14. KAPITEL

„Nicht schreien, Miss Sweeney, bitte. Ich bin es, Colin Cook.“

Detective Cook? Ja, es war seine Stimme, daran konnte kein Zweifel bestehen. Nell nickte und bebte am ganzen Leib vor Erleichterung.

Schließlich nahm er seine Hand von ihrem Mund, hielt Nell aber noch einen Moment an beiden Armen fest, bis sie sich wieder etwas von ihrem Schrecken erholt hatte und sicher sein konnte, dass ihre Beine nicht unter ihr nachgaben.

„Was zum Teufel …?“, setzte sie ungehalten an.

Er trat vor sie, ein bulliges Ungetüm von einem Mann mit schwarzem Haar und einem wuchtigen Schädel. Seine Augen schienen ihr im dämmerigen Licht riesig. Sein Gesicht und die Hände waren rußgeschwärzt, und er trug die Kleider eines einfachen Arbeiters – eines Schornsteinfegers, um genau zu sein. Sowie sie sich etwas beruhigt hatte und ihre Umgebung wieder mit klarem Blick wahrnahm, bemerkte Nell auch den Kaminbesen, der zusammengerollt an der Wand lehnte und ihr vorhin gar nicht aufgefallen war.

„Tut mir leid, dass ich Ihnen einen solchen Schrecken eingejagt habe“, sagte er mit seiner wohlvertrauten Stimme, deren irischer Einschlag nur schwach herauszuhören war, „aber niemand darf erfahren, dass ich hier bin. Wie Sie ja wissen, bin ich ein gesuchter Mann. Mrs. Cook meinte, Sie wären bei ihr gewesen, Sie und Dr. Hewitt, und dass Sie versuchen wollen herauszufinden …“

„Ja“, bestätigte ihm Nell und rieb sich ihre noch immer ganz zittrigen Arme. Sie zuckte zusammen, als sie ihren Ellenbogen berührte, der bei ihrem unsäglichen Sturz im Gefängnis am meisten abbekommen hatte. Der Ärmel ihres grauen Seidenkleides war hinten entzweigerissen, der Stoff starr und steif von getrocknetem Blut. „Will und ich untersuchen den Fall. Gestern Abend waren wir im Nabby’s Inferno und …“

„Später“, unterbrach er sie und fasste Nell wieder fest bei den Armen. „Das können Sie mir alles später erzählen. Mrs. Cook … sie braucht Sie jetzt. Ich glaube …“ Seine Augen schimmerten in der Dunkelheit. Sie sah, dass er schwer schluckte, bevor er sprach und die Worte nur mit Mühe herausbekam. „Ich … ich glaube, Sie verliert das Kind.“

„Oh nein!“, entfuhr es Nell.

„Ich habe mich heute früh nach Hause geschlichen – noch vor Sonnenaufgang –, weil ich mir Sorgen um sie gemacht habe. Und wie sich rausstellte, ging es ihr da schon ziemlich schlecht.“

„Inwiefern?“, fragte Nell. „Was genau hat sie?“

„Krämpfe und leichte Blutungen.“

„Nur ganz leichte?“

„Ach, was ist schon leicht? Keine Ahnung. Ich bin sofort losgelaufen und habe Lily Booth geholt, ihre Freundin von nebenan, damit die solange bei ihr bleibt und auf sie aufpasst, während ich ihren Arzt gesucht habe, diesen Mathers, aber er ist jetzt übers Wochenende nicht in der Stadt. An seiner Tür hing ein Schild, dass man sich an Dr. Silk wenden soll, drüben in der Beacon Street, also bin ich zu dem gelaufen, doch er war gerade zum Lunch im Tremont Hotel, also bin ich eben dahin.“ Cook schüttelte den Kopf und war sichtlich mit den Nerven am Ende. „Ich habe ihn dann auch tatsächlich gefunden, aber wie gesagt – er war gerade beim Lunch, und machte nicht den Eindruck, als ob er sich dabei stören lassen wollte. Er meinte, das klinge ja nicht nach ‚beunruhigenden Symptomen‘. Sie solle sich einfach hinlegen, dann werde schon alles ‚ganz von selbst seinen Gang gehen‘. Die Sache ist nur die, das hatten wir ja alles schon mal, ich und Mrs. Cook, und noch mal will ich sie dieses Elend nicht durchmachen lassen – nicht, wenn vielleicht doch noch was zu retten ist. Sie meinte, dass Sie etwas wüssten, irgendein indianisches Tonikum oder so was …“

„Schneeball, eine einheimische Heilpflanze“, sagte Nell. „Ich habe sogar noch ein wenig davon da, weil ich es auch, ähm … gelegentlich brauche.“ Nichts, aber wirklich gar nichts, zeigte eine so lindernde Wirkung bei ihren monatlichen Unterleibsbeschwerden. Eine Tasse Schneeballtee und ein Glas Wein reichten in aller Regel aus, sie auf den Beinen zu halten. „Geben Sie mir eine Minute, damit ich es schnell holen und eine Nachricht für Dr. Hewitt hinterlassen kann. Ich bin gleich wieder da.“

„Ich möchte Ihnen beiden dafür danken, was Sie da für mich tun, Sie und Dr. Hewitt“, sagte Cook zu Nell, als er sie in seinem Buggy zur Fayette Street fuhr. Wahrscheinlich gaben sie einen recht wunderlichen Anblick ab – eine gut gekleidete junge Dame, die neben einem Schornsteinfeger im offenen Gespann fuhr –, aber zumindest war er in dieser Aufmachung kaum zu erkennen. „Hat mich ja eigentlich gar nicht so sehr überrascht, als Mrs. Cook es mir erzählt hat. Sie haben schon immer ganz unerschrocken Ihre Nase in alles reingesteckt, aber dass Sie mal für mich Kopf und Kragen riskieren müssten … also, das hätte ich mir auch nicht träumen lassen. Ich bin Ihnen wirklich dankbar, Miss Sweeney. Wollte ich nur gesagt haben