12. KAPITEL
„Ob so früh überhaupt schon geöffnet ist?“, fragte Nell am nächsten Morgen, als Will an die Tür des Pubs in der Richmond Street klopfte, in dem Brian O’Donagh sein Hauptquartier aufgeschlagen haben sollte. Mit Blick auf ihre goldene Medaillonuhr, die sie an einer Kette um den Hals trug, meinte sie: „Es ist noch nicht mal zehn.“
An dem Pub hätte man gut und gerne vorbeilaufen können, ohne dass es einem weiter aufgefallen wäre, so klein und unscheinbar wirkte das Haus von außen. Die Tür war aus schwerem Eichenholz, und zu beiden Seiten war je ein Fenster, vor das dichte Vorhänge gezogen waren. Der einzige Hinweis darauf, dass es sich um das Blue Fiddle handelte, war ein blau und golden bemaltes Schild in Form einer kleinen Fiedel, das neben der Tür hing.
„Wir sind hier im North End, wo die meisten Schenken rund um die Uhr geöffnet sind“, sagte Will. „Aber wenn nicht, suchen wir uns eben noch eine Kaffeestube und kommen später zurück …“ Lauschend neigte er den Kopf. „Ah, da kommt jemand.“
Das leise Knirschen eines Schlüssels war zu vernehmen, der im Schloss herumgedreht wurde, dann wurde ihnen die Tür von einem jungen rothaarigen Mann in Hemdsärmeln und Schürze einen schmalen Spaltbreit aufgemacht. „Tut mir leid, ist noch zu“, sagte er in einem sehr breiten irischen Tonfall und wedelte energisch mit der Flaschenbürste, die er in der Hand hielt. „Gegen Mittag können Sie wiederkommen.“
„Wir wollten eigentlich nur Mr. O’Donagh sprechen.“ Will reichte ihm seine Karte. „Miss Cornelia Sweeney und Dr. William Hewitt.“
Der junge Mann, seiner Aufmachung nach zu urteilen wohl der Barkeeper, musterte sie flüchtig, wobei ihm Wills schwarzer Frack und Zylinder sowie Nells taubengraues Seidenkleid und die Uhrkette kaum entgehen dürften. Nell war froh, endlich wieder ihre normale Garderobe tragen zu können. „Erwartet Mr. O’Donagh Sie denn?“, fragte er.
„Nein“, erwiderte Will, „aber es handelt sich um eine sehr wichtige Angelegenheit.“
„Tut mir leid“, beschied der Barkeeper, trat einen Schritt zurück und wollte die Tür schließen. „Er ist beschäftigt.“
Nell drückte die Hand gegen die Tür, damit er sie nicht zumachen konnte. „Sagen Sie ihm, es geht um einen alten Freund von ihm – Colin Cook. Bitte. Wenn Sie ihm das sagen, wird er bestimmt mit uns sprechen wollen.“
Der junge Mann zögerte einen Augenblick, schloss dann indes die Tür und drehte den Schlüssel wieder um. Nell und Will hörten, wie seine Schritte sich drinnen entfernten. Dann war es still, und sie warteten. Ein Eiskarren rumpelte auf der Straße vorbei, kurz darauf ein weiterer Karren mit Bierfässern, der einen der Saloons ansteuerte. An der Straßenecke priesen eine Zeitungsjunge und eine Fischverkäuferin lauthals ihre Waren an.
Gerade als Will ein weiteres Mal an die Tür klopfen wollte, wurde sie erneut geöffnet. „Hier lang“, sagte der Barkeeper knapp, als er ihnen bedeutete reinzukommen. Sie folgten ihm in den hinteren Teil des Pubs, eines langen schmalen Raumes, der sehr gemütlich wirkte und von einigen Hängelampen über der Bar mit warmem Licht erhellt wurde. Nell sog den ihr aus alter Zeit vertrauten Geruch von Tabak, gebratenem Speck und Leinöl in sich auf.
