11. KAPITEL

Bis Nell es endlich geschafft hatte, Mutter Nabby zum WC zu begleiten und sie auch wieder zurück in ihren Sessel zu befördern, saß Will längst an einem kleinen Tisch in einer dunklen Nische und war tief in ein Gespräch mit Pru versunken. Eines der Serviermädchen stellte zwei frisch gefüllte Gläser vor ihnen ab und nahm die leeren gleich wieder mit. Sowie sie sich umgedreht hatte, tauschte Will die beiden Gläser aus, schob Pru seines zu und nahm sich das ihre, welches vermutlich keinen Alkohol enthielt. Dabei blinzelten sie sich auf eine so wissende, verschwörerische Weise zu, dass Nell eine Gänsehaut bekam. Pru, die Nell halb den Rücken zukehrte, hob ihr Glas und trank es in einem Zug fast ganz aus.

Sie sagte etwas zu Will, der daraufhin erwiderte – es fiel Nell nicht schwer, die Worte von seinen Lippen abzulesen –, „Gern geschehen“. Im nächsten Augenblick lehnte Pru sich weit vor, fuhr ihm mit der Hand über das Revers und sagte etwas, das Will lächeln ließ. Es mochte ja sein, dass sie in Finn verliebt war, wie Denny Delaney behauptet hatte, doch das schien Pru keineswegs davon abzuhalten, sich in anderen Gewässern zu tummeln.

Als Will sich zurücklehnte, fiel sein Blick auf Nell, und er bedeutete ihr mit einem leichten Nicken des Kopfes, herzukommen. Das ausgelassene Gegröle an der Bar, dazu die wilde Musik, die von der Bühne herüberschallte, wo die Cancan-Tänzerinnen noch immer munter ihre Beine schwangen, machten es Nell nahezu unmöglich, etwas von Wills Unterhaltung mit Pru mitzubekommen, ehe sie praktisch direkt an dem Tisch der beiden stand.

„… mich schon gefragt, warum Sie niemandem gesagt haben, dass Sie Detective Cook an jenem Abend aus Marys Wohnung haben kommen sehen“, sagte Will gerade.

„Ich dacht mir einfach, dass es schlauer is’, erst mal Mary zu sagen, was ich weiß, und zu sehen, was es ihr wert wär, dass ich meinen Mund halte.“ Prus Worte klangen schon ein wenig verschwommen. Der stetig fließende Alkohol entspannte sie, was gewiss Wills Absicht war.

„Das war wirklich schlau“, meinte Will.

„Zehn Dollar die Woche, und sie hat nicht mal versucht, es runterzuhandeln. Aber sie hatte auch so was von Schiss, dass Johnny es rausfindet. Er kann ziemlich ausrasten – wie sein Bruder. Mein Vater war auch so, meine Onkels auch. Gehört wahrscheinlich dazu. Wenn man einen richtigen Mann will und nich’ so ’nen Schlappschwanz, muss man mit dem Guten eben auch das Schlechte nehmen. Ich hab jetzt natürlich nur einmal was von ihr bekommen, bevor sie auf und davon is’, aber immerhin bin ich jetzt zehn Dollar reicher als vorher. Hat sich schon gelohnt.“

„Tom, da bist du ja!“, rief Nell, als sie sich zu den beiden gesellte. „Ich habe dich schon überall gesucht.“

„Moira.“ Will erhob sich und rückte ihr einen Stuhl zurecht. Pru bedachte sie mit einem giftigen Blick, bevor sie ein Heftchen mit Zigarettenpapier und einen Tabakbeutel aus ihrer Gürteltasche kramte.

„Nehmen Sie eine von meinen“, meinte Will, ließ seine Dose Turkish Orientals aufspringen und bot sie ihr an.

„Oh, Tommy, Sie sind ja wirklich ein richtiger Gentleman!“, rief Pru und nahm sich eine Zigarette.

Tommy? Nell warf einen enervierten Blick auf Will, der sich anscheinend sehr zusammennehmen musste, um nicht laut loszulachen.

„Ich hab noch nie ’ne fertig gerollte Zigarette geraucht“, bemerkte Pru, als Will sie ihr anzündete.

„Kann sein, dass sie schon etwas schal schmeckt“, entschuldigte sich Will. „Aber ich rauche in letzter Zeit kaum noch.“

„Ich finde, sie schmeckt himmlisch – aber ich bin eben auch nicht so zimperlich, nich’ wahr?“, schnurrte Pru und schaute Will bedeutungsvoll an.

„Glauben Sie denn, dass Detective Cook und Mary ineinander verliebt waren?“, fragte Will sie.

