13. KAPITEL

„Nein“, sagte Duncan.

„Duncan …“

„Nein!“ Mit beiden Händen schlug er auf den verschrammten Holztisch, der in der Mitte des kleinen Besucherzimmers stand, und ließ nicht nur den Tisch zitternd erbeben, sondern auch Nell, die am anderen Ende saß. Ein Sonnenstrahl, der durch das nahe Fenster hereinfiel, ließ Duncans helle Augen aufblitzen, die von einem klaren, durchdringenden Blau und vielleicht das Bemerkenswerteste an seinem teuflisch gut aussehenden Gesicht waren. „Du bist meine Frau, und das bleibst du auch.“

„Duncan, wir leben seit zehn Jahren nicht mehr als Mann und …“

„Das ist doch ganz egal! Kommt es denn darauf an? Wir sind kirchlich getraut worden. Die Kirche hat uns zu Mann und Frau gemacht, und nix kann uns jemals wieder trennen, nix. Niemals!“

Nell hatte zu hoffen gewagt, dass Duncans besitzergreifende Zuneigung sich in den zwei Jahren, die sie einander nun nicht mehr gesehen hatten, in Wohlgefallen aufgelöst hätte. Doch diese Hoffnung war allem Anschein nach vergebens gewesen.

Darum bemüht, ruhig und klar zu sprechen, sagte sie: „Mag sein, dass unsere Ehe in den Augen der Kirche nicht gelöst werden kann, aber vor einem Gericht durchaus. Leicht wird es nicht werden – zudem die Hewitts nichts davon erfahren dürfen. Wie du weißt, habe ich ihnen ja verschwiegen, dass ich verheiratet bin, und folglich muss auch meine Scheidung ein Geheimnis bleiben. Wenn du gegen meinen Antrag Einspruch erhebst, wird es für mich noch schwieriger. Das Verfahren könnte sich lange hinziehen, vielleicht sogar Jahre, und könnte mich jeden Cent kosten, den ich bei den Hewitts verdient habe. Aber ich bin dazu entschlossen, und ich werde es tun.“

„Warum?“, wollte er wissen. „Willst du etwa wieder heiraten?“

„Ich habe nichts dergleichen vor.“

„Es ist wegen ihm, nicht wahr? Der Sohn … dieser Doktor.“

„Ich habe dir doch eben gesagt“, setzte sie abermals an und verfluchte insgeheim die geradezu unheimliche Intuition, mit der er Menschen durchschauen konnte – oder zumindest sie – und die ihm von Anfang ihrer unseligen Beziehung an solche Macht über sie gegeben hatte, „dass ich nichts dergleichen …“

„Hast du was mit ihm? Du treibst es mit ihm, was?“

„Nein.“ Resigniert schüttelte sie den Kopf. „Duncan, bitte. Sieh es doch mal von meiner Warte. Selbst wenn meine Ehe mit dir mir noch schiene wie … wie eine richtige Ehe, wenn ich mich noch als deine Frau fühlen könnte, würdest du wirklich allen Ernstes von mir verlangen, dass ich zwanzig weitere Jahre auf dich warte? So lange musst du nämlich noch absitzen, ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung.“

„Ich wär’ ja früher rausgekommen“, erinnerte er sie. „Aber das hab ich mir ein für alle Mal vermasselt. Wenn ich vor zwei Jahren nicht hier ausgebrochen wäre, würd’ ich längst ein freier Mann sein. Und für wen habe ich das getan? Ich hab es für dich getan, damit dieser Verrückte dich nicht umbringt! Und zum Dank willst du mich jetzt einfach so wegwerfen wie den letzten Dreck?“

Nell schloss die Augen und holte tief Luft, als Beklemmung in ihr aufstieg und ihr die Kehle zuschnürte. „Duncan, du weißt, dass ich dir für dieses Opfer immer dankbar sein werde. Ich bin dir wirklich von ganzem Herzen, zutiefst dankbar und werde nie vergessen, was du für mich getan hast.“

Als sie die Augen wieder öffnete, fand sie seinen klaren blauen Blick so suchend auf sich gerichtet, als hoffe er, tief in ihren Augen etwas von der Zuneigung zu finden, die sie einst füreinander empfunden hatten. Sie wandte den Blick von ihm und schaute durch das vergitterte Fenster hinaus auf den sonnigen Hof und die beiden Gebäude, in denen sich die Gefangenen mit Steinmetzarbeiten der Gesellschaft nützlich erwiesen. Im Schatten eines weit ausladenden Baumes standen zwei uniformierte Wachen und rauchten ihre Zigaretten. Einer der beiden war der Wachmann, der ihr vorhin versichert habe, er würde in Hörweite auf dem Flur bleiben, falls sie seine Hilfe brauche.