Hinter der Bar tat sich eine karge Diele auf, an deren Ende sich eine geschlossene Tür befand. Neben der Tür saß ein stämmiger blonder Bursche, der Zeitung las und auf einem kleinen Tisch neben sich eine Tasse Kaffee stehen hatte. Ein Wikinger, der in der großen, fremden Stadt gestrandet ist, dachte Nell ein wenig belustigt. Als sie näher kamen, stand er auf, wobei sein Kopf fast an die Decke stieß, und unterzog Nell und Will dem routiniert prüfenden Blick eines Polizisten – oder eines Leibwächters. Am Kragen seines Rocks hatte er ein kleines goldenes, grün emailliertes Abzeichen, auf dem ein Kleeblatt zu sehen war, über dem zwei Schwerter sich kreuzten, darunter ein schmales Band, auf dem F.O.S.E. stand, Fraternal Order of the Sons of Eire. An der Seite wölbte sich sein Rock aus derbem Wollstoff verräterisch nach außen – Nell vermutete gewiss ganz richtig, dass er dort sein Pistolenhalfter samt Waffe trug.
„Das sind die beiden, Cormac“, teilte der Barkeeper ihm mit und verschwand dann wieder.
„Na, dann ziehen Sie mal Ihren Rock aus“, sagte Cormac zu Will. Sein irischer Akzent war gar noch stärker als der des jungen Barkeepers.
Die Aufforderung überraschte Nell, ja brüskierte sie fast, aber Will kam ihr mit einer solchen Selbstverständlichkeit nach, als hätte er damit gerechnet. Er nahm seinen Hut ab, zeigte Cormac, dass sich nichts darin befand, legte ihn auf dem Tisch ab, entledigte sich seines Rocks und reichte ihn O’Donaghs Leibwächter zur Begutachtung. Ohne nun noch extra dazu aufgefordert werden zu müssen, drehte er sich um, um zu zeigen, dass sich auch an seiner Kehrseite keine Waffen verbargen, stellte nacheinander die Füße auf den Stuhl und lüftete seine Hosenbeine. Cormac klopfte ihn von oben bis unten ab, gab ihm seinen Rock zurück und wandte sich Nell zu.
„Er wird dein Retikül durchsuchen wollen“, meinte Will und deutete auf ihre Gürteltasche, „und was du sonst noch an Taschen bei dir trägst.“ Zu dem Leibwächter sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete: „Und mehr bekommen Sie auch nicht zu sehen.“
Cormac schaute Will eine Sekunde prüfend in die Augen, maß ihn mit dem Blick eines Mannes, der versucht, die Kraft seines Gegners abzuschätzen. Will hielt seinem Blick ohne mit der Wimper zu zucken stand, das Kinn wieder auf jene kämpferische Weise gereckt, die Arme – welche überraschenderweise viel länger waren als die des großen und stämmigen Cormac und eine unvermutete Schlagkraft hatten – einsatzbereit gespannt an den Seiten.
Der Leibwächter nickte kurz und griff nach Nells kleinem bestickten Retikül, das sie stets an ihrem Gürtel bei sich trug, und kramte eine Weile darin herum, bevor er es ihr zurückgab. In ihrem weit ausladenden Rock verbarg sich noch eine weitere Tasche, deren Beutel Nell nun nach außen kehrte, um zu zeigen, dass sie leer war.
„Die Tür hier bleibt offen“, ließ Cormac sie wissen, als er leise anklopfte. „Ihre Besucher, Sir.“
„Bring sie rein“, antwortete eine tiefe Stimme mit einem weichen irischen Unterton.
O’Donaghs Leibwächter führte sie in einen dunklen, sehr männlich wirkenden Raum mit viel Leder und Mahagoni, der Nell an August Hewitts private Bibliothek im ersten Stock der Tremont Street erinnerte. An den Wänden reihten sich Bücherregale, auch der unverzichtbare Globus fehlte nicht, und an der hinteren Wand stand vor einem Fenster mit Damastvorhängen ein matt schimmernder, polierter Kontortisch. Der Stuhl davor war indes leer. Der Mann, dem ihr Besuch galt, saß stattdessen – gut gekleidet, bis auf die Serviette, die er sich in den Kragen gesteckt hatte – an einem Tisch mit Marmorplatte, auf dem noch die Reste seines Frühstücks standen: Eier, gebratener Speck, Scones, Erdbeermarmelade und Tee. Wie Colin Cook hatte er einen wuchtigen Schädel, und sein dunkles, grau meliertes Haar war ordentlich pomadisiert und glatt zurückgekämmt.
