9. KAPITEL
Im Kohlenkeller, der ungefähr halb so groß war wie die angrenzende Wohnung, bröckelte ebenfalls hier und da der Putz von den Wänden, soweit man das unter dem Kohlenstaub vieler Jahre erkennen konnte. In der hinteren linken Ecke, direkt unter der Luke, war aus unbehandeltem Holz eine einfache Kohlenkiste gezimmert worden. In diesem an drei Seiten geschlossenen und nach vorne hin offenen Behältnis lagerte noch ein kleiner Haufen Kohlen, die wahrscheinlich vom letzten Winter übrig geblieben waren und im flackernden Schein von Dennys Laterne dunkel glitzerten.
An der Wand lehnten eine Kohlenschaufel und ein Besen, dem gut die Hälfte seiner Borsten fehlte, und auf dem Boden lag allerlei von fettig schwarzem Staub überzogener Unrat: geborstene Holzreste und Tonscherben, eine Fadenrolle, einige zusammengeknüllte Taschentücher, ein nicht mehr näher zu bestimmendes Stück spitzenbesetzter Damenunterwäsche, alte Zeitungen und Magazine, ein zerrissener Jutesack sowie eine leere Flasche von McMunn’s Elixier. Außerdem meinte Nell etwas erkennen zu können, das wie eine längliche Röhre aus Gummi aussah, und von dem sie vermutete, dass es wohl ein Pariser sein würde, wenngleich sie noch nie einen gesehen hatte. Fasziniert und angewidert zugleich versuchte sie, nicht allzu offensichtlich daraufzustarren, damit Will sie nicht später wieder damit aufziehen würde, war ihm doch fast alles recht, sie zum Erröten zu bringen.
An der Wand auf der rechten Seite waren etliche Holzkisten, Fässer und Säcke gestapelt, die Denny gerade im Licht seiner hoch erhobenen Laterne durchsah.
„Aha!“ Er hievte einen Krug aus Steingut, auf dem JOHN JAMESON DUBLIN WHISKEY gedruckt stand, aus einer mit Sägespänen aufgefüllten Kiste. „Was machen Sie denn da?“, fragte er, als Will auf die niedrigen Trennwände der Kohlenkiste kletterte. Wegen seines versehrten Beines machte er dabei nicht gerade eine anmutige Figur.
Ohne etwas darauf zu erwidern, beugte Will sich vor, stützte sich mit beiden Händen an der Wand ab und spähte durch das Loch, das inmitten des rußschwarzen Kohlenstaubes kaum zu erkennen war.
„Wir haben in der Wand zwischen dem Kohlenkeller und der Wohnung ein Loch entdeckt“, sagte Nell zu dem Jungen.
„Von hier oben kriegt man ja gut was zu sehen“, meinte Will mit seinem Bostoner Akzent. „Das Loch hat einen nach unten geneigten Winkel, weshalb man einen weiten Blick in die Wohnung hat.“
„Wusstest du von diesem Loch?“, wollte Nell von Denny wissen.
Einen Moment schien er sprachlos. „Ähm … nein. Nein, ich …“ Er schüttelte den Kopf.
„Ein Guckloch“, stellte Will fest. „Jemand muss es gebohrt haben, um heimlich in die Wohnung gucken zu können. Denny, gib mir mal eben die Laterne.“
Vorsichtig balancierte Will auf dem Rand der Kohlenkiste, als er Denny die Laterne abnahm und sie näher an die Wand hielt. Um das Loch herum war der Kohlenstaub verschmiert, teilweise ganz abgerieben. Zu beiden Seiten des Gucklochs hatten Dutzende von Händen ihre Spuren hinterlassen, die nun im dürftig erleuchteten Dunkel des Kohlenkellers wie geisterhaft flatternde Flügel aussahen.
„Hast du irgendeine Idee, wer das gemacht haben könnte?“, fragte Nell den Jungen.
„Also, ich war’s nicht.“
„Das habe ich ja auch gar nicht gesagt“, beschwichtigte sie ihn.
„Das war schon da, als ich im Nabby’s angefangen habe“, sagte Denny.
„Ich dachte, du hättest nichts davon gewusst“, meinte Will.
„Ich … Wir sollen da nicht drüber reden. Wir tun einfach alle so, als ob’s nicht da wär. Als ich Johnny mal deswegen gefragt habe, hat er mir eins auf den Kopf gegeben und meinte, das würd’ mich einen feuchten Dreck angehen, und ich sollte gefälligst sofort wieder vergessen, was ich da geseht habe. Gesehen habe.“
Nachdem er Denny die Laterne wiedergegeben hatte, sprang Will von der Kohlenkiste herunter und zog sein Taschentuch hervor, um sich den feinen schwarzen Staub von den Händen zu wischen.