Während Pru an der Zigarette zog, schüttelte sie den Kopf. „Wär er in sie verliebt gewesen, würde er sie mit niemandem geteilt haben. So großzügig sind Männer nicht, wenn sie’s mit einem Mädchen ernst meinen. Die woll’n sie dann schon für sich allein haben. Und ich denk mir mal, wenn der Typ so richtig scharf auf sie is’, müsste sie mit ihm auch ausreichend bedient sein.“

„Wahrscheinlich dürfte Cook gar keine andere Wahl geblieben sein, als sich Mary mit anderen Männern zu teilen“, wandte Will ein, „wenn man bedenkt, womit sie sich ihren Lebensunterhalt verdient hat.“ Er wurde langsam müde, so schien es Nell, und sein gewohnter englischer Akzent war wieder deutlich herauszuhören. Vielleicht nahm er aber auch nur an, dass Pru mittlerweile viel zu betrunken wäre, als dass sie es bemerken würde. Und wenn sie es doch bemerkte, so wäre es ihr vermutlich egal.

„Ich red’ ja auch nicht von ihren Freiern, das war ja schließlich ihr Job“, meinte Pru. „Sondern von diesem Typen, den Cook vor ein paar Tagen mitgebracht hatte. Am Montag, glaub ich. Ja, doch, Montagabend war das – ziemlich früh noch, so gegen acht oder neun, das weiß ich noch, weil es gerade erst anfing dunkel zu werden. Irgendein Kumpel von ihm … Klock – klock – klock.“

„Klock – klock – klock?“, fragte Nell verwirrt.

„Ja, der hatte ’nen Holzbein. Und ein Glasauge könnte er auch gehabt haben. Davon abgesehen sah er eigentlich ganz normal aus, sehr schöne Kleider, aber trotzdem … ein Krüppel eben.“

Wills und Nells Blicke begegneten sich. Ebenezer Shute.

„Wollen Sie damit andeuten, dass Cook ihn hierher gebracht hat, um … sich Mary mit ihm zu teilen?“, fragte Nell.

„So war meine Vermutung. Die beiden saßen vorne an der Bar und haben was getrunken. Zumindest Klock-klock-klock hat was getrunken … ziemlich heftig hat er getrunken. Cook nich’. Ich hab ihn hier noch nie was trinken sehen. Mary saß wie immer in ihrer Ecke, mit ihrer Milch. Sie hat die beiden kaum angeschaut, wahrscheinlich, weil Johnny hier oben rumlungerte und sie nicht wollte, dass er mitbekam, wie sie nett zu Cook war. Aber die beiden haben sie angeschaut, Cook und der Krüppel, und über sie geredet haben sie auch.“

„Woher wollen Sie das denn so genau wissen?“, fragte Nell.

„Weil ich ein paar Mal an ihrem Tisch vorbeigelaufen bin, daher. Ich hab gehört, wie Cook gesagt hat: ‚Sie heißt Mary Molloy‘, und dass sie älter wäre als sie aussieht und ‚wirklich eine ganz Nette‘ sei. Später, als ich dann noch mal vorbeilief, sagte der Krüppel, wie schön sie doch wäre und dass er sie unbedingt haben wolle – womit mal wieder bewiesen wäre, dass solche halben Männer sich wirklich mit allem zufriedengeben, denn Mary hatte echt die winzigsten Titten, die ich jemals bei einer Frau gesehen hab.“

„Ist er mit ihr nach unten gegangen?“, fragte Will.

„Nich’ gleich. Cook hat Riley gefragt, ob es hier in der Nähe einen einigermaßen sauberen Laden gäbe, in dem man Austern bekommt, und dann sind sie abgezogen. Aber dann, ein paar Stunden später, kam Klock-klock-klock allein zurück, geht geradewegs an Marys Tisch, ziemlich wackelig auf den Beinen war er, und setzt sich zu ihr. Zehn Minuten später schlendert sie dann in den Keller runter, und er hinterher, mit seinem Holzbein.“

„Ist Johnny den beiden gefolgt?“, fragte Nell.

„Klar, so wie immer. Eine gute Viertelstunde später kommen er und der Krüppel wieder nach oben, Johnny schubst den Krüppel zur Tür hinaus, der Krüppel stößt Johnny zurück und brüllt, dass er sich das nicht gefallen lasse, dass er genau wisse, worauf Johnny es abgesehen hätte und so was. Als Johnny dann Finn geholt hat, um den Kerl rauszuwerfen, hat der sich noch mehr aufgeregt. ‚Das wird dir noch leidtun‘, schreit er rum. ‚Ich werd schon dafür sorgen, dass dir das leidtut, sollst du sehen.‘ Solche Sachen. Als Johnny ihn raus auf die Straße geworfen hat, ist er gestürzt, wegen seinem Holzbein – und weil er so besoffen war, denk ich mal. Die Leute lachten und haben sich über ihn lustig gemacht.“

Nell schaute zu Will hinüber, der in nachdenklicher Haltung dasaß, die Arme verschränkt, eine Hand vor den Mund gelegt. Als er Nells Blick auffing, hob er fragend die Brauen.