Sowie er Nell erblickte, erhob O’Donagh sich von seinem Stuhl, legte die Serviette beiseite und neigte seinen Kopf mit einem Lächeln. Angesichts der Prozedur, die sie eben über sich hatten ergehen lassen müssen, um Zugang zu seinem Refugium zu erhalten, überraschte Nell es sehr, wie freundlich er dabei wirkte. Sogleich fiel ihr die wahrlich imposante, bullige Statur des Mannes auf – wenngleich er nicht eigentlich korpulent war, dürfte er doch noch einmal um etliche Pfunde schwerer sein als Will. Er war grobknochig, und seine breiten Schultern spannten sich unter einem vorzüglich geschneiderten Rock, an dessen Kragen sich wie schon bei dem Leibwächter ein kleines, grün und goldenes Abzeichen der F.O.S.E. befand.
„Miss Sweeney, nicht wahr?“, sagte O’Donagh und wischte sich die Hände an der Serviette ab, bevor er Nell und Will bedeutete, sich zu ihm an den Tisch zu setzen. „Sie sind nicht zufällig mit Terence Sweeney aus der Oliver Street verwandt?“
„Nicht dass ich wüsste“, erwiderte Nell, während sie auf dem Stuhl Platz nahm, den Will ihr zurechtrückte. „Ursprünglich komme ich vom Cape Cod.“
„Aber da sind Sie bestimmt nicht geboren“, mutmaßte O’Donagh, als er sich wieder setzte und seine Rockschöße glatt strich.
Sie schüttelte den Kopf. „Geboren bin ich in Falcarragh in County Donegal. Aber dort habe ich nur ein Jahr gelebt, bevor …“
„Aha!“, rief er und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dass Geschirr und Silberbesteck nur so klirrten. „Wusste ich es doch. Ich merke es immer gleich, wenn eine Blume ihre Wurzeln in der alten Heimat hat. Da ist dieses betörende Funkeln in den Augen, diese rosige Morgenröte auf den Wangen … Wo auf Cape Cod?“
„Ähm … Falmouth – meistens zumindest.“
„Falmouth, Falmouth … Da gibt es doch einen Burschen namens …“ Er ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen und trommelte mit seinen Riesenfingern auf den Tisch. „Duncan. Duncan Sweeney. Einer meiner Geschäftspartner hat ihn vor einer Weile im Staatsgefängnis in Charlestown kennengelernt. Er kommt auch aus Falmouth. Sind Sie denn vielleicht mit ihm verwandt?“
Fassungslos schaute Nell O’Donagh an, der so rasch die Verbindung zu ihrem schon seit vielen Jahren von ihr getrennt lebenden Ehemann hergestellt hatte – einem Ehemann, der zugleich ihr bestgehütetes Geheimnis war. Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.
Glücklicherweise kam Will ihr zur Hilfe. „Miss Sweeney war noch recht jung, als sie Falmouth verlassen hat.“
Nun wandte O’Donagh sich Will zu und bedachte ihn mit einem kühlen, abschätzenden Lächeln. „Doktor …“ Er schob sich seine Brille auf die Nase, nahm Wills Karte zur Hand, die vor ihm auf dem Tisch lag, las sie und setzte die Brille wieder ab. „Hewitt. Von den Hewitts, nehme ich mal an.“
„Ganz genau.“
Der bullige Mann lehnte sich schwer in seinen Stuhl zurück und ließ seinen Blick auf ihnen ruhen. Sein Lächeln war starr, und er überlegte sich zweifellos, welcher Art die Beziehung zwischen der in Irland geborenen Miss Sweeney und dem Spross einer der ältesten und besten Familien Bostons wohl sein mochte.
„Ich arbeite als Gouvernante für die Hewitts“, klärte Nell ihn auf. „Dr. Hewitt und ich beschäftigen uns derzeit mit einem Fall, in den ein Mann verwickelt ist, der unseres Wissens ein alter Freund von Ihnen ist – Detective Colin Cook vom State Constabulary.“
„Cormac!“, rief O’Donagh.
Sogleich flog die Tür auf. „Ja, Sir.“
„Sag Paddy, er soll noch eine Kanne Tee und Scones für unsere Gäste bringen.“
„Wird sofort gemacht, Sir.“
„Kennen Sie Detective Cook?“, wollte O’Donagh von ihnen wissen.