„Ich würde auch gerne mal gucken“, sagte Nell, reichte Will ihren Schal und raffte ihre Röcke zusammen.
„Warte, pass auf“, meinte Will, warf sich ihren Schal über die Schulter und griff nach ihrer Hand, als sie auf die Seitenwände der Kiste stieg. Als Nell sich vorbeugte, um durch das Loch zu spähen, legte er seine Hände schützend um sie, damit sie nicht fiele. So eng hatte sie ihr Mieder geschnürt, dass er ihre Taille fast ganz umfassen konnte.
Weil sie in ihren modischen Stiefelchen mit den zierlich geschwungenen Absätzen noch immer keinen allzu guten Halt auf dem schmalen Rand der Kiste hatte, stützte auch sie sich mit den Händen an der Wand ab – oder vielmehr nur mit den Fingerspitzen, denn sie wollte ihre geborgten Spitzenhandschuhe nicht schmutzig machen. Sie kniff ein Auge zu und spähte durch das Loch in die von flackerndem Kerzenschein spärlich erhellte Wohnung, auf die sie von hier oben einen ganz hervorragenden Blick hatte. Zumindest das Bett war bestens zu sehen. Sie fragte sich, ob das Paar, das es zuletzt so in Unordnung gebracht hatte, heimlich dabei beobachtet worden war, wie es sich dort vergnügte.
Ob es wohl Mary und Johnny gewesen waren, oder Mary mit einem Kunden? Ob Johnny hier gestanden und sie beobachtet hatte, oder zahlten andere Männer dafür, heimlich zugucken zu dürfen? Wusste Mary, dass sie beobachtet wurde, oder hatte Johnny dieses pikante Detail vor ihr geheim gehalten? Nell versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, unwissentlich dabei beobachtet zu werden, wie sie das Bett mit einem Mann teilte. Der Gedanke erfüllte sie um Marys willen mit Zorn und Empörung.
„Ich will lieber gar nicht wissen, warum dieses Loch überhaupt in der Wand ist.“ Nell sah zu Will hinunter, dessen Blick auf ihr Dekolleté gerichtet war, welches sich praktisch direkt auf seiner Augenhöhe befand. Da sie sich zudem vorgebeugt hatte, um durch das Loch spähen zu können, dürfte auch er so einiges zu sehen bekommen haben.
Auf ihre Bemerkung hin schaute er zu ihr auf und dann rasch beiseite. Sein Unbehagen stand ihm ins Gesicht geschrieben, fast schmerzlich berührt war seine Miene. Nells Verlegenheit wich der Belustigung darüber, dass der weltgewandte, unerschrockene William Hewitt sich nicht nur wie ein „gaffender Tölpel“ aufführte, sondern höchst peinlich berührt schien, dabei ertappt worden zu sein.
Eine Hand an die Wand gestützt, hob Nell ihre Röcke ein wenig an, um von der Kiste herunterzusteigen.
„Sei vorsichtig.“ Seine Hände noch immer um ihre Taille gelegt, hob Will sie mit solcher Leichtigkeit hoch, als wäre sie aus Papiermaschee gemacht. Sanft setzte er sie auf dem Boden ab. Fast war ihr, als würden seine Hände sie liebkosen, bevor er sie von ihr nahm.
„Ist diese Tür immer verschlossen?“, fragte Will Denny.
„Jetzt schon. Wenn man hier reinwill, muss man sich den Schlüssel von Mutter holen – sogar Riley kommt nicht anders rein.“
„Jetzt?“, wiederholte Will fragend. „Früher war sie also nicht verschlossen?“
„Ähm, nein. Erst seit einem Jahr oder so. Vorher war nich’ mal ein Schloss dran.“
„Und weshalb hat Mutter Nabby dann beschlossen, sie fortan immer zu verschließen?“, wollte Will wissen. „Ist geklaut worden?“
„Keine Ahnung. Wahrscheinlich. Ähm, sind Sie jetzt fertig hier drin oder …?“
„Ja, doch“, meinte Will. „Ich glaube, wir haben alles gesehen, was es hier zu sehen gibt.“
„Wie furchtbar“, sagte Nell, als Denny die beiden Türen – jene zum Kohlenkeller und die zur Wohnung – wieder abschloss, „dass ein Mann genau hier in diesem Zimmer ermordet worden ist. Warst du eigentlich hier, als das passiert ist?“, fragte sie ihn.
„Ja, klar. Also, ich meine … konnte ja niemand wissen, was da unten los war, oder? Es war Dienstag, und da ist abends immer Boxkampf – dienstags und samstags. Ein Heidenlärm ist das, wenn oben geboxt wird, da merkt keiner was. Alle schreien und johlen rum, das ist dann sogar noch lauter als jetzt mit den Mädels … mit den Cancan-Tänzerinnen.“
„Wer ist denn am Dienstagabend gegeneinander angetreten?“, fragte Will, während sie durch den Keller zurückgingen. Interessant, dachte Nell, diese Frage wäre ihr gar nicht gekommen.