Pru lachte vergnügt, als sie sich an besagten Abend erinnerte. „Er schrie: ‚Ich bring dich um, du Mistkerl, du bist ein toter Mann‘, aber Johnny und Finn haben nur gegrinst, haben sich die Hände abgeklopft und sind wieder reingegangen.“

„Haben Sie Constable Skinner von diesem Zwischenfall erzählt?“, fragte Will.

„Nee“, erwiderte Pru. „Ich hab’s versucht, aber er kam immer wieder auf Cook zurück. Ich denk mal, was anderes wollte der gar nicht hören.“

Natürlich nicht, hatte er sich doch von Anfang an darauf eingeschossen, Colin Cook für den Mord an Johnny Cassidy zu verhaften.

„Dürfte ich Sie mal was fragen, Pru?“, meinte Nell.

Pru blies ihr einen nach Gin riechenden Rauchstrahl ins Gesicht und schürzte die rot geschminkten Lippen zu einem Lächeln.

„Wir haben in einer Wand der Wohnung ein kleines Loch entdeckt“, sagte Nell, „zwischen dem Zimmer und dem Kohlenkeller.“

„Tja, das ist ein altes Haus hier, ziemlich heruntergekommen.“ Pru trank in einem Schluck aus, was noch in ihrem Glas war, woraufhin Will sogleich dem Serviermädchen bedeutete, Nachschub zu bringen. „Das fällt hier alles so langsam in sich zusammen, besonders im Keller. Aber wenn Sie was Schönes, Schickes wollen, mit geblümter Tapete und orientalischen Teppichen, dann werden Sie einiges mehr zahlen müssen, als Mutter verlangt.“

„So ein Loch ist es nicht“, sagte Nell. „Jemand hat es absichtlich in die Wand gemacht, damit man vom Kohlenkeller aus in die Wohnung schauen kann.“

„Da hol mich doch der Teufel“, schnaubte Pru und lachte hell auf. „Ein Guckloch! Also in manchen Läden haben sie so was tatsächlich, in manchen Läden kriegt ein Mann ja alles, wenn er nur dafür bezahlt. Es gibt Typen, die andern Typen gern dabei zuschauen, wie sie’s mit den Mädchen treiben. Ja, manche wollen gar nichts anderes, nur gucken.“ Verächtlich spuckte sie einen Tabakkrümel auf den Boden. „Na ja, is’ ja ihr Geld.“

Kaum dass die frischen Getränke gebracht wurden und Will die Gläser vertauscht hatte, machte Pru sich daran, ihres zu leeren. „Hach, das haut gut rein, Tommy“, seufzte sie und ließ sich in ihren Stuhl sinken. „Weißte was? Du bist ein richtig netter Kerl.“

„Sie wussten also nichts von dem Loch dort unten?“, hakte Nell nach.

„Bis jetzt nich’. Und wenn ich raten müsste, wer’s war, dann würd’ ich Johnny sagen. Der wusste schon, wie er an Geld kommt. Aber nachdem Mutter die Tür zum Kohlenkeller hat zuschließen lassen, hätte er natürlich jedes Mal den Schlüssel von ihr holen müssen, wenn jemand gucken …“ Pru hatte gerade die Zigarette an die Lippen gehoben, ließ sie nun aber langsam wieder sinken. „Ach, deshalb hat Mutter das Schloss anbringen lassen!“

Nell und Will sahen sich verwundert an. „Wie, deshalb?“, fragte Will.

„Na, wegen Denny.“ Pru setzte sich auf und stützte die Ellenbogen auf den Tisch, das Glas in einer Hand, ihre Zigarette in der anderen. „Vor etwa einem Jahr oder so ist Denny nämlich dabei erwischt worden, wie er Mary nachspioniert hat.“

„Moment. Nachspioniert?“, wiederholte Nell fragend.

„Na, er hat gespannt, hat heimlich in ihr Zimmer geschaut. Wollte sie wahrscheinlich mal ohne ihr Schulmädchenkleid sehen. Seit er im Stimmbruch ist, schmachtet er sie an. Ich dachte mir schon, dass er vielleicht heimlich durch’s Fenster guckt, oder durch die Tür, wenn sie mal einen Spalt offen stand. Aber jetzt wo Sie’s sagen – klar, er hat durch das Guckloch im Kohlenkeller geguckt! Damals war der ja noch nich’ abgeschlossen. Aber die werden sich schon gedacht haben, dass es nicht das erste Mal war, dass er …“

„Und ‚die‘ meint wen?“, fragte Will.