„Er ist ein Freund von mir“, sagte Nell. „Vor drei Tagen gab es einen Mord in …“
„Ja, ich weiß“, sagte O’Donagh und winkte mit ungeduldiger Geste ab. „Johnny Cassidy. Und jetzt ist Colin mit Cassidys Mädchen verschwunden. Mary …“
„Molloy“, sagte Nell.
„Molloy.“ O’Donagh nickte. „Hier passiert eigentlich nichts, von dem ich nicht erfahren würde, Miss Sweeney. Zudem hatte ich natürlich auch sehr viel mit Johnny Cassidy persönlich zu tun, da er als Mittelsmann zwischen Mutter und ihren Geschäftspartnern fungiert. Dass er jetzt umgebracht wurde, interessiert mich schon allein deswegen.“
So beiläufig wie irgend möglich meinte Nell: „Dürfte ich Sie wohl nach der Art dieser Geschäftsbeziehungen fragen, Mr. O’Donagh?“
Der stattliche Mann lächelte sie nachsichtig an. „Ein hübsches Mädchen darf Dinge fragen, die andere nicht einmal wagen würden zu fragen, Miss Sweeney. Doch fürchte ich, dass ich Ihnen in dieser Angelegenheit keine Auskunft geben kann. Die Geschäfte der Bruderschaft sind zahlreich und komplex – und mehr noch, sie werden gern von Leuten missverstanden, die es für eine ganz simple Sache halten, die Interessen der Iren in Boston zu behaupten. Sagen wir einfach, dass Mutter und ich einige gemeinsame Geschäftsinteressen verfolgen, und Johnny sich um die Abwicklung gekümmert hat. Er übernahm die Laufarbeit für sie, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ An Will gewandt fragte er unvermittelt: „Haben Sie seinen Bruder schon mal im Ring gesehen?“
„Nein, bislang hatte ich noch keine Gelegenheit dazu. Aber ich habe mir sagen lassen, dass er sehr gut sein soll.“
„Stimmt. Ich würde niemals gegen ihn wetten, so viel ist gewiss.“
Paddy, der rothaarige Barkeeper, brachte ein Tablett mit Tee und frischen Scones und verschwand wieder.
„Damit habe ich nichts zu tun“, sagte O’Donagh, als er Nell und Will Tee eingoss und auch seine Tasse nachfüllte.
„Wie bitte?“, fragte Nell. „Womit?“
„Mit Johnnys Tod. Ich war’s nicht, und ich habe auch niemandem den Auftrag dazu erteilt.“ Er rührte einen Löffel Honig in seinen Tee und nahm sich eine Zitronenscheibe. „Nur damit wir uns von Anfang an richtig verstehen.“
„Natürlich. Das heißt also …“
„‚Beschäftigen uns derzeit mit einem Fall‘“, fiel O’Donagh ihr ins Wort, während er die Zitronenscheibe über seiner Tasse ausdrückte. „Was soll das denn überhaupt heißen? Wollen Sie etwa beweisen, dass Colin es nicht war?“
„Ja“, erwiderte Will.
„Und was glauben Sie, wer es war?“
„Das versuchen wir derzeit herauszufinden“, sagte Nell, „damit Detective Cook nicht für einen Mord gehängt wird, den er gar nicht begangen hat.“
„Ihre Freundschaft zu Cook geht auf die Zeit in Irland zurück, nicht wahr?“, fragte Will.
O’Donagh nickte. „Wir waren beide Anhänger der Young-Ireland-Bewegung, haben Seite an Seite gekämpft, und als es eng für uns wurde und man uns deportieren wollte, sind wir untergetaucht und haben uns gemeinsam nach Boston eingeschifft.“
„Wir wissen, dass Cook am Anfang eine Weile in Pennsylvania in den Kohlegruben gearbeitet hat, während Sie hier die Söhne Irlands gründeten, und dass er nach seiner Rückkehr nach Boston auch für Sie gearbeitet hat.“
„Er war meine rechte Hand und hat sich um alle möglichen Geschäfte der Bruderschaft gekümmert.“
„Die da wären?“, fragte Nell. Will warf ihr einen belustigten Blick zu, aber vielleicht war er auch ein wenig beeindruckt, dass sie so hartnäckig war.