„Zuerst Finn Cassidy gegen Davey Kerr, dann Jimmy Muldoon gegen Phelix McCann. Das war’s – gab nur zwei Kämpfe.“
„Und wann ist der Mord passiert?“, fragte Will.
„Beim zweiten. Während Muldoon gegen McCann gekämpft hat. Die sind gerade mitten in der dritten Runde gewest … gewesen, als Pru raufgerannt gekommen ist und schrie …“
„Pru?“, fragte Nell nach.
„Pru Devine“, sagte Denny und hängte die Laterne wieder an den Haken bei der Treppe. „Ich glaube, dass sie eigentlich Prudence heißt. Also, sie ist raufgerannt gekommen und schrie was von ’nem Mord. ‚Johnny Cassidy ist in den Kopf geschossen worden.‘ Sie meinte, der Typ, der’s gewesen ist, wär noch unten, und dass er eine Knarre hätte. Riley kam sofort angerannt, und die Mädchen und Finn auch. Alle kamen angerannt. Die Runde wurde abgebrochen. Mutter hat Riley die Kellertür zuschließen lassen und mich losgeschickt, damit ich einen von den Bullen hole. Vorne an der Ecke hab ich dann Constable Skinner gefunden und ihn mitgebringt … gebracht, und dann hat er das Kommando übernommen und …“ Denny zuckte mit den Schultern. „Hat ein paar Fragen gestellt, und den Leichnam haben sie weggeschafft. Das war’s eigentlich.“
„Weißt du, wen er befragt hat?“, wollte Nell wissen. Wir haben drei Zeugen, die alle aussagen, dass er es war, hatte Skinner behauptet.
„Ich weiß, dass er mit Pru gesprochen hat, wahrscheinlich, weil sie die Erste war, die was gesehen hat. Sie hatte einen Kunden unten gehabt, der kam dann auch mit rauf, hat sich aber davongeschlichen, bevor Skinner mit ihm reden konnte. Ich denk mal, dass er den Bullen nicht so gern seinen Namen nennen wollte, weil dann jeder erfährt, was er da unten mit Pru getrieben hat.“
„Höchstwahrscheinlich“, meinte Will und lächelte fein.
„Weißt du, ob Constable Skinner versucht hat, diesen Kunden ausfindig zu machen?“, fragte Nell.
„Er meinte, das wär nicht nötig, weil doch klar ist, wer’s war.“
„Warum andere Möglichkeiten in Betracht ziehen“, meinte Will zu Nell, „wenn Cook sich doch als Schuldiger geradezu anbot?“
„Du weißt nicht zufällig, was Pru Constable Skinner erzählt hat?“, fragte Nell Denny.
„Doch, ich hab gehört, wie sie gesagt hat, dass Detective Cook Johnny umgelegt hätte. Das ist dieser Bulle vom State Constabulary, der manchmal hier vorbeikommt. Also, das hat sie gesagt, aber …“
„Aber du glaubst nicht, dass er es war?“, vergewisserte sich Nell.
„Ich weiß, dass er’s nicht war. Er … er würde so was nicht machen. Würde er einfach nicht tun, der nicht. Er ist keiner von diesen Verbrechern, die hier rumhängen. Das Gesetz geht über alles, sagt er immer, nur so könnten anständige Männer die Welt in Zukunft sicherer machen für ihre Frauen und Kinder. Er meint auch, dass es immer ein Verbrechen ist, das Gesetz zu brechen, denn das Gesetz ist wie ein Pakt zwischen guten, anständigen Menschen, und ohne Gesetze gäb’s auch keine Zivilisation.“
„Klingt, als würdest du dich mit Detective Cook ganz gut verstehen“, bemerkte Nell.
„Klar, wenn er hier ist, hängen wir manchmal zusammen rum. Er versucht mir immer beizubringen, ganz vornehm zu reden, weil die Leute einen danach beurteilen, was einem aus dem Mund kommt, sagt er. Wenn man also im Leben was erreichen will, dann muss man erst mal so reden wie die Person, die man werden will. Er sagt immer, man soll daran denken, wo man hin möchte, nicht daran, wo man herkommt.“
„Das stimmt allerdings“, sagte Nell, der selbst das Glück einer solchen Verwandlung vergönnt gewesen war.
„Er bringt mir Zeitungen zum Lesen mit“, sagte Denny, „und seine Ausgaben von Harper’s und Putnam’s und andere Magazine, wenn er mit ihnen durch ist. Und Bücher aus der Bibbel … Bibliothek. Das hier hat er mir auch mitgebringt … gebracht.“ Er zog das Buch heraus, das er sich hinten in den Hosenbund gesteckt hatte, und zeigte es ihnen.