Pru zuckte mit den Schultern und zog an ihrer Zigarette. „Johnny, Mutter, Riley … Ich hab nur gehört, dass Denny Mary heimlich beobachtet hatte, als Johnny reinkam und ihr mal wieder eine verpassen wollte. Und da stürmt Denny ins Zimmer wie der rettende Ritter auf seinem weißen Hengst. Irgendwie schafft diese halbe Portion es sogar, Johnny von Mary loszureißen. War vielleicht auch nich’ so schwer, da Johnny mal wieder sturzbesoffen war. Mary rennt weg, Denny auch, und Johnny klappt bewusstlos zusammen, weil er so dicht war. Aber am nächsten Tag dürfte Mutter sich wohl gedacht haben, dass man Denny endlich mal ’ne Lektion erteilen müsste, und da hat sie Finn auf ihn gehetzt.“

„Auf ihn gehetzt?“, wiederholte Nell, da sie nicht sicher war, ob sie das wirklich richtig verstanden hatte.

„Denny hat totalen Schiss vor Finn. Hat hier eigentlich jeder.“

„Ja, aber Johnny war …“, wandte Nell ein. „Also, wenn es bei dieser Geschichte überhaupt ein Opfer gegeben hat, dann doch Mary, und folglich müsste es doch eigentlich Johnny sein, der sich rächt, oder?“

Pru lachte. „Tja, Finn ist aber Johnnys Bruder, und eine ganze Nummer stattlicher als Johnny. Er ist größer und stärker als alle andern, und vor ein paar Jahren …“ Pru lächelte und sah abwechselnd zu Nell und Will, als habe sie ihnen ein ganz besonders pikantes Geheimnis mitzuteilen. „Da hat er einen seiner Gegner im Ring umgebracht.“

„Während eines Boxkampfes?“, fragte Will. „Ihn umgebracht?“

„Mausetot. Sieben ordentliche Schläge auf den Kopf – zack, zack, zack, gleich in der ersten Runde“, sagte Pru stolz. „Und ein paar Mal wär’s auch fast so weit gewesen, weil er nämlich auch dann nich’ aufhört, wenn sie schon längst am Boden liegen, so sehr steigert er sich da rein. Ein Typ, den Finn mal in den Kopf getreten hat, ist schwachsinnig geworden, als er wieder zu Bewusstsein kam. Hat sich nie wieder erholt, den mussten sie ins Irrenhaus stecken. Also, wie schon gesagt, wenn er Finn nur sieht, fängt Denny an zu zittern wie Espenlaub. Kleiner Schisser.“

Nell stockte der Atem, und sie hörte, dass es Will nicht anders erging.

„Ich war dabei, als Finn sich Denny geschnappt hat“, erzählte Pru ungerührt weiter und schnippte Zigarettenasche auf den Boden. „Dieses Weichei hat sich doch glatt in die Hose gemacht. Im Ernst, man konnte sehen, wie da vorne an seiner Hose so ein dunkler Fleck immer größer wurde. Ich hab mich schlapp gelacht – dieser kleine Pisser!“

Nell sah kurz zu Will hinüber. Er hatte sein Kinn auf eine Weise gereckt, die ihr verriet, dass er mit seinem Zorn nur mühsam an sich halten konnte. Sein Gesicht wirkte wie versteinert.

„Na ja, egal“, fuhr Pru fort und hob ihr Ginglas. „Finn hat ihm eins auf die Nase gegeben und eins in den Bauch, und als Denny am Boden lag, ist er ihm noch kräftig auf die Hand getreten. Also, wenn Sie mich fragen, hat er sich da echt zurückgehalten. Mutter hat zu Denny gesagt, wenn sie ihn noch einmal dabei erwischen würd, wie er Mary hinterherspannt, würde sie ihn nach Deer Island schicken. Wahrscheinlich hat sie das Schloss extra deswegen an der Tür anbringen lassen, damit er nich’ wieder in Versuchung kommt, könnt’ ich mir vorstellen. Nett von ihr, eigentlich.“

Pru ließ den Zigarettenstummel zu Boden fallen und trat ihn mit dem Absatz aus.

„Was glaubst du – hat Denny das Loch in die Wand gemacht, oder hat er es dort bereits vorgefunden?“, fragte Will Nell. „Er hat uns zwar gesagt, dass es schon da gewesen wäre, als er im Nabby’s angefangen hat, aber das muss ja nicht der Wahrheit entsprochen haben.“

„Ich frage mich eigentlich eher“, erwiderte Nell, „warum Mutter die Tür, nicht aber das Guckloch hat verschließen lassen. Mal ganz abgesehen davon, ob Denny es gemacht oder nur zufällig entdeckt hat, scheint es doch einen Grund zu geben, das Loch dort in der Wand zu belassen – nur jetzt hinter Schloss und Riegel.“

„Ein Grund, der ganz gewiss nichts mit Denny zu tun hat“, stellte Will fest. „Jemand wollte das Guckloch für seine eigenen Zwecke nutzen.“

„Johnny“, sagte Pru, als ob das doch offensichtlich wäre. „Damit er bei denen abkassieren konnte, die heimlich zugucken wollten, wenn Mary mit ihren schnöseligen Freiern zugange war.“

„Oder damit er selbst heimlich zugucken konnte“, meinte Nell.