Nein, sie würde niemals vergessen, wie selbstlos Duncan seine Freiheit verspielt hatte, um sie zu beschützen. Wie könnte sie?

Aber ebenso wenig konnte sie seine Wutanfälle vergessen und seine Schläge – und jenen letzten, so gewaltsamen Übergriff, der bei ihr eine Fehlgeburt ausgelöst hatte, deren Komplikationen sie beinahe nicht überlebt hätte. Wäre Dr. Cyril Greaves nicht gewesen, würde sie wohl heute nicht hier sitzen und versuchen, Duncan zur Einsicht zu bewegen.

Dr. Greaves hatte ihr nicht nur das Leben gerettet, während Fieber in ihrem Körper gewütet und eine schwere Entzündung ihre Gebärmutter befallen hatte. Nein, er hatte sie bei sich aufgenommen, hatte sie zur Krankenschwester ausgebildet, sie Geschichte und Französisch gelehrt, ihr Interesse an Oper, Kunst und Literatur geweckt, er hatte ihr beigebracht, wie man Briefe schrieb, sich in guter Gesellschaft bewegte und vieles mehr. Als sie schließlich sein Bett zu teilen begann, hatte sie dies gern getan und voll der tiefen Dankbarkeit. Er hatte ihr nicht nur das Leben gerettet, sondern sie ganz neu erschaffen. Nichts erinnerte mehr daran, wer sie einst gewesen war, und so war es auch nicht verwunderlich, dass Viola Hewitt sich ohne zu zögern für Nell entschieden hatte, als sie jemanden brauchte, sich um ihr adoptiertes Kind zu kümmern.

Jeden Abend vor dem Schlafengehen sprach Nell ein Dankgebet zu Gott, dass er ihr Gracie geschenkt hatte. Ohne das kleine Mädchen, das ihr wie ihr eigenes Kind geworden war, würde ihr Leben trostlos und leer sein, sähe sie Jahrzehnten der Kinderlosigkeit entgegen. Sie hatte sich immer schon Kinder gewünscht, auch als sie selbst noch ganz klein war. „Du bist dazu geboren“, hatte ihre Mutter immer gemeint, wenn sie ihre Tochter dabei beobachtete, wie sie ihre aus Lumpen selbst gemachte Stoffpuppe fütterte, windelte und hätschelte. So sehr bemutterte und umhegte sie ihre Puppe, dass die auch nach etlichen Versuchen, sie zu flicken und zu stopfen, sich unter ihrer steten liebevollen Zuwendung irgendwann in ihre Bestandteile auflöste. Aber da hatte Nell auch schon Tess gehabt, ihre kleine Schwester, um die zu kümmern ihr zugefallen war, nachdem die Cholera ihre Mutter und fast alle ihre Geschwister dahingerafft hatte. Tess, ihre süße, kleine, geliebte Tess, war gerade mal drei Jahre alt gewesen, als sie im Armenhaus von Barnstable an Diphtherie gestorben war. Ihr Tod hatte Nell zutiefst mitgenommen, und sie hatte sich so einsam und verloren gefühlt … bis sie Duncan begegnet war.

Ihre Mutter hatte recht – sie war dazu geboren, selbst Mutter zu sein. Es war, wonach sie sich immer aus tiefstem Herzen gesehnt hatte, es war das tiefste, ursprünglichste Verlangen, das sie jemals empfunden hatte. Kurzum, sie war dazu bestimmt, es war ihr Schicksal – ein Schicksal, das Duncan Sweeney mit seinem letzten heimtückischen, unverzeihlichen Übergriff zunichtegemacht hatte.

Es war unverzeihlich gewesen – ganz gleich, was die Kirche von Reue und Vergebung predigte. „Vergib uns unsere Schuld“, betete Nell jeden Morgen, „wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Denn sie war durchaus willens zu verzeihen – mit einer Ausnahme.