O’Donaghs Lächeln fiel diesmal eine Spur schmaler aus und war weit weniger nachsichtig. „Ich sage es gern noch einmal, Miss Sweeney – die Geschäfte der Bruderschaft sind zahlreich und komplex.“
Sie nickte, lehnte sich zurück und wartete ab. Will wusste glücklicherweise, dass er gut daran tat, das zunehmend bedeutungsschwere Schweigen nicht zu durchbrechen.
O’Donagh lächelte wissend. „Diese Taktik haben Sie wohl von Colin gelernt, was? Er meinte immer: ‚Stell einfach eine bedeutsame Frage, und dann halte den Mund. Du ahnst ja gar nicht, was einem die Leute alles so erzählen, nur damit kein peinliches Schweigen entsteht‘. Tja, Miss Sweeney, ich bin aber nicht ‚die Leute‘, weshalb Sie lange warten können, wenn Sie mit dieser Strategie etwas aus mir rausbekommen wollen.“
„Dann lassen Sie mich Ihnen eine einfachere Frage stellen und sich gesagt sein, dass Ihre Antwort nicht aus diesem Raum hinausgelangen wird“, versuchte Nell es erneut. „Waren die Geschäfte, die Detective Cook für Sie erledigte, im Großen und Ganzen legal oder …?“
„Wenn Sie Colin kennen, dürften Sie die Antwort auf diese Frage wohl wissen. Ja, Miss Sweeney, sie waren im Großen und Ganzen legal – bettelnde Kinder von der Straße bekommen, den Männern Jobs auf der Werft besorgen, den Frauen Anstellungen als Hausmädchen und armen Witwen etwas zu essen. Dass er sich am Rande des Gesetzes bewegte, kam höchstens mal vor, wenn er einem uneinsichtigen Arbeitgeber oder Vermieter ein bisschen Dampf unter dem Hintern machte.“
„Möchten Sie uns dann vielleicht erzählen, warum er die Bruderschaft verlassen hat und zur Polizei gegangen ist?“, fragte sie weiter. Ich weiß, dass ihn anwiderte, welch unrühmliche Richtung sie eingeschlagen hatten, hatte Shute gesagt, die zunehmende Gewalt, das Schutzgeld.
„Wenn Sie mich fragen, so hatte das allein mit Chloe zu tun.“
„Seiner Frau?“, fragte Will.
„Damals war sie noch nicht seine Frau“, sagte O’Donagh. „Da war sie noch die Frau von Daniel Duffy.“
Nell und Will sahen sich an. „Daniel Duffy?“, fragte Nell.
„Danny war auch in der Bruderschaft, eines der Gründungsmitglieder, die zu meinem inneren Zirkel gehörten – meinem ‚Kabinett‘, wenn Sie so wollen. Messerscharfer Verstand und ein im Grunde herzensguter Kerl – wenn er nüchtern war. Leider hatte er eine recht innige Beziehung zum Alkohol, und der veränderte ihn sehr, ließ ihn unberechenbar werden.“
„Gewalttätig?“, fragte Will.
„Sehr gewalttätig.“ O’Donagh schüttelte den Kopf. „Na ja, lange Rede, kurzer Sinn: Eines Abends schaute Colin wegen einer Angelegenheit der Bruderschaft bei Danny zu Hause vorbei und traf ihn gerade dabei an, wie er Chloe verprügelte. Er wusste, dass es keineswegs das erste Mal war – wir alle hatten die Spuren seiner Gewalt an ihr gesehen –, aber an jenem Abend ist Danny völlig ausgerastet. Ich habe sie danach gesehen und … nun, es grenzt an ein Wunder, dass sie überlebt hat, mehr will ich dazu nicht sagen. Wahrscheinlich wäre es anders gekommen, wenn Colin Danny nicht kurzerhand eine Kugel in die Brust gejagt hätte.“
„Er hat ihn umgebracht?“, fragte Will ungläubig.
„Angeschossen, nicht umgebracht. Er hat das Herz knapp verfehlt. Colin meinte, er hätte nicht gewusst, wie er ihn sonst zur Besinnung hätte bringen können. Sobald Danny so weit genesen war, dass er reisen konnte, verfrachteten wir ihn auf einen Dampfer Richtung Westküste. Daraufhin konnte Chloe die Scheidung einreichen, da ihr Mann sie ja offensichtlich verlassen hatte. Das Ganze war ein juristischer Albtraum, zog sich über Jahre hin und kostete sie alles, was sie besaß, aber …“
„Jahre?“, fragte Nell entsetzt.
