wir uns natürlich auch nicht, sonst setzte es was mit dem Rohrstock. Sie sagten uns, wir wären dumm und unwissend und müssten endlich lernen, wie man richtig betet, aber als ich dann Pater Gorman gefragt habe, meinte er nur, unsere Art zu beten wäre schon die richtige, und die von denen wäre falsch.“

„Alles ziemlich verwirrend, kann ich mir vorstellen“, meinte Nell.

„Für mich nicht. Ich bin katholisch, meine Eltern waren’s auch und deren Eltern und immer so weiter. Die Delaneys waren vor Hunderten von Jahren schon katholisch, warum sollte ich da auf einmal was anderes werden wollen? Meinetwegen können die mich in der Schule beten lassen, was sie wollen, aber hier drin“, stolz schlug er sich mit einer ziemlich schmutzig aussehenden Hand auf die Brust, „wird sich deswegen noch lang nichts ändern.“

„Schön für dich“, sagte Nell und verspürte einen leichten Anflug von Neid, dass dieser Junge einen so unerschütterlichen Glauben hatte. Einst hatte sie ebenso unverbrüchlich zu ihrer Religion gestanden wie er, war sich ebenso gewiss gewesen, dass ihre Kirche ihr den richtigen Weg wies. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass sich daran mal etwas ändern könnte, und doch … nun liebäugelte sie nicht nur mit dem Protestantismus, sondern erwog sogar die Scheidung.

Sie gingen wieder hinein und sahen sich noch ein wenig in der Wohnung um, allerdings vergebens, denn es wollte sich kein Hinweis darauf finden, was hier am Dienstagabend tatsächlich geschehen war. Durch die Decke waren die rhythmisch auf den Dielen klackernden Schritte der Cancan-Tänzerinnen zu hören, die sich über ihnen auf der Bühne drehten und wendeten und die Beine in die Luft warfen.

„Äh, also … ich weiß nicht, ob Sie das nicht besser lassen sollten“, sagte Denny, als Nell die Tür des Kleiderschranks aufzog.

„Ich wollte nur mal sehen, wie viel Platz ich da drin für meine Sachen habe“, meinte sie mit Unschuldsmiene. „Die Wohnung wird doch möbliert vermietet, oder?“

„Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass Finn mich vermöbelt, wenn er merkt, dass Sie hier an Marys und Johnnys Sachen rumgefingert haben. Tut mir ja wirklich leid, aber …“

„Ach, so wichtig ist das auch nicht“, beschwichtigte ihn Will, warf Nell einen warnenden Blick zu und wandte sich zur Tür, als wolle er gehen. „Ich denke, wir haben genug gesehen, also könnten wir doch eigentlich auch wieder …“ Dann drehte er sich unvermittelt zu Denny um, als sei ihm noch etwas eingefallen. „Sag mal, solltest du dem Barkeeper nicht noch irgendwas holen? Einen Krug Jameson’s, nicht wahr?“

„Ach herrje! Danke, hätte ich fast vergessen. Riley macht mich zur Schnecke, wenn ich ohne den Jameson’s hochkomme.“ Er kramte den Schlüssel mit dem roten Band aus seiner Hosentasche. „Das ist nebenan im Kohlenkeller. Bin gleich wieder da.“

Nachdem er mitsamt der Laterne verschwunden war, wurde das Zimmer nur noch vom schwachen Schein der Kerze erhellt, die recht verloren auf dem Tisch stand. Will machte sich dennoch sogleich an die Arbeit, trat an die Schiffstruhe, klappte den Deckel hoch und wühlte darin herum. Nell öffnete den Kleiderschrank und sah die spärliche, oft ausgebesserte Garderobe durch, die darin hing: drei Männerhemden, zwei Hosen, eine Leinenjacke, Weste, Hosenträger, zwei Paar gestopfte Strümpfe, zwei Hemdkragen, eine gestreifte Krawatte, Schnürstiefel aus weichem Leder, ein breiter Gürtel aus Baumwolltuch mit Lederschnalle und eine enge Hose aus dünnem grauen Trikotstoff. Trikothose, Stiefel und Gürtel erkannte sie sofort wieder – Johnny Cassidy hatte sie auf der Fotografie getragen, die draußen im Fenster hing.

„Hast du auch so neckische Sachen getragen, als du in Oxford im Boxclub warst?“, fragte sie Will.

Er schaute von der Truhe auf und meinte: „Ja, doch. Eigentlich ganz bequem, bis auf den Gürtel. Hier ist nichts Interessantes drin, nur ein paar mottenzerfressene Decken und lauter Krimskrams.“

„An diesem Schrank ist durchaus etwas interessant“, sagte Nell. „Die Kleider gehören alle Johnny Cassidy. Nicht ein einziges Kleidungsstück von einer Frau. Keine Hüte, kein Schmuck, keine Schuhe, keine Strümpfe, keine Unterwäsche – nichts.“

„Woraus sich schließen ließe“, sagte Will und klappte die Truhe wieder zu, „dass sie ihre Sachen gepackt hat, bevor sie verschwunden ist.“

„Was wiederum darauf schließen ließe, dass sie aus freien Stücken gegangen ist.“

„Das lässt doch hoffen.“ Er sah sich in dem Zimmer um und murmelte: „Ein verdammt elendes Loch ist das hier. Entschuldige.“

Nell nickte und schloss die Schranktüren, soweit sie sich schließen ließen. „Als würde man in einer Höhle leben. Im Winter muss es noch schlimmer sein. Ich kann mir kaum vorstellen …“ Sie verstummte jäh und spähte quer durch das Zimmer zu der Wand, die es vom Kohlenkeller trennte. Hoch oben schimmerte ein schwacher Lichtschein.

„Was ist?“, fragte Will, als Nell sich die Sache genauer ansehen ging.

„Da oben ist ein Loch.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und tastete mit der Hand nach der kleinen Öffnung, die kaum größer war als ein Männerdaumen breit. Inmitten der schwarzen Schimmelflecken nahe der Decke fiel es überhaupt nicht weiter auf – hätte Denny nicht die Laterne mit hinüber in den Kohlenkeller genommen, würde Nell es wohl gar nicht bemerkt haben.

Will trat hinter sie und meinte: „Eigentlich nicht überraschend, dass in diesen Wänden ein Loch ist. Holz und Mauerwerk dürften durch und durch verrottet sein.“

„Das sieht mir aber nicht so aus, als wäre da zufällig ein Stück aus der Wand gebrochen“, wandte sie ein und trat einen Schritt zurück, damit er sehen konnte, was sie meinte. „Der Putz drum herum sieht ja eigentlich noch ganz gut aus, und schau dir mal an, wie es geformt ist – fast ein perfekter Kreis, mit ganz sauberen Rändern. So was fällt nicht einfach aus der Wand.“

„Mmmh, ja. Sieht aus, als hätte jemand das absichtlich gebohrt“, fand nun auch Will.

„Meinst du, es könnte ein … ein Guckloch sein?“

„Dann sehen wir es uns am besten mal von der anderen Seite aus an.“