„Was für ein Mann war Johnny?“, wollte Will von Pru wissen.

„Lausiger Boxer“, sagte sie und kippte ihren Gin hinunter. „Er ist längst nicht so oft in den Ring geschickt worden wie Finn, weil er einfach nicht genug Zuschauer anlockte. Finn ist es, den alle sehen wollen. Er boxt an zwei Abenden die Woche – am Dienstag und am Samstag. Da wird auf der Tanzfläche der Ring aufgeschlagen. Kostet nur vier Dollar Einsatz, aber wenn genug Schnösel kommen, werden mit den Wetten Hunderte, manchmal auch Tausende verdient.“

„Und die beiden arbeiteten auch als Rausschmeißer?“, fragte Will.

„Sie waren Mutters einzige Rausschmeißer“, betonte Pru, deren Augen schon leicht glasig waren, während ihre Worte immer verwaschener klangen. „Finn steht nur an den Abenden an der Tür, wo er nich’ boxt, also hat Johnny am Dienstag und Samstag seinen Job gemacht. Finn verdient sich mit dem Rausschmeißen seine Miete und mit dem Boxen den Rest, was er eben so zum Leben braucht, Johnny verdiente sich einfach so was nebenher, wenn er nich’ gerade andere Jobs für Mutter erledigte.“

„Zum Beispiel?“, fragte Will.

„Och, ich weiß, dass er sich um die Wetten gekümmert hat. Gar nicht so einfach ist das, weil die Hälfte der Boxkämpfe vorher abgesprochen sind.“ Sie schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund. „Das hätt’ ich jetzt nich’ erzählen sollen, also sagen Sie Mutter bloß nich’, dass ich was ausgeplaudert habe.“

„Versprochen“, meinte Will.

„Na ja, und diese Opiumhöhle da unten“, fuhr Pru fort. „Johnny hat das Zeug besorgt und sich drum gekümmert, dass die Raucher alles haben, was sie brauchen, ihre Pfeifen und was weiß ich. Und natürlich hat er auch die Bullen bestochen, damit sie ein Auge zudrücken. Ansonsten hat er noch Jobs erledigt, die nix mit diesem Laden hier zu tun haben. Mutter hat im Viertel nämlich einige Sachen am Laufen.“

„Was für Sachen?“, fragte Will nach.

„Keine Ahnung.“ Ihr Kopf kippte leicht nach vorn, als sie sich den Finger an die Lippen hielt. „Pssst, streng geheim! Ich weiß auch nur, dass sie sich etliche Handlanger hält, die nach ihrer Pfeife tanzen, aber was die tatsächlich machen, weiß niemand so genau. Johnny war Mittelsmann zwischen Mutter und diesen Typen. Kurz gesagt – er hat dafür gesorgt, dass getan wurde, was Mutter wollte. Und wie ich so gehört hab, soll er damit ganz ordentlich verdient haben.“

„Zudem alles, was Mary ihm einbrachte“, sagte Nell. „Sie meinten doch, er habe alles für sich behalten, oder?“

„Ja, klar. Alles, was die Freier für sie gezahlt haben. Und die, die nur zuschauen wollten.“

„Wenn Johnny so viel verdient hat“, meinte Nell, „warum lebte er dann dort unten, in diesem … diesem Loch?“

Nachdem sie Nell und Will bedeutet hatte, sich zu ihr vorzubeugen, vertraute Pru ihnen mit schwerer Zunge und Ginfahne an: „Finn hat mir erzählt, dass Johnny sparte, weil er ein paar Häuser weiter seinen eigenen Laden aufmachen wollte – so ’nen Saloon wie der hier, aber größer und schicker. Meinte, er würde Mutter zeigen, wo’s langgeht … ihr die Kundschaft klauen und die Alte pleitegehen lassen. Dreist, was?“ Sie kicherte.

„Ich nehme nicht an, dass Mutter darüber erfreut gewesen wäre“, bemerkte Nell.

„Wie hätte sie’s denn rausfinden sollen, wenn Johnny und Finn ihr nix davon erzählen?“, entgegnete Pru in einem Ton, als halte sie Nell für ziemlich begriffsstutzig. „Und die beiden sind die Einzigen, die davon wissen … wussten. Ach, Sie wissen schon, was ich meine.“

„Aber Sie wissen doch auch davon“, stellte Nell fest.