Will horchte auf und drehte sich zu ihr um.
„Aber ja doch“, sagte O’Donagh. „Scheidungen sind in diesem Land nicht so einfach zu haben – ein Thema, mit dem ich bestens vertraut bin. Im Laufe der Jahre wurde ich öfter mal gebeten, meine … Kontakte zu bestimmten Richtern spielen zu lassen, wenn eine Irin in dieser Stadt sich von ihrem Mann trennen wollte, der sie und die Kinder prügelte – oder, wie in einem Fall, seine Frau längst für eine andere verlassen hatte.“
„Waren diese irischen Frauen denn allesamt katholisch?“, wollte Nell wissen.
„Ihnen war schon bewusst, dass sie danach nie wieder kirchlich heiraten könnten“, sagte O’Donagh, „und dass sie fortan mit dem Stigma der Scheidung würden leben müssen, aber wenigstens hatten sie nun das Gesetz auf ihrer Seite und ganz offiziell das Recht, sich diese Bastarde vom Leib …“ Er warf Nell einen zerknirschten Blick zu. „Entschuldigen Sie.“
„Keine Ursache.“
„Sie hatten nun wenigstens das Recht, ihren einstigen Ehemännern das Haus zu verbieten. Aber es ist ein langer, zäher und meist auch qualvoller Prozess, vor einem Gericht in Massachusetts einen Scheidungsantrag durchzubringen. Zumindest, wenn man nicht gerade Lowell oder Abbot heißt und über viel Geld und Einfluss verfügt. Ansonsten ist es selbst dann ein schwieriges Unterfangen, wenn die Scheidung einvernehmlich ist, aber wenn dem nicht so ist, oder wenn eine der beiden beteiligten Parteien, insbesondere der Mann, gar nicht anwesend ist, um zu dem Antrag Stellung zu nehmen, ist es nahezu unmöglich. Nur eine jener Frauen, denen ich zu helfen versucht hatte, hat ihre Scheidung tatsächlich durchbekommen.“
„Verstehe“, sagte Nell ganz ruhig.
„Aber Chloe hatte Glück – und zudem ist sie eine kluge und entschlossene Dame. Als ihre Scheidung dann endlich durch war und Colin aus dem Krieg zurückkehrte, heiratete sie ihn. Meines Wissens hat sie zuvor ausdrücklich darauf bestanden, dass er mit dem Trinken aufhört, doch das kann man ihr wohl kaum verdenken.“
„Wohl kaum“, pflichtete Nell ihm bei, die an Duncans trunkene Tobsuchtsanfälle denken musste und an die Wundmale, die sie noch Tage danach getragen hatte.
„Nachdem wir Danny verschifft hatten, kam es zwischen Colin und der Bruderschaft zum Zerwürfnis. Er hatte auf einen der Unseren geschossen, und manche hatten da so ihre Zweifel, ob das wirklich unabwendbar gewesen war. Natürlich hatte man Danny Einhalt gebieten müssen – aber mit einer Pistolenkugel? Gerüchte kamen auf, dass Colin schon eine ganze Weile in Chloe verliebt gewesen wäre und nur auf eine Gelegenheit gewartet hätte, Danny aus dem Weg zu räumen. Aber das habe ich nie geglaubt. So war Colin nicht. Er gehörte immer zu denen, die tun was gut und rechtens ist. Wussten Sie eigentlich, dass er fast mal Priester geworden wäre?“
„Mrs. Cook hat es uns erzählt“, sagte Nell.
„War das der einzige Grund für Cooks Zerwürfnis mit der Bruderschaft?“, fragte Will. „Dass er auf Daniel Duffy geschossen hatte?“
„Ach, wissen Sie … Colin und ich waren uns eigentlich nie so ganz einig darüber, wie die Dinge am besten angegangen werden sollten“, meinte O’Donagh. „Ich bin ein eher pragmatischer Mensch. Ich tue, was getan werden muss. Und Colin, er ist ein Ehrenmann. Er tut, was er für richtig hält – und nur das. Es war absehbar, dass unsere Wege sich früher oder später trennen würden. Doch ich bin sehr froh darüber, dass wir nicht als Feinde auseinandergegangen sind.“
„Aber sind Sie denn als Freunde auseinandergegangen?“, fragte sie.