„Wenn du mir so dankbar bist und nie vergessen wirst, was ich für dich getan habe“, sagte Duncan nun, „wie kannst du dich dann von mir scheiden lassen woll’n?“

Ihren Blick noch immer aus dem Fenster gerichtet, sagte sie leise: „Weil es sehr viel gibt, das ich nicht vergessen kann, Duncan.“

Du willst abhauen? Du kannst abhauen, wenn ich mit dir fertig bin! Sie zwang sich dazu, es noch einmal zu durchleben – seine Schläge und Tritte, den Stich mit dem Messer, das furchtbare Entsetzen, als er ihr das Mieder aufriss und ihre Röcke zurückraffte. Das wird dir wehtun, hatte er geknurrt. Und es hatte wehgetan. Es hatte ganz entsetzlich wehgetan.

Es hatte ihr Kind umgebracht.

„Tut mir leid, Nell“, sagte er zerknirscht. „Ich kann das nie wiedergutmachen, was ich dir angetan hab, aber ich hab mich verändert. Du weißt das doch.“

Ich hab mich verändert, Nell. Ich hör’ auf zu trinken. Ich mach alles wieder gut. Von jetzt an will ich ein anderer sein …

Es tut mir ja so leid, Nell. Bitte gib mir noch eine Chance, bitte, ich flehe dich an, nur noch eine einzige …

Ich habe dich nicht verdient, aber ich liebe dich so. Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun soll. Nur noch eine Chance …

Es war, weil ich besoffen war. Ich hör jetzt wirklich damit auf. Es wird nicht wieder vorkommen. Du wirst sehen …

„Nell … Liebste. Sag doch was“, bat er sie. „Bitte.“

„Ich … ich bitte dich um deine Hilfe, damit ich unter diesen Abschnitt meines Lebens einen Schlussstrich ziehen kann“, sagte sie. „Wenn ich die Scheidung in unser beider Namen einreichen kann und du dich nicht gegen mich stellst, ist die Wahrscheinlichkeit viel größer, dass sie durchkommt, und es wird auch nicht annähernd so lange …“

„Tu das nicht, Nell. Tu uns das nicht an.“ Beide Arme auf den Tisch gestemmt, stand er auf, beugte sich zu ihr vor und sah sie eindringlich mit seinen hellblauen Augen an, die ihr einmal als die schönsten Augen der Welt erschienen waren. Die Augen eines jungen Gottes – die nun zudem feucht schimmerten. Seine Unterarme, die unter den aufgekrempelten Ärmeln seines gestreiften Gefängnishemdes hervorsahen, waren sehnig und von feinem Granitstaub überzogen. Auf seiner Stirn pulsierte eine Ader.

„Duncan“, sagte sie ernst, „bitte mach es uns nicht schwerer als es …“

„Herrgott noch mal, Nell!“ Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, als die Tränen zu fließen begannen, und verschmierte sich Granitstaub im Gesicht. „Du bist alles, was ich noch hab“, stieß er mit leiser, bebender Stimme hervor. Auch seine Arme zitterten. „Ich hab sonst nichts mehr, gar nichts. Nur das hier, diese … Vorhölle. Den ganzen Tag mach ich nix anderes, als Steine zu behauen und an dich zu denken und dass dich zu heiraten das Beste war, was ich in meinem Leben gemacht hab, auch wenn ich das wieder vermasselt habe. Das ist alles, mehr hab ich nicht. Nur dich. Bitte, Nell, nimm mir das nicht auch noch. Ich flehe dich an.“

Sie presste ihre Augen fest zusammen – Das wird dir wehtun –, öffnete sie wieder, schob ihren Stuhl zurück und stand auf. „Du …“, sie räusperte sich, „du wirst dann irgendwann die Unterlagen zugeschickt bekommen. Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du sie einfach unterschreiben und …“

„Nein!“ Duncan packte den Tisch und schleuderte ihn so heftig beiseite, dass er gegen die Wand flog und zwei Beine abbrachen. „Verdammt noch mal, nein!“

Nell wich so eilig vor ihm zurück, dass sie über ihren Stuhl stolperte und inmitten ihrer sich bauschenden Seidenröcke und der störrischen Krinoline auf dem Boden landete. Mit dem linken Arm hatte sie versucht, den Sturz abzufangen, und spürte, wie der Schmerz ihr bis in die Schulter schoss. Schon holte sie Luft, um nach dem Wachmann zu rufen, doch sie wusste nicht einmal, ob er sie hören würde, dort draußen, und schon hatte Duncan sich auch auf sie gestürzt. Mit der einen Hand hielt er ihre beiden Handgelenke fest, die andere drückte er ihr hart auf den Mund. So tief beugte er sich über sie, dass sie sah, wie ihre eigenen, angstvoll aufgerissenen Augen sich in dem gleißenden Blau der seinen spiegelten.