„Ja, weil Finn besoffen war, da hat er es uns halt gesagt. Sonst würd’ der kein Wort …“

„Uns?“, fragte Nell.

„Mir und Ivy und Fanny. Da waren wir nach Feierabend noch bei Finn im Hühnerstall, um ’nen bisschen zu feiern.“

„Zu feiern?“, wiederholte Nell verwundert. „Sie drei und …?“ Kaum hatte sie es gesagt, begriff auch sie.

Nun war es Will, der sie anschaute, als wäre sie etwas schwer von Begriff. Mit einem Lächeln, für das sie ihm am liebsten kräftig auf den Fuß getreten hätte, meinte er: „Ich erkläre es dir später.“

„So betrunken hab ich Finn noch nie erlebt“, erzählte Pru. „Sonst hätt’ der nix gesagt. Aber er meinte, es sei ein Geheimnis, und wir mussten versprechen, den Mund zu halten. Wenn nicht, hat er gemeint, würde er schon dafür sorgen, dass wir keinen Mucks mehr sagen.“ Grinsend schüttelte sie den Kopf, als wolle sie sagen: Männer!

„Aber jetzt erzählen Sie es trotzdem uns“, stellte Will fest.

Wer weiß, wem die drei Huren das Geheimnis schon anvertraut hatten, dachte Nell, und wem diese Leute es wiederum weitererzählt hatten. Ein einmal ausgeplaudertes Geheimnis spann sich so rasch weiter wie ein Spinnennetz.

Pru schaute Will so unverwandt an, als wolle sie ihm ein Horn auf der Stirn wachsen lassen. Doch ihr sichtlicher Verdruss darüber, ein so brisantes Geheimnis ausgeplaudert zu haben, schwand rasch dahin. Mit einer wegwerfenden Handbewegung meinte sie: „Finn ist das egal. Johnny ist tot. Wozu jetzt noch ein Geheimnis draus machen?“ Sie hob ihr Glas, stellte fest, dass es leer war, und hielt es Will schmollend unter die Nase.

Will winkte eines der Serviermädchen herbei. Seine Gläser standen noch immer unberührt vor ihm.

„Du bist mein Prinz, Tommy“, säuselte Pru. „Sagt mal, ihr beiden … ihr seid nich’, du weißt schon … zusammen, oder?“

„Ähm, nein“, erwiderte Nell.

Pru beugte sich zu Will vor und flüsterte mit rauer Stimme: „Wie wär’s dann, wenn ich dich mit nach unten nehme und mich für die köstlichen Drinks bedanke?“

Mit einem entschuldigenden Lächeln hob Will ihre Hand, küsste sie galant und schüttelte bedauernd den Kopf. „Tut mir leid“, meinte er, „aber das geht leider nicht.“

„Ach nee“, rief Pru und setzte sich auf. „Du bist aber kein warmer Bruder, oder?“

„Doch, Pru, ich bin ein warmer Bruder“, erwiderte Will todernst. „Wie könnte ich deinen Reizen sonst widerstehen?“

„Gib mir wenigstens eine Chance“, lockte sie ihn. „Nach einer Nacht mit mir wirst du Frauen mit ganz anderen Augen sehen, ehrlich.“

„Das glaube ich gern.“

„Das sieht nicht gut aus für Cook“, meinte Will, als sie wenig später Arm in Arm das Nabby’s verließen. Es war ein Uhr morgens, und mittlerweile wehte glücklicherweise eine kühle Brise vom Hafen her. Die North Street lag zwar keineswegs verlassen da, doch hatte das bunte Treiben zu dieser Stunde schon etwas nachgelassen, sodass es weit weniger laut und geschäftig zuging.

„Es könnte aber noch schlimmer sein“, entgegnete Nell.

„Man hat ihn mit seinem Revolver in der Hand über einen Mann gebeugt gesehen, der eben erschossen worden war.“

„Du solltest doch eigentlich aus eigener Erfahrung wissen“, wandte Nell ein, „dass auf vermeintlich frischer Tat ertappt zu werden keineswegs ein Beweis für des Ertappten Schuldigkeit sein muss.“

„Aber es verleitet doch stark zu der Annahme seiner Schuldigkeit – ebenso wie seine Beziehung zu Mary Molloy, wenn ich das mal bemerken darf. Sollte Cook gefasst und ihm wegen dieser Sache der Prozess gemacht werden, sieht es nicht gut für ihn aus.“

„Und was ist mit Shute?“, fragte sie.

„Was soll mit ihm sein?“

„Er hat uns angelogen oder uns zumindest nicht die ganze Wahrheit gesagt. Er war nach jenem Besuch mit Cook nicht nur ein zweites Mal im Nabby’s, sondern wurde auch von ebenjenem Mann hochkant hinausgeworfen, der am darauf folgenden Abend erschossen worden ist – und dem Shute vor wer weiß wie vielen Zeugen gedroht hat, ihn umzubringen.“

„Vielleicht“, gab Will zu bedenken, „hat er uns nichts davon erzählt, weil es ihm peinlich war. Beschämend genug, wenn einem so etwas widerfährt. Kann doch sein, dass er es einfach nur vergessen und nie wieder davon sprechen wollte.“

„Was meinst du, weshalb Johnny ihn rausgeworfen hat? Er macht doch eigentlich einen sehr passablen Eindruck – kultiviert, umgänglich …“

„Das mache ich auch – meistens“, sagte Will und warf ihr ein verschmitztes Lächeln zu. „Du siehst also, meine liebe Cornelia, der erste Eindruck kann durchaus trügen.“

„Meinst du, dass wir uns in Denny täuschen?“

„Willst du damit sagen, dass er, nur weil er ein kleiner Spanner ist, zu einem Mörder, Plünderer und Vergewaltiger heranwachsen wird? Nein, das glaube ich nicht.“

Als Will die Hand hob und laut pfiff, bemerkte auch Nell die Kutschenlampen, die ein Stück vor ihnen aufschienen und langsam näher kamen. Die Mietdroschke fuhr seitlich ran und hielt an.

„Schönen Abend, Ma’am“, grüßte der Fahrer und tippte sich kurz an die Krempe seines Hutes. „Sir. Wo kann ich Sie beide heute Abend noch hinfahren?“

„In die Tremont Street, zur Nummer 148“, sagte Will, als er Nell in die recht schäbige schwarze Kutsche half.

„Denny Delaney ist ein guter, anständiger Junge. Er hat nur die für sein Alter ganz normale Neugierde hinsichtlich des schönen Geschlechts“, befand Will, als er sich neben Nell in das brüchige Lederpolster sinken ließ. „Ob er Unrecht daran getan hat, Mary ohne deren Wissen zu beobachten? Zweifelsohne. Aber Jungen in dem Alter sind nicht unbedingt für ihr moralisch einwandfreies Tun bekannt, insbesondere was Frauen anbelangt. Ich wage zu behaupten, dass ich mir damals weitaus mehr zuschulden habe kommen lassen. Wenn du nur die Hälfte davon wüsstest, wolltest du nichts mehr mit mir zu tun haben.“

„Das bezweifle ich doch sehr.“ Lächelnd sah sie ihn an, und im Schein einer Straßenlaterne sah sie, wie er ihr Lächeln erwiderte, wie es über sein Gesicht huschte und in seinen Augen funkelte. Er hatte ein markantes, ausdrucksvolles Gesicht, das nicht nur gut, sondern ganz prächtig altern würde. Angesichts seiner unsteten Lebensweise und ihrer beider seltsamer, ungeklärter Beziehung fragte sie sich indes, ob sie wohl noch Verbindung zu ihm hätte, wenn seine Schläfen einst ergraut, seine Augen von Falten umkränzt wären.

Der Gedanke daran, dass dem vielleicht nicht so wäre, ließ sie sich leer und verzweifelt fühlen.

„Aber eins weiß ich mit Sicherheit“, sagte Will nun. „Kein Junge in dem Alter verdient es, von einem Rabauken wie Finn Cassidy für ein solches Vergehen derart vermöbelt zu werden. Und allem Anschein nach haben sie danach nicht mal einen Arzt hinzugezogen. Die gebrochene Nase, nun ja, die ist nicht gar so schlimm. Verleiht ihm ein gewisses draufgängerisches Aussehen, das ihm bei den Frauen bestimmt mal zugutekommt – zumal, da er mir eher ein Bücherwurm zu sein scheint. Aber seine Hand wird er niemals mehr uneingeschränkt benutzen können. Damit muss er für den Rest seines Lebens zurechtkommen.“

„Und nun?“, fragte Nell. „Was sollen wir als Nächstes tun?“

„Ich denke, dass jetzt erst mal eine kleine Unterredung mit Brian O’Donagh ansteht. Wir sollten morgen mal in dem Pub vorbeischauen, wo er sein Hauptquartier aufgeschlagen hat. The Blue … was war es noch mal?“

„Fiddle“, sagte Nell. „The Blue Fiddle. Richmond Street, Ecke Salem.“

„Und ansonsten sollten wir mit dem weitermachen, was wir schon die ganze Zeit tun, oder es zumindest versuchen – nämlich beweisen, dass Colin Cook Johnny Cassidy nicht umgebracht hat. Leicht wird es nicht werden, da drei Zeugen beschwören können, ihn am Tatort gesehen zu haben. Der Umstand, dass zwei von ihnen zu besagter Zeit im Opiumrausch waren, sollte ihre Aussage eigentlich in Zweifel ziehen, aber wenn es, wie erwähnt, ‚reiche Schnösel‘ sind, was ich durchaus für nicht unwahrscheinlich halte, wird man ihnen dennoch Glauben schenken. Ich wünschte, wir wüssten, wer die beiden waren – dann könnten wir nämlich auch herausfinden, was genau sie Skinner erzählt haben und wie sehr ihre Aussage Cook schaden könnte.“

„Ich weiß, wie sie heißen“, sagte Nell und lächelte sichtlich zufrieden mit sich.

Will drehte sich erstaunt zu ihr um. Sein ungläubiger Blick erfüllte sie mit tiefer Genugtuung. „Und das weißt du, weil …?“

„Nachdem du an die Bar gegangen warst, um Riley die Miete zu zahlen und dann die reizende Pru zu bezirzen, musste Mutter Nabby mal für kleine Mädchen. Ich habe sie zum WC gebracht, was gar nicht so einfach war, wie du dir vorstellen kannst. Sollte dir übrigens mal auffallen, dass ich einige hundert Pfund an Gewicht zulege, so reiße mir bitte umgehend die Gabel aus der Hand.“

„Ich glaube, das erste Warnsignal dürfte sein, wenn du zum Essen nicht einmal mehr eine Gabel nimmst.“

„Als ich ihr also zur Toilette half“, fuhr Nell fort, „stibitzte ich mir das kleine Büchlein, das sie in ihrer Schürzentasche bei sich trägt und in dem sie ordentlich vermerkt, wer von den ‚reichen Schnöseln‘ bei ihr anschreiben lässt.“

„Einmal lange Finger, immer lange Finger“, meinte Will lachend, zog sie an sich und küsste sie auf die Stirn. „Ich liebe dich, Nell.“

Für einen kurzen Augenblick schien alles innezuhalten – die Welt schien stehen zu bleiben, alle Geräusche und Empfindungen waren ausgeblendet, selbst Nells Herzschlag setzte einen Moment aus. Nachdem sie sich wieder etwas gefasst hatte, sagte sie: „Ähm, ja … also, während sie auf der Toilette war, schaute ich in dem Buch nach, ob es Einträge gab, die auf den 5. Juli datiert waren – den Abend des Mordes. Ich fand die Namen der beiden Männer sowie eine ordentliche Auflistung aller Posten, die ihnen in Rechnung gestellt wurden – natürlich das Opium, aber auch die Nutzung der Pfeifen, Lampen, Spindeln und Kissen.“

„Sie stellt sogar die Kissen in Rechnung?“

„So ist es.“

„Habgierige Hexe.“

„Vierzehn Dollar das Stück“, sagte Nell.

„Halsabschneiderei.“

„Die Männer, mit denen wir uns mal unterhalten sollten, heißen Lawrence Pinch und Ezra Chapman.“

„Hmmm. Die Namen klingen irgendwie bekannt …“, meinte Will.

„Es sind Freunde deines Bruders“, half Nell ihm auf die Sprünge.

„Harry“, sagte Will finster. Er senkte den Kopf, rieb sich die Nasenwurzel und brummelte etwas, von dem Nell wusste, dass es nicht für ihre Ohren bestimmt war. „Harrys Freunde, ja. Nun ja. Gut – oder vielmehr gar nicht gut, denn Harry hat vorzugsweise nur solche Freunde, die ihm sehr ähnlich sind. Leider.“

„Dennoch sollten wir mit Pinch und Chapman reden“, meinte Nell. „Jetzt müssen wir sie nur noch finden. Hast du irgendeine Idee, wie wir das am besten anstellen?“

„Harrys Freunde pflegen seit jeher im Somerset Club zu lunchen.“

„Welcher jedoch nur Mitgliedern offen steht.“

„Ich bin ein Hewitt“, ließ Will sich nonchalant vernehmen. „Uns stehen in Boston alle Türen offen. Morgen werde ich zur Mittagszeit mal im Somerset Club vorbeischauen und hoffen, dass Pinch und Chapman nicht noch im Bett liegen und sich den Rausch vom Vorabend ausschlafen.“

„Soweit ich weiß, steht der Club aber nur Gentlemen offen“, sagte Nell. „Ich nehme nicht an, dass sie jemals eine Ausnahme …“

„Nicht einmal Queen Victoria höchstpersönlich würde da einen Fuß über die Schwelle bekommen“, meinte Will. „Tut mir leid, Nell. Aber ich werde versuchen, auch allein mein Bestes zu geben – wenngleich mir deine unterhaltsame Gesellschaft mehr fehlen wird, als ich es je in Worten auszudrücken vermöchte.“