O’Donagh verschränkte die Hände über der Brust und seufzte. „Nein, Miss Sweeney, als Freunde kann man uns wohl kaum noch bezeichnen. Um die Wahrheit zu sagen – wenn wir einander auf der Straße begegnen, nicken wir uns kurz zu und gehen jeder rasch seines Weges. Ich weiß, was er heutzutage von mir und der Bruderschaft hält, und wie könnte ich vergessen, für wen er mittlerweile arbeitet, wo seine Loyalitäten jetzt liegen? Kaum vorstellbar, dass wir jemals wieder auf derselben Seite stehen oder für dieselbe Sache kämpfen werden. Aber als wir das noch getan haben, damals, in der alten Heimat …“ O’Donagh lächelte wehmütig, und sein Blick schweifte ab, als sehe er das ferne Land und jene längst vergangenen Zeiten vor sich. „Damals gab es auf Gottes grüner Erde keinen Menschen, den ich lieber an meiner Seite gewusst hätte als Colin Cook.“
„Warten Sie hier – ich bin in ein paar Minuten zurück und fahre dann weiter zum Somerset Club“, wies Will den Kutscher an, als er Nell in diskreter Entfernung vom Hause seiner Eltern aus der Mietdroschke half.
„Glaubst du wirklich, dass das nötig ist?“, fragte Nell ihn, als er ihren Arm nahm und sie nach Hause begleitete. „Es ist mitten am Tag, die Sonne scheint. Ich bezweifle sehr, dass Skinner und Konsorten mir zwischen hier und der Colonnade Row auflauern werden.“
„Ich bezweifle es auch“, erwiderte er, „aber ausschließen können wir es leider nicht. Und dann das Haus selbst – was, wenn heute morgen, während wir beide unterwegs waren, jemand eingebrochen ist, sich dort versteckt und nur darauf wartet, sich auf dich zu stürzen, sowie du arglos zurückkehrst?“
„Was glaubst du wohl, wie wahrscheinlich das ist?“, fragte sie herausfordernd.
„Und was glaubst du wohl, wie wahrscheinlich es ist, dass ich mich auf irgendetwas anderes als dein Wohlergehen konzentrieren könnte, bevor ich nicht erst das Haus gründlich durchsucht und mich vergewissert habe, dass dir dort keinerlei Gefahr droht?“
Nell folgte Will Schritt auf Tritt, als er eilends, aber gründlich jedes Zimmer inspizierte, jeden Schrank, jede Kammer, die Toiletten, Treppen, Alkoven, jede Nische und jeden Winkel. Dann ging er noch mal kurz in sein Zimmer, oder besser gesagt in Gracies Zimmer, um etwas Geld zu holen, mit dem er notfalls den Portier des Somerset Club bestechen könnte, falls sein ehrwürdiger Stammbaum allein ihm doch nicht alle Türen öffnen sollte.
Nell lehnte am Türrahmen und betrachtete Wills Abbild in dem riesigen goldgerahmten Spiegel, während er die Schnallen seiner krokodilledernen Arzttasche öffnete, in der er seine Spielgewinne verwahrte. Er sah geradezu unverschämt gut aus, mit seiner hochgewachsenen Gestalt, den dunklen, leidenschaftlichen Augen, dieser schlanken, maskulinen Anmut.
Am frühen Morgen, nachdem sie eine Weile wach gelegen und Wills schläfrigen Atemzügen gelauscht hatte, war Nell aufgestanden und auf bloßen Füßen leise zum Durchgang zwischen den beiden Zimmern geschlichen. Die glutrote Morgenröte, die durch die Vorhänge hereindrang, hatte die linnenverhüllten Möbel in ein überirdisches Licht getaucht, hatte sie fast wie schneebedeckte Berggipfel aussehen lassen, über denen die Sonne aufging. Auf dem Teppich neben dem Bett hatte Wills weiße Leinenunterhose gelegen, die er vor dem Schlafengehen achtlos abgestreift hatte.