„Du willst mich also mit diesem Papierkram abspeisen, Nell?“, zischte er mit gebleckten Zähnen und grub seine Finger dabei so fest in ihre Wange, dass sie fürchtete, blaue Flecken davonzutragen – wenn er ihr nicht gar den Kiefer brach. „Los, sag schon – hast du das vor, mich einfach so abservieren?“

Nell wand sich unter ihm, schlug verzweifelt mit Armen und Beinen aus, versuchte vergebens, ihn von sich zu stoßen, sich aus seinem unerbittlichen Griff zu befreien, nach den Wachen zu schreien … doch vergebens. Nach zehn Jahren harter Arbeit in den Steinmetzwerkstätten des Gefängnisses war Duncan nur noch stärker als früher.

„Wenn ich deinen Papierkram bekomme, Süße“, flüsterte er, „weißt du, was ich dann als Erstes tu? Na, weißt du’s? Ich werd’ einen Brief an Mr. und Mrs. August Hewitt, Tremont Street Nr. 148, Boston, Massachusetts schreiben und ihnen ganz ausführlich erzählen, dass Miss Nell Sweeney und ich seit zwölf Jahren verheiratet sind und dass du mal die beste Taschendiebin auf Cape Cod warst, wenn nicht sogar die beste in ganz Massachusetts, und dass du’s heimlich mit dem guten Dr. Willie Hewitt treibst, und das auch schon wer weiß wie lang.“

Nell bäumte sich auf und schaffte es, sich so weit aus seinem Griff zu befreien, dass sie ihre Zähne in seine Hand schlagen konnte, tief und kräftig.

Duncan zuckte zurück und fluchte lästerlich. „Du kleines …“

„Wache!“, schrie sie, während sie mit der Faust so heftig auf Duncans Nase einhieb, dass sein Blut auf sie beide spritzte.

Er jaulte vor Schmerz, hielt sich mit beiden Händen die Nase umfasst, als auch schon die Tür aufflog. Die beiden Wachmänner, die eben noch unter dem Baum im Hof geraucht hatten, stürzten sich auf ihn und zerrten ihn von ihr fort, derweil er wütend um sich trat und schlug, Blut und Speichel spie.

„Das werd’ ich tun!“, schrie er mit nasaler Stimme, als man ihn sich sträubend aus dem Zimmer und den Gang hinunter schleifte. „Glaub bloß nicht, dass ich’s nicht tu, du undankbares kleines Miststück! Wenn du versuchst, dich von mir scheiden zu lassen, werd’ ich ihnen alles sagen! Aber wirklich alles, hörst du? Du wirst ruiniert sein! Hast du mich verstanden? Ruiniert!“

Zuhause angekommen, bat Nell den Fahrer, sie an der Bedford Street herauszulassen, durchquerte eine schmale Gasse, den Hof eines Nachbarhauses und den sonnigen Garten der Hewitts, um zur Hintertür zu gelangen. Als sie ihre Schritte auf dem Marmorboden widerhallen hörte, wurde sie sogleich wieder von der allumfassenden Leere des großen Hauses überwältigt. Da die Fenster von schweren Vorhängen verhüllt waren und kein Licht brannte, war es selbst an einem sonnigen Nachmittag wie diesem so dunkel wie in tiefer Nacht.

Als sie am Musikzimmer vorbeilief, vernahm sie ein leises Knarren, als würde jemand sich von dem hundert Jahre alten Duettstuhl erheben, der neben dem Flügel stand.

„Will?“ Nell drehte sich um und sah eine schemenhafte Gestalt sich auf sie stürzen. Entsetzt wollte sie aufschreien.

Doch schon spürte sie, wie eine Hand sich fest auf ihren Mund legte und ihr Kopf an eine breite, kräftige Schulter gepresst wurde.

„Ganz ruhig“, flüsterte er dicht an ihrem Ohr.