‚Der letzte Mohikaner‘, las Will den Titel. „Tolle Geschichte.“
„Ja, doch … ganz gut“, befand Denny und steckte das Buch wieder weg. „Mary hat es richtig gut gefallen. Ich hab ihr nämlich meine Bücher geliehen, damit sie sie heimlich lesen kann. Johnny mochte das nicht, wenn sie las, weil sie dann wie ein Blaustrumpf aussähe und auf dumme Gedanken kommen könnte, meinte er. Aber ich glaube, es gefiel ihm vor allem deshalb nicht, weil er selbst nicht so gut lesen konnte – zumindest nicht gut genug, um Bücher zu lesen. Mein Lieblingsbuch ist ‚Ivanhoe‘. Nachdem Mary damit durch war, hab ich es gleich noch mal gelesen, oder fast eben. Ich musste es zurückgeben, bevor ich ganz durch war, weil Detective Cook es wieder in die … in die Bücherei bringen musste.“
„Wenn du willst, könnte ich dir ein eigenes Exemplar kaufen“, bot Will ihm an. „Dann kannst du es so oft lesen wie …“
„Nein, nein, kommt nicht infrage. Aber trotzdem danke, Mister. Detective Cook hat genau dasselbe gesagt, aber das ist was ganz anderes, als Bücher aus der Bücherei zu bekommen. Das wär ja wie Almosen. Geld hat er mir auch geben wollen, Detective Cook, aber das hab ich auch nicht genommen.“
„Eigenverantwortung ist eine sehr löbliche Eigenschaft“, meinte Nell, „aber es ist auch sehr schön, wenn man Menschen, die man mag, helfen kann – oder Hilfe von ihnen annehmen kann.“
„Meine Mum hat mir immer gesagt, ich soll keine Almosen annehmen, und nur weil sie jetzt nicht mehr da ist und es nicht mehr sehen kann, werd’ ich jetzt nicht damit anfangen. Das hab ich auch Detective Cook gesagt, und der meinte, dann sollte ich mich mal auf eine Menge harte Arbeit gefasst machen, denn das braucht es, wenn man ohne fremde Hilfe vorankommen will. Aber genauso werd’ ich es machen.“
„Wenn Detective Cook wirklich ein so anständiger Kerl ist, wie du ihn beschreibst, dann kann ich verstehen, warum du nicht glaubst, dass er Johnny Cassidy umgebracht hat. Aber was glaubst du, weshalb Pru das behauptet hat?“
Voller Abscheu sagte Denny: „Sie behauptet, sie hätte ihn mit gezückter Knarre über dem toten Johnny stehen sehen, aber …“
„Ja, hab ich, weil ich’s genau so gesehen hab, du kleiner Pickel.“ Einer der roten Vorhänge wurde aufgerissen, und zum Vorschein kam eine dunkelhaarige junge Frau im Flitterkleidchen, die sich gerade ihr Mieder zuhakte. Sie hatte bleiche Haut, stumpfe, schwarz umrandete Augen und volle, sinnliche Lippen. Das Mobiliar der „Tanzkabine“ bestand aus einem Strohsack, der samt einer Decke auf dem Boden lag sowie einem schlichten Holzstuhl, auf dem ein fettleibiger, schnauzbärtiger Gentleman in Hemdsärmeln saß und vor Anstrengung schnaufte, als er versuchte, seinen seidenbestrumpften Fuß wieder in den Schuh zu bekommen.
„Willst du etwa behaupten, ich würde lügen?“, fragte Pru Denny und kam, die Hände auf die Hüften gestemmt und das Mieder noch immer halb offen, herbeigeschlendert. Sie brachte einen süßlich-sauren Geruch nach Schweiß und Rosenöl mit sich.
„Warst du an jenem Abend überhaupt nüchtern genug, um zu wissen, was du gesehen hast?“, erwiderte Denny und ließ sich nicht einschüchtern.
„Da wir Mädchen bei der Arbeit nichts trinken dürfen“, entgegnete sie spöttisch, „muss ich wohl nüchtern gewesen sein, nicht wahr?“
„Ach, komm schon, Pru“, meinte Denny. „Ich bin doch nicht blöd, und eine Nase hab ich auch. Meistens bist du doch schon angesäuselt, wenn du hier auftauchst. Ich hab gesehen, wie du heimlich aus den Gläsern der Gäste trinkst, und ich hab gehört, wie du Riley angebettelt hast, dass er dir ‚nur ein kleines Schlückchen‘ geben soll, damit du die Nacht durchstehst. Wahrscheinlich warst du an dem Abend viel zu besoffen, um überhaupt irgendwas gesehen zu haben, und jetzt …“
„Ja, blöd nur, dass ich an dem Abend tatsächlich so nüchtern war, wie ich jetzt nüchtern bin und verdammt genau weiß, was ich gesehen hab. Ich hab unsern Johnny Cassidy gesehen, wie er da in seinem Blut lag, und dieser riesige Ire mit den schwarzen Haaren stand über ihm und hatte seine Pistole noch in der Hand.“
Als ihr beleibter Kunde das hörte, schaute er mit sichtlicher Neugier zu ihnen herüber, während er sich seine Hosenträger über die Schultern streifte.
„Und den Schuss haben Sie auch gehört?“, fragte Will sie. „Sind Sie deshalb zu der Wohnung gegangen und haben nachgesehen, was los war?“
Prus Blick ruhte auf Will, und ihre ausdruckslosen dunklen Augen leuchteten auf. Kurz musterte sie Nell von oben bis unten und wandte sich dann wieder Will zu. Aus ihrer Rocktasche holte sie ein kleines Schminkdöschen und ließ den Deckel aufspringen. „Wer will das wissen?“
„Mein Name ist Tom Dougherty“, sagte Will. „Ich brauche ein Zimmer und hab mir eben das hier angeschaut, aber wenn hier irgend so ein Verrückter rumrennt und Leuten in den Kopf schießt, überleg ich mir, ob ich mir nicht lieber woanders was suche. Ihr gefällt das hier …“, er deutete mit dem Kopf auf Nell, „… aber ich bin mir da nicht mehr so sicher. Nicht, bevor ich ein paar Fragen beantwortet bekomme.“
„Seid ihr zusammen?“, fragte Pru.
Nell wollte gerade ja antworten, hatten sie doch vorhin abgesprochen, dass sie sich als Tom Dougherty und seine Frau Moira ausgeben wollten, als Will ihr zuvorkam und sagte: „Nee. Moira ist eins von den Mädels … um die ich mich kümmere.“ Er schenkte Pru ein so anzügliches Lächeln, wie Nell es noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte und auch niemals wieder zu sehen hoffte.
Pru lächelte wissend, während sie mit dem Finger Lippenrot auftupfte, wobei sie ihren Blick nicht einen Moment von Will nahm. Sie rieb die Lippen kurz zusammen, ließ das Döschen zuschnappen und meinte: „Ich hatte da drüben einen Knall gehört, war mir aber nicht sicher, was es war. An dem Abend war Boxkampf, und wenn die sich hier über uns die Köpfe einschlagen, ist es noch lauter, als wenn die Cancan-Tänzerinnen zugange sind, so wie jetzt. Sowie ich also mit meinem Freier fertig war, bin ich rüber zur Wohnung, um nachzuschauen, was da los ist. Die Tür stand offen, und da hab ich eben geseh’n, was ich geseh’n hab.“
„Detective Cook, der mit einer Pistole über dem Toten stand.“
„Es war seine Pistole“, stellte Pru klar. „Seine Jacke war nämlich offen, und ich konnte den Pistolengurt sehen. Und der war leer.“
„Das heißt noch lange nicht, dass er es war!“, empörte sich Denny.
„Du warst doch überhaupt nicht dabei, du kleiner Stinker“, sagte Pru. „Wenn du ihn da so stehen gesehen hättest, mit der Knarre und so richtig finster und böse, dann hättest du auch gleich gewusst, dass er’s war. Ich hab so laut geschrien, dass mir am nächsten Tag noch die Kehle wehtat. Aber ich war mir so sicher, dass er gleich auf mich zielt und einfach abdrückt. Ich hatte ja solche Angst.“
„Haben Sie denn auch Mary Molloy gesehen?“, fragte Will.
„Ja, klar, die war auch da. Sie hatte ihre alte Ledertasche offen auf dem Bett liegen und stopfte ihre ganzen Klamotten da rein – einfach so, ohne irgendwas zusammenzufalten, so eilig hatte die das. Aus ihrer Nase lief Blut, und sie hat es sich nicht mal abgewischt. Auf die Kleider ist auch was getropft.“
„Blut?“
„Sie dürfte wohl’n paar Schläge abbekommen haben“, meinte Pru unbekümmert. „Auf der einen Seite war ihr Gesicht ganz grün und blau, und es wär ja auch nicht das erste Mal gewesen. Die hatte öfter mal Blutergüsse – unter der Schminke hat man’s sehen können. Aber so war sie nun mal, hat es geradezu darauf angelegt.“
„Hat sie nicht!“, ereiferte sich Denny.
„Was willst du denn darüber wissen?“, schnaubte Pru verächtlich. „Du hast doch noch nie ein Mädchen gehabt, geschweige denn ein so aufsässiges Ding wie Mary Molloy an die Kandare nehmen müssen.“
„Sie war kein aufsässiges Ding“, sagte Denny. „Sie hat nicht geflucht, nicht geraucht und sich nicht so billig hergegeben wie ihr andern alle.“
„Ja, wenn du mich fragst, war sie schlimmer als wir alle zusammen“, erwiderte ihm Pru. „Wie eine Katze ist sie um Johnny rumgeschlichen. Johnny hat nur getan, was getan werden musste, damit sie spurt – und was hat es gebracht? Nix. Wenn sie ihre Lektion gelernt hätte, würd’ sie sich nicht mit diesem Cook eingelassen haben.“
„Das kannst du gar nicht wissen“, sagte Denny.
„Glauben Sie denn, dass die beiden was miteinander hatten?“, fragte Will Pru. „Detective Cook und Mary Molloy?“
„Ob sie’s miteinander getrieben haben? Klar haben sie, das weiß ich.“ Pru reckte die Arme, um ihren zerzausten Haarknoten zu richten, wobei sie ihren Rücken auf eine Weise durchbog, dass ihre Reize sich Will unübersehbar präsentierten. „Jeder wusste davon oder hatte zumindest so seine Vermutungen. Und dann, vor einer Woche, habe ich ihn spätabends aus ihrer Wohnung kommen sehen – hinten durch die Kellertür, die auf den Hof rausgeht. Hat sich immer wieder umgeschaut, als er die Treppe hochging, als wollte er sichergehen, dass niemand ihn sieht.“
„Wie kommt es dann, dass Sie ihn gesehen haben?“, wollte Will wissen.
„Weil ich gerade vom Hühnerstall zurückkam. Aber er hat mich nicht gesehen, denn ich hab mich hinterm Klo versteckt, bis er weg war.“
„Vom Hühnerstall?“, fragte Will. „Wohnt da nicht Finn Cassidy?“
„Sie ist nämlich in Finn verknallt – nicht wahr, Pru?“, stichelte Denny. „Und sie glaubt, wenn sie ihn umsonst lässt, wird er sich auch in sie verknallen, aber alles, was er von ihr will, ist doch nur’n bisschen …“
„Scher dich zum Teufel, du kleine Kanalratte“, zischte Pru.
„Stimmt aber“, beharrte Denny. „Sie schmachtet ihn an, als ob er der Präsident höchstpersönlich wär, aber er nimmt sie sich nur für das, wo sie so gut drin ist. Er mag nicht sie, er mag nur …“
„Denny!“, dröhnte eine Stimme vom oberen Ende der Treppe nach unten. Es war Riley, der Barkeeper. „Beweg deinen mickrigen kleinen Arsch nach oben und bring mir endlich den Jameson’s.“
Denny zögerte, einen grimmigen Zug um den Mund.
„Sofort!“, polterte Riley.
„Beeil dich lieber, Denny, mein Junge“, flötete Pru. „Dein Herrchen hat gerufen.“
Voller Verachtung sah der Junge sie an, bevor er zu Will meinte: „Wenn Sie die Wohnung wollen, müssen Sie mit Mutter reden.“ Dann spurtete er mit dem Krug in der Hand die Treppe hinauf. Pru streckte ihm hinterrücks die Zunge raus.
„Sie konnten Cook also aus Ihrem Versteck heraus sehen?“, fragte Will sie.
„Ja, er war schon halb die Treppe rauf, als Mary rausgerannt kam und ruft: ‚He, haben Sie nicht noch was vergessen?‘ Und da sagt er: ‚Ach ja, ich war ganz in Gedanken‘. Und holt ein paar Dollarscheine aus seiner Tasche und gibt sie ihr.“
„Sind Sie sicher, dass es Geld war, was er ihr da gegeben hat?“, fragte Will. „Es war ja schon spät und wahrscheinlich recht dunkel.“
„Stimmt, aber sie trug eine Laterne. Ich hab alles ganz genau gesehen. Mary steckt sich das Geld in den Ausschnitt und sagt was in der Art von ‚Und was, wenn Johnny es rausbekommt?‘ oder so was, und da streichelt Cook ihr Haar und meint: ‚Solange wir vorsichtig sind, wird er es nicht herausbekommen.‘“
„Warum hat sie sich denn Sorgen gemacht, dass Johnny was rausfinden könnte?“, überlegte Will laut. „Ich meine, sie hat doch angeschafft, oder?“
„Klar hat sie das, aber sie war nur für ganz besondere Kunden – für sie nur das Beste, die mit den dicksten Brieftaschen. Wenn irgendein einfacher Matrose oder Hafenarbeiter mal ein Auge auf sie hatte, hat sie ihm nur die kalte Schulter gezeigt. Aber sowie er fein angezogen war, mit einem guten Rock und einem schicken Spazierstock, hat sie eifrig mit den Wimpern geklappert und gekichert und gegurrt. Der durfte dann mit ihr runter.“
„War Johnny ihr Zuhälter?“
„Na ja, ihre Freier hat sie zumindest alle selbst rangeschafft. Also, er ist nicht rausgegangen und hat ihr welche gesucht oder so. An den meisten Abenden saß sie einfach nur oben an einem der Tische und hat ihre Milch getrunken und …“
„Milch?“, fragte Will entgeistert.
„Sie sieht jünger aus, als sie ist, viel jünger, und Johnny wollte, dass sie daraus Profit schlägt. Ich denk mal, sie dürfte so in meinem Alter gewesen sein, also Anfang zwanzig, aber sie ist ja so klein und zierlich und hat diese großen blauen Augen. Wenn Sie sie da so hätten sitzen seh’n, mit ihrer Milch und den Zöpfen und dem blauen Kleidchen mit dem weißen Kragen, dann hätten Sie sie für dreizehn gehalten. Wenn also irgendein reicher Schnösel an ihr interessiert war, hat sie sich von ihm nach unten begleiten lassen. Kurz darauf ist Johnny den beiden dann hinterher. Wollte wahrscheinlich gleich hinterher das Geld einsacken, damit sie nicht zu viel abzweigt. Vielleicht hat er den Typen auch vorher zahlen lassen. Ich hab nur mal mitbekommen, dass er ihr ab und an ein bisschen Geld gegeben hat, aber meistens musste sie drum betteln, wenn sie was brauchte.“
„Cook mag nicht gerade reich sein“, sagte Will, „aber wenn er für Marys Dienste zahlte, warum sollte Johnny damit ein Problem haben? Warum meinte Mary, sie müsste es vor ihm geheim halten?“
Vielleicht, dachte Nell, weil er ausnahmsweise nicht zuschauen durfte.
Gleichgültig zuckte Pru die Achseln, während sie sich einige Haarnadeln aus ihrem Knoten zog und ihre Frisur richtete. „Vielleicht wollte Mary Cooks Geld für sich allein behalten, statt es Johnny geben zu müssen. Oder vielleicht war das mit ihr und Cook nicht nur geschäftlich. Sie hatte nämlich sonst keine Stammkunden. Er war der Einzige, den ich öfter als einmal hab kommen seh’n. Na, und wie ich die beiden da so im Hof geseh’n hab … also, er hat sie nicht gerade so angeschaut, als ob sie nur irgendeine Hure wär, und er hat auch nicht so mit ihr gesprochen, wie die andern Freier sonst immer mit uns sprechen. Er war … irgendwie höflich.“
„Aber er hat sie bezahlt“, vergewisserte sich Will.
„Das heißt ja nicht, dass er nicht irgendwelche Gefühle für sie gehabt hätte. Oder haben Sie noch nie einem Mädchen, das Sie mögen, Geld gegeben? Oder nette kleine Geschenke, obwohl Sie genau wissen, dass sie die umgehend im Pfandhaus zu Geld macht?“
Will bekannte sich mit einem reumutigen Lächeln schuldig und neigte beschämt den Kopf.
„Nee, die Sache ist die“, fuhr Pru fort, „dass Mary Molloy ihre dünnen kleinen Beinchen nämlich nur für einen regelmäßig breitmachen durfte, und das war Johnny Cassidy. Wenn er das mit Cook rausgefunden hätte, würde er ihr wahrscheinlich den Hals umgedreht haben.“
„Ich nehme an, dass Sie Constable Skinner das auch alles erzählt haben“, sagte Will. „Dass Cook in jener Nacht aus Marys Wohnung gekommen ist und so.“
„Er hat mich gefragt, ob Cook sich irgendwann mal auffällig benommen hätte. So hat er das gesagt – ‚auffällig benommen‘. Na, da hab ich ihm das mit Cook und Mary natürlich erzählt.“
„Und haben Sie es sonst noch jemandem erzählt?“, fragte er. „Ich meine, nachdem Sie Cook an jenem Abend aus Marys Wohnung haben kommen sehen?“
„Nicht gleich danach, aber dran gedacht hab ich schon. Ich konnte Mary noch nie leiden. Eingebildetes kleines Ding, die glaubte, sie wär was Besseres als wir andern.“
„Wenn Sie sie nicht mochten“, meinte Will, „warum haben Sie es dann nicht Johnny erzählt?“
Pru lächelte verschlagen. „Weil ich meine Gründe hatte.“
„Sie wollten Mary erpressen, nicht wahr?“, fragte Nell.
Es war das erste Mal, dass sie sich zu Wort meldete, und allem Anschein nach war das keine gute Idee gewesen, denn Pru warf ihr einen verärgerten Blick zu und sagte: „Ich denk, ich geh mal lieber wieder nach oben, bevor Mutter sich fragt, was ich hier unten so lange treibe. Sie will nicht, dass wir Mädels so lange brauchen – schlecht für’s Geschäft. Für unseres und für ihres.“
„Sie bekommt auch einen Anteil von dem, was Sie hier verdienen?“, fragte Will.
„Sie nimmt sich das Geld und gibt uns unseren Anteil, und das ist gerade mal die Hälfte von dem, was wir verdient haben – habgieriges altes Luder.“
„Das ist aber ungerecht“, meinte Will mitfühlend.
„Tja, entweder so oder ab auf die Straße“, sagte Pru nüchtern. „Früher war’s mal umgekehrt, da haben wir das Geld genommen und Mutter die Hälfte abgegeben, aber Mutter hat immer gedacht, wir würden sie bescheißen. Wenn wir ihr gesagt haben, wir hätten es gerade französisch gemacht, hat sie behauptet, es hätt’ zu lange gedauert, das wäre normal gewesen, und schon hat sie alles für sich behalten, weil normal nämlich doppelt so viel kostet wie französisch.“
„Wenn das so ist …“, sinnierte Will, „… sind Sie doch bestimmt auch mal in Versuchung gekommen, heimlich was auf die Seite zu schaffen. Also ich weiß, dass ich das bestimmt getan hätt’.“
„Ab und an schon“, gab Pru zu. „Aber nicht zu oft, denn wir wollten unser Glück nicht zu sehr herausfordern. Einmal – das ist jetzt vier oder fünf Jahre her“, verstohlen schaute sie die Treppe hinauf und senkte die Stimme, „hat dieses eine Mädchen, Ellie hieß sie, es zu weit getrieben und zu viel für sich behalten. Ein bisschen übermütig geworden, die Gute. Mutter hat es natürlich rausbekommen, und ehe Ellie es sich versah, trieb sie mit dem Gesicht nach unten im Charles River. Es heißt, sie wäre erwürgt und in den Fluss geworfen worden. Danach haben wir uns an gewisse Regeln gehalten, wenn Sie wissen, was ich meine. Als Mutter dann angefangen hat, selbst abzukassieren, war ich richtig froh.“
„Verständlich“, sagte Will. „Aber eine Frage hätte ich doch noch, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“
„Sie haben ganz schön viele Fragen, was?“
„Wie ich schon sagte – ich will wissen, was hier eigentlich los ist, bevor ich Geld für diese Wohnung auf den Tisch lege.“
„Ich hab Ihnen doch gesagt, was passiert ist.“
„Hat noch jemand gesehen, was Sie gesehen haben?“, fragte Will unbeirrt weiter. „Scheint, als hätte es da noch mehr Zeugen gegeben.“
„Ja, da war’n noch so’n paar Schnösel, die hinten was geraucht haben.“ Sie nickte in die Richtung der Opiumhöhle. „Als sie mich schreien hörten, kamen sie rausgestolpert und haben Cook auch da stehen sehen – mit der Knarre über Johnny. Aber die waren ziemlich hinüber. Einer musste sich an der Wand abstützen, damit er nicht umkippte. Der andere fing an zu kichern, als ob das alles furchtbar komisch wär oder so. Ich bin schleunigst nach oben gerannt, und ich denk mal, die beiden haben sich wieder hingelegt und weitergeraucht, denn nachher hab ich sie nicht mehr gesehen.“
„Haben Sie die beiden erkannt?“, fragte Will.
„Hab die beiden vorher nie gesehen. Wahrscheinlich so Schnösel aus Beacon Hill oder der Back Bay, die mal Lust auf ein bisschen Gesindel haben. Nächtlicher Ausflug ins North End, kennt man ja.“
„Wissen Sie, ob der Constable die beiden befragt hat?“
„Keine Ahnung, aber wenn ja, dürften die ihm dasselbe erzählt haben wie ich. Auf den blöden Denny Delaney brauchen Sie nicht zu hören. Er will es nur nicht wahrhaben, dass sein verehrter Detective Cook so was gemacht hat, aber ich hab geseh’n, was ich geseh’n hab und weiß, was ich weiß. Wenn Sie mich fragen, dann hat Cook die gute Mary gerade gevögelt, als Johnny reinkam und die beiden erwischt hat. Johnny dürfte sich mächtig aufgeregt und ordentlich Ärger gemacht haben, und da hat Cook ihm dann eben in den Kopf geschossen und ist mit Mary abgehauen.
„Irgendeine Ahnung, wo die beiden sein könnten?“, fragte Will.
„Was weiß ich. Und ist mir auch egal, aber wenn sie schlau ist, lässt sie sich hier nicht mehr blicken. Finn sagt, sie ist schuld, dass sein Bruder tot ist. Wegen ihr wär er umgebracht worden. Wenn sie sich hier jemals wieder blicken lässt, kriegt sie ’ne Kugel in den Kopf, sagt er.“