Die zarten Spitzenvorhänge um Gracies Bett waren zurückgebunden, sodass Nell Will ungestört betrachten konnte, wie er auf dem Bauch lag, das Laken um eines seiner langen Beine geschlungen. Das entblößte Bein – es war das rechte – war jenes mit der tiefen vernarbten Wunde, die sich quer über den Oberschenkel zog. Er hatte sie von einer Schussverletzung zurückbehalten, welche er sich auf der Flucht aus dem Gefangenenlager von Andersonville zugezogen und die Gewehrkugel unterwegs selbst herausoperiert hatte.
Sein Gesicht war Nell zugewandt. Dunkle Haarsträhnen hingen ihm in die Augen, und sein Mund stand halb offen, was ihm ein fast kindlich unschuldiges Aussehen verlieh, das in auffallendem Gegensatz stand zu seinem sehnigen, versehrten Körper. Nur mit Mühe hatte sie dem Impuls widerstehen können, an sein Bett zu treten und ihm das Haar aus der Stirn zu streichen. Hätte sie das getan, wäre er aufgewacht, und es war undenkbar, ganz und gar undenkbar, dass sie nur in ihrem dünnen Nachthemd an seinem Bett stand und ihn, der unbekleidet dort lag, berührte.
Ganz und gar undenkbar.
„Nell? Was meinst du dazu?“
„Ähm … entschuldige, aber ich war …“
„Glaubst du nicht auch, dass, sollte dieser Fall vor Gericht kommen, Cooks Vergangenheit ein gefundenes Fressen für die Anklage sein wird? Brian O’Donaghs rechte Hand gewesen zu sein wäre wohl allein schon schlimm genug, aber er hat zudem noch auf einen Mann geschossen, weil der eine Frau misshandelt hat – was doch große Ähnlichkeit zu den Ereignissen aufweist, wie sie sich aller Wahrscheinlichkeit auch am Dienstagabend zugetragen haben.“
Nell sah ihn scharf an.
„So dürfte es zumindest der Staatsanwalt sehen“, beeilte Will sich hinzuzufügen, als er ihren Blick im Spiegel auffing und mit einem beschwichtigenden Lächeln erwiderte.
„Ich habe gleich gemerkt, dass Chloe uns gestern etwas verschwiegen hatte“, meinte Nell. „Sie hat uns glauben lassen, dass sie Cook kaum gekannt hätte, als er von Pennsylvania nach Boston kam, und uns erzählt, sie hätten sich durch ‚gemeinsame Bekannte‘ kennengelernt.“
„Nicht unbedingt eine Lüge, das mit den gemeinsamen Bekannten“, befand Will großmütig, „aber doch eine recht geschickte Ausflucht vor der Wahrheit. Sie wollte wahrscheinlich nicht, dass wir davon erfahren. Denn hätten wir gewusst, dass ihr Mann einst auf Daniel Duffy geschossen hatte, so stand wohl zu befürchten, dass wir zu derselben Schlussfolgerung gelangt wären, zu der auch die Geschworenen gelangen dürften – wenn Colin Cook einmal auf einen Mann geschossen hat, der eine Frau misshandelt hat, dann kann er es bestimmt auch ein zweites Mal getan haben.“
„Glaubst du denn, dass er es getan hat, Will?“, fragte sie.
Er wandte sich zu ihr um und sagte: „Ich respektiere dich zu sehr, als dass ich dich anlügen und behaupten würde, dass ich es für gänzlich ausgeschlossen hielte.“
Ein verzweifeltes Schluchzen stieg in ihr auf. „Oh, wie furchtbar das alles ist!“
„Ich weiß“, sagte er leise, trat neben sie und schloss seine Hand um ihren Arm. „Colin Cook kann sich wahrlich glücklich schätzen, mit dir befreundet zu sein. Ebenso wie ich.“
Von ihrem Schlafzimmerfenster aus beobachtete Nell, wie Will gemächlichen Schrittes die Tremont Street hinab zu der noch immer wartenden Mietkutsche lief.
Sie sah der Droschke nach, bis sie ihren Blicken entschwunden war, und nachdem sie einen Moment lang mit sich gerungen hatte, eilte sie kurz entschlossen nach unten und winkte sich auch eine vorbeifahrende Droschke herbei. „Zum Staatsgefängnis in Charlestown“, wies sie den Fahrer an.