10. KAPITEL

Nell und Will standen an der Tür zum Hinterzimmer und hörten zu, wie Finn Cassidy Mutter Nabby darlegte, warum sie die Wohnung seines Bruders ganz unmöglich vermieten könnte.

„Herrgott noch mal, Mutter“, ereiferte sich Finn und baute sich sehr imposant vor ihrem Schreibtisch auf, was Mutter indes wenig zu beeindrucken schien. „Es ist jetzt gerade mal zwei Tage her, dass Johnny umgebracht worden ist. Es gehört sich einfach nicht, so bald schon wieder jemanden da unten einziehen lassen!“

„Na ja, weißt du … zurück kommt er auch davon nich’, wenn die Bude leer steht“, nuschelte Mutter, die gerade den Mund voll gebratener Hammelkeule hatte.

„Ich weiß, dass er …“

„Aber ich muss derweil den Laden hier am Laufen halten.“ Sie spülte das Fleisch mit einem großen Schluck Bier hinunter und beäugte Nell und Will über den Rand ihres Humpens. „Und?“, fragte sie, während sie sich den Mund mit ihrem fetten bloßen Arm abwischte. „Woll’n Sie die Wohnung oder nicht?“

„Ja, doch, ich glaube schon. Aber ein paar Fragen hätt’ ich da noch“, meinte Will, legte Nell die Hand auf den Rücken und schob sie mit sanftem Nachdruck ins Zimmer. Auch nachdem sie ein paar Schritte gegangen war, nahm er seine Hand nicht fort, wofür sie ihm insgeheim sehr dankbar war. Mutter Nabby machte sie nervös, und es war irgendwie beruhigend, seine Berührung zu spüren.

„Johnny hat bis zum Ende des Monats Miete gezahlt“, erinnerte Finn nun Mutter, „weshalb Sie überhaupt kein Recht haben, die Wohnung vor August zu vermieten.“

Daraufhin knallte Mutter den Humpen so heftig auf ihren Schreibtisch, dass Bier über den Rand schwappte, doch schien sie es entweder nicht zu merken oder aber es war ihr egal. „Willst du mir jetzt etwa vorschreiben, wozu ich in meinem eigenen Haus das Recht habe, Finn Cassidy?“, fuhr sie ihn an, und ihre harten kleinen Rosinenaugen funkelten bedrohlich.

Finn zuckte auch tatsächlich zusammen und hob beschwichtigend die Hände. „Nein, nur … Sie haben Ihr Geld ja schon bekommen, deshalb dachte ich …“

„Die Miete habe ich bekommen“, stellte sie klar, „aber wo bleibt der Rest, der mir zusteht?“

„Er hat Ihnen immer einen Anteil von dem gezahlt, was Mary verdient hat“, sagte Finn. „Reicht das nicht?“

„Nicht immer, und jetzt tu nich’ so, als wüsstest du davon nix. Außerdem hat er auch von den andern Geschäften gern mal was unterschlagen – immer schon.“

„Das können Sie doch gar nicht wissen.“

„Doch. Ich kann’s zwar nicht beweisen, aber ich weiß es. Wenn man nur lange genug mit Gesindel wie ihm Geschäfte gemacht hat, dann merkt man, wenn sie einen über’s Ohr hauen. Und die Hälfte der Zeit, wenn er draußen an der Tür stand, war er stockbesoffen. Er war es, der immer Streit angefangen hat. Eigentlich hätt’ ich einen Türsteher gebraucht, der ihn rauswirft.“

„Ähm, Miss Nabby?“

Als sie sich umdrehten, sahen sie Prus korpulenten Kunden an der Tür stehen. Mittlerweile wieder ordentlich gekleidet in dunklem Frack und mit seidenem Krawattentuch, hielt er seinen Zylinder in der einen, seine Handschuhe in der anderen Hand.

„Ah, ’n Abend, Mr. Jones“, sagte Mutter. „Sie war’n bei Pru, stimmt’s? Das wär’n dann acht Dollar. Sie können vorn bei Riley an der Bar zahlen.“

„Ich … ähm, ja. Eigentlich wollte ich fragen, ob Sie vielleicht so freundlich wären, mir künftig auf Rechnung …“, stammelte er.

„Na, dann kommen Sie mal rein.“ Nachdem sie sich ihre von Hammelfett triefenden Hände an einem Lappen abgewischt hatte, zog Mutter ein kleines ledergebundenes Büchlein aus ihrer Schürzentasche, tunkte eine Stahlfeder ins Tintenfass und machte einen Vermerk. Nell reckte sich unmerklich, um den Eintrag entziffern zu können.

7. Juli 1870

Josiah Honeycutt

Stammkunde bei Pru

$ 8.–

Ah, dachte Nell, den Namen kenne ich doch! Josiah Honeycutt saß in der Bostoner Stadtverwaltung, auf nicht unbedeutendem Posten.

„Wenn Sie bitte noch hier unterschreiben würden, Mr. Jones.“ Mutter reichte „Mr. Jones“ die Feder, der rasch signierte und dann entschwand.

„Sie lassen anschreiben?“, fragte Will ungläubig, als Mutter das kleine Büchlein wieder in ihrer Tasche verschwinden ließ.

„Ach, ich weiß schon, wem ich vertrauen kann. Und wer reich und mächtig ist, versucht meist nich’, sich vor’m Zahlen zu drücken, wenn es dann mal so weit ist. Die wissen nämlich ganz genau, was ich ihnen antun kann, wenn mir danach sein sollte.“ Sie nahm sich etwas Tabak aus der Dose Black Cat, die auf ihrem Schreibtisch stand, und stopfte sich ihre Pfeife.

„Wenn Sie erlauben“, sagte Will, beugte sich lächelnd vor und gab ihr Feuer, ganz der galante Gentleman.

Mutter musterte ihn mit kühlem Blick. Das Oberteil ihrer Schürze spannte sich über ihren kolossalen Brüsten und war von Bierspritzern und Fettflecken übersät sowie von kleinen, faserigen Fleischstückchen, die es nicht bis in ihren Mund geschafft hatten.

„Die Wohnung wär’ Ihnen also recht?“, fragte sie und bezog auch Nell in ihren prüfenden Blick mit ein.

„Ja, doch, ich denke schon“, meinte Will. „Wenngleich das Blut …“

„Das kann ich noch wegmachen lassen“, versprach ihm Mutter. „Wann woll’n Sie einziehen?“

„Frühestens in ein paar Tagen“, erwiderte Will.

„Bis dahin isses verschwunden. Wenn Sie’s nicht wüssten, kämen Sie nicht drauf, dass es mal da war.“

„Stimmt es denn, dass der Vormieter ermordet wurde?“, fragte Nell.

„Von einem Bullen“, knurrte Finn. „Und alles nur wegen diesem elenden Weibsstück, mit dem er zusammengelebt hat.“

„Elendes Weibsstück?“, wiederholte Mutter und grinste. „Na, jetzt aber, Finn – ich hab doch gesehen, wie du sie angeglotzt hast, wenn dein Bruder gerade mal nicht hingeschaut hat.“

„War ich ja wohl nicht der Einzige. Jeder hier hat sie angeglotzt, so wie sie aussah“, verteidigte sich Finn. „Mit ihrem dämlichen Schulkleidchen, und wie sie mit ihren blauen Kulleraugen mit allem kokettiert hat, was Hosen anhatte.“

„Komisch“, meinte Mutter, „ich kann mich gar nicht erinnern, dass ihre Kulleraugen jemals deine Hose eines Blicks gewürdigt hätten.“

„Sie ist ein hinterhältiges, verlogenes Miststück“, zischte er so heftig, dass der Speichel flog. „In der Hölle soll sie verrotten! Wegen ihr ist mein Bruder jetzt tot, weil sie es mit einem Bullen getrieben hat – Himmelherrgott, mit einem Bullen! –, aber das ist Ihnen ja wohl scheißegal, was?“

„Das reicht, Finn“, beschied Mutter mit unheilvoll leiser Stimme.

„Wegen diesem kleinen Luder hat man Finn eins in den Kopf geknallt, und Sie hocken hier wie eine … wie ein fettes, altes Spanferkel und denken nur daran, wie viel Geld Sie aus seiner …“

„Riley!“, brüllte sie.

Eilends kam der Barkeeper angerannt. „Ja, Ma’am.“

„Unser Freund hier vergisst sich“, sagte Mutter, ohne dabei ihren erbosten Blick von Finn zu wenden. „Er redet wirres Zeugs, das mich glauben lässt, dass er nich’ mehr ganz richtig im Kopf ist. Vielleicht solltest du ihn schleunigst zurück in den Hühnerstall bringen – bevor ihm noch etwas zustößt.“

In Mutters letzten Worten schwang eine leise Drohung mit, kaum merklich zwar, doch daraus, wie Finn und Riley jäh erbleichten, ließ sich schließen, dass ihnen die Warnung nicht entgangen war. Wenn ein brutaler Schläger wie Finn Cassidy sich so sehr vor einer Frau fürchtete, sagte das einiges über Mutter Nabbys Macht und ihre Methoden, jene zu bestrafen, die ihr Missfallen erregten. Wahrscheinlich war die unselige Ellie nicht das erste und nicht das letzte Opfer ihrer Rachegelüste gewesen.

„Komm schon, Kumpel“, sagte Riley und zerrte Finn am Hemdsärmel fort. „Leg dich jetzt erst mal hin und schlaf eine Runde, und wenn du morgen aufwachst, versuch mal ausnahmsweise, dich nich’ wie’n Pferdearsch zu benehmen.“

„Stimmt es denn, was er sagt – dass Johnny Cassidy von einem Bullen erschossen wurde?“, fragte Nell, nachdem die beiden verschwunden waren.

„Mary hat einen gevögelt, das weiß ich“, erwiderte Mutter Nabby, riss sich mit bloßen Fingern ein Stück Fleisch von der Hammelkeule auf ihrem Teller und stopfte es sich in den Mund. „Einer vom State Constabulary, ganz große Nummer. Der tauchte hier immer mal wieder auf, um nach dem Rechten zu sehen. Wenn Johnny grad nich’ da war, hat er sich hinten über den Hof zu Mary in die Kellerwohnung geschlichen.“

„Und da sind Sie sich ganz sicher – ich meine, mit ihm und … ihr?“, fragte Nell.

„Mmmh. Kleines Vögelchen hat’s mir erzählt, und da hab ich Riley gesagt, er soll ihn mir mal bringen, diesen Bullen. Er hat alles zugegeben, meinte, er hätt’ was mit ihr, würd’ sie praktisch aushalten wie eine Geliebte, wollte aber nicht, dass Johnny was davon mitkriegt, weil Mary das sonst ausbaden müsste, und dass seine Frau es erfuhr, wollte er natürlich auch nicht. Doch, das musste man ihm lassen – schlau genug, mir genug zu zahlen, ohne dass ich ihn extra dazu auffordern musste. Ich hab ihm gesagt, er könne es ruhig weiter mit Mary treiben, solange er sich nur nich’ erwischen lässt, denn Ärger mit Johnny kann ich wirklich nich’ brauchen. Und was tut er? Leichtsinnig wird er und lässt sich von Johnny dabei erwischen, wie er sie in seinem eigenen Bett bumst. Und jetzt haben wir die Bescherung. Saublöder Schafskopf, verdammter.“

„Sie glauben also, dass es sich so zugetragen hat?“, fragte Will.

„Ich weiß überhaupt nich’, wie es sich zugetragen hat“, meinte Mutter spöttisch, paffte an ihrer Pfeife und riss sich noch ein Stück von der Keule. „Aber wenn Sie mich fragen, dann isses sehr wahrscheinlich, dass es so war. Weshalb woll’n Sie das überhaupt so genau wissen?“

„Ich frage nur, weil ich mir ein bisschen Sorgen mache, ob Moira hier wohl sicher ist“, meinte Will und zog Nell an sich. Damit ihr Arm nicht zwischen ihnen beiden zerdrückt werde, legte sie ihn um seine Hüfte und hoffte, dass es nicht ebenso linkisch aussah, wie sie sich fühlte. Und zu allem Übel spürte sie auch noch, wie ihr das Blut heiß in die Wangen stieg.

Unbeirrt fuhr Will fort: „Wenn es hier öfter zu Schießereien kommt …“

„Kommt es nich’, dafür sorge ich schon“, stellte Mutter klar. „Ich zahle vierhundertfünfzig Dollar die Woche, damit wir hier unsere Ruhe haben.“

„Am Dienstagabend war es damit aber nicht weit her“, wandte Will ein. „Sind Sie sicher, dass die Leute, die Sie da zahlen, ihre Sache auch gut machen?“

Schwer ließ Mutter sich in ihrem thronartigen Sessel zurücksinken, kaute und hob die Pfeife an die Lippen. „Dreihundert werden unter den Bullen vom achten Dezernat drüben an der Commercial, Ecke Salutation aufgeteilt. Die kriegen von fast allen Läden hier im Viertel Geld – also zumindest von allen, die Glücksspiel und Huren im Angebot haben –, aber wir zahlen am meisten, weil es bei uns noch Opium gibt plus die Boxwetten. Das kostet. Skinner, diese miese kleine Ratte, macht hier jeden Samstagabend die Runde. Geht die ganze North Street ab und stopft sich die Taschen voll. Wenn er kein Bulle wär’ und ’ne Waffe hätte, würde er damit nicht weit kommen. Aber der einzige Bulle, der wirklich oft hier rumhängt, ist der von der Staatspolizei, der es mit Mary treibt. Der kam regelmäßig und hat sich zu den anderen Stammgästen gesetzt, sein Cider getrunken, is’ ’nen bisschen rumgeschlendert, hat mit den Leuten geplaudert … Bislang hat er aber noch keinen verhaftet – also, wer weiß, vielleicht kriegt er ja was ab von dem, was Skinner hier einsammelt.“

„Die Zahlungen sollen also sicherstellen, dass die Bullen ein Auge zudrücken?“, vergewisserte sich Nell.

„Und dass sie kommen, wenn ich nach ihnen rufe. Wenn es mal eine richtige Schlägerei gibt – so ’ne richtig üble, wo der ganze Saal voll mit Besoffenen ist, die mir hier alles kurz und klein schlagen wollen –, dann schaffen meine beiden Rausschmeißer das nicht allein. Und hat noch niemandem geschadet, mal ’ne Nacht in der Zelle zu verbringen.“

„Und die restlichen hundertfünfzig?“, fragte Will. „Wer bekommt die?“

„Sie stellen ganz schön viele Fragen, wissen Sie das?“, entgegnete Mutter.

„Moira hier ist eine Goldgrube. So ein Mädel ist schwer zu ersetzen, also will ich nicht, dass ihr was passiert. Bevor sie hier einzieht, muss ich wissen, ob sie hier sicher ist.“

„Die restlichen hundertfünfzig gehen an Brian O’Donagh. Kennen Sie den?“

„Hab schon mal von ihm gehört“, sagte Will. „Die Söhne Irlands.“

„Die helfen einem aus der Klemme, wenn man ein Problem hat, bei dem die Bullen so tun müssen, als wüssten sie nichts davon. Sorgen beispielsweise dafür, dass Leute, die beim Kartenspiel tricksen oder mit dem Messer auf unsere Mädels losgehen, sich hier nicht mehr blicken lassen.“

„Und wie sorgen sie dafür?“, fragte Will.

Mutter bedachte ihn mit einem Na-was-glauben-Sie-wohl-Blick. „Wenn das Problem aus der Welt ist, frag ich nich’ weiter nach. Er sorgt auch dafür, dass seine Jungs uns in Ruhe lassen. Genug geredet – nehmen Sie die Wohnung oder nich’?“

„Wie viel soll sie kosten?“, fragte Will.

„Kommt drauf an. Wollen Sie sie für’s Geschäft oder nur als Wohnung oder beides?“

„Beides, denk ich mal. Moira wird dort wohnen“, meinte Will und streichelte ihre Hüfte, „und auch ein paar Geschäfte machen.“

„Dann macht es vierzig Dollar die Woche plus sechs pro zehn verdienten Dollar.“

„Sechs?“, horchte Nell auf. „Ich habe von den andern Mädchen gehört, dass sie nur die Hälfte abgeben müssen.“

„Die andern Mädchen sind ja auch meine Mädchen“, meinte Mutter und grinste. „Die sind meine Goldgrube. Jeder Freier, den Sie sich hier schnappen, ist einer weniger für meine Mädchen. Sechzig Prozent. Wenn Sie nich’ einverstanden sind, lassen Sie’s bleiben.“

„War das auch die Übereinkunft, die Sie mit Johnny und Mary getroffen hatten? Sechzig Prozent?“ Nell entging keineswegs, dass Will sich sehr darüber amüsierte, wie sie hier um ihren Anteil feilschte.

„Mary gehörte nich’ zum Angebot“, sagte Mutter.

„Sie …?“, setzte Nell an und stutzte. „Aber ich dachte …“

„Nich’ zum allgemeinen Angebot“, fügte Mutter erklärend hinzu. „Meine Übereinkunft mit Johnny war etwas komplizierter, aber einen Anteil musste er mir trotzdem zahlen – was keineswegs heißt, dass er das immer getan hätte. Johnny hat mich gern warten lassen.“ Mit einem eisigen Funkeln in den winzigen Augen wandte sie sich an Will: „Nur damit Sie Bescheid wissen: Sie sollten mich lieber nich’ auf mein Geld warten lassen.“

Damit schickte Mutter Will nach vorne zur Bar, um Riley gleich die erste Monatsmiete zu zahlen. Riley treibe nämlich für sie das Geld ein, meinte sie und bat Nell, doch noch kurz hierzubleiben, damit sie sich „ein bisschen kennenlernen könnten“.

Sowie Will außer Hörweite war, fragte Mutter: „Weshalb sind Sie hier?“

„Wie bitte?“

„Was will ein hübsches Ding wie Sie in dieser Kaschemme, wenn Sie Ihren reizenden Körper genauso gut in einem der noblen Bordelle an der Cambridge Street zu Geld machen könnten?“

„Ähm …“

„Schauen Sie sich doch nur mal an“, meinte Mutter und gestikulierte mit ihrem kolossalen Arm, dass das Fleisch nur so schwabbelte. „Sie haben Stil. Das können Sie nich’ verbergen, da kann Ihr Ausschnitt noch so tief sein. Und Ihre Augen sind so liebreizend und unschuldig. Sie können sogar richtig gut erröten. Dafür zahlen manche Freier Ihnen gleich das Doppelte. Ach, was sage ich, das Dreifache! Jungfrauen sind in Ihrer Branche sehr gefragt.“

„Das war ich zuletzt, als ich sechzehn war“, sagte Nell und musste nicht einmal lügen – ihrer Hochzeit mit Duncan sei es gedankt.

„So zu tun als ob, ist leichter, als Sie denken. Ich kann Ihnen ’nen paar Tipps geben, und lassen Sie sich eins gesagt sein: Männer glauben, was sie glauben woll’n. Sie würden mit der Nummer durchkommen – und das nicht nur einmal.“

Irgendwie kam es Nell so vor, als versuche Mutter Nabby – warum auch immer –, sie tatsächlich dazu zu überreden, sich nach einem anderen Arbeitsplatz umzusehen. Während sie überlegte, wie sie das Angebot ablehnen könne, meinte Nell: „Wenn ich in einem richtigen Bordell arbeite, müsste ich die Besitzerin bezahlen und …“

„Wenn Sie stattdessen hier arbeiten, müssten Sie mich bezahlen“, unterbrach Mutter sie. „Und ihn.“ Sie deutete mit ihrem riesigen runden Kopf zur Tür, durch die Will verschwunden war. „Ihr Zuhälter, was? Was bleibt Ihnen denn vom Geschäft? Zehn Prozent? Zwanzig? In ’nem erstklassigen Puff verdienen Sie nicht nur mehr, sondern können auch mehr behalten.“

„Ich … ich werde mal drüber nachdenken. Aber bis dahin, also …“

„Sagen Sie mir einfach Bescheid, dann besorg ich Ihnen was Schönes. Ich kenne einige Damen, die sehr diskrete Häuser führen – erstklassig, distinguiert. Nur allerbeste Kundschaft – sauber, vermögend. Manche soll’n auch ein hübsches Trinkgeld geben, hab ich mir sagen lassen.“

„Entschuldigen Sie die Frage“, wandte Nell verwundert ein, „aber was hätten Sie von der ganzen Sache?“

„Ich bekomme Provision, weil ich Sie ihnen vermittelt habe, und glauben Sie mir, die wird beträchtlich höher sein als mein Anteil von dem, was Sie hier unten verdienen würden. Keine Sorge, Sie würden mir gar nichts schulden – geht alles auf Kosten der Dame des Hauses.“

„Ich … ähm, ja. Ich werde es in Erwägung ziehen“, sagte Nell.

„Tun Sie das. Und jetzt …“ Mutter schob ihren massigen Körper im Sessel nach vorn und schaute zur Bar hinüber. „Jetzt könnten Sie mir mal Flora oder eins von den andern Mädchen holen. Ich muss pinkeln und bin wegen meiner Gicht nicht so gut zu Fuß.“

„Oh. Ja, natürlich. Ähm, ja … ich könnte Sie doch kurz in den Hof bringen“, erbot sich Nell.

„In den Hof?“ Mutter schnaubte verächtlich. „Schätzchen, ich pinkel doch nicht in dieser Holzkiste. Ich habe hier mein privates WC.“ Sie deutete auf eine Tür im hinteren Teil des Zimmers. „Geben Sie mir die mal“, meinte sie und zeigte auf ein Paar Krücken, die an der Wand lehnten.

Nell brachte sie ihr und stützte Mutter Nabby, während sie sich keuchend vor Anstrengung aus dem Sessel hievte, beide Hände auf die unter ihrem Gewicht bedrohlich schwankenden Krücken gestemmt. Mutters Haut fühlte sich unangenehm weich und feucht an. Durch den Geruch von Tabak und Hammelfett drangen die Ausdünstungen eines früh gealterten, kranken, verwahrlosten Körpers. Als sie schließlich stand, wirkte sie noch massiger. Fünfhundert Pfund dürfte sie mit Leichtigkeit auf die Waage bringen.

Laufen war eine Qual für Mutter Nabby. Bei jedem Schritt musste sie erst ihre Krücken aufsetzen, dann vorsichtig einen Fuß nachziehen, dann wieder die Krücken und den anderen Fuß, um nicht ihr mühsam gewahrtes Gleichgewicht zu verlieren. Nell verdankte es ihrer jahrelangen Erfahrung als Krankenschwester, dass es ihr gelang, Mutter bei diesem heiklen Unterfangen zu helfen, ohne sich auch nur eine Andeutung von Ungeduld oder Ekel anmerken zu lassen.

„Ich habe mich nicht in Ihnen getäuscht“, grunzte Mutter, während sie sich keuchend und schnaufend durch das Zimmer schleppte. „Sie sind einfach reizend, ganz reizend. Und ich sag’ Ihnen, das zahlt sich aus. Sie könnten ’nen Vermögen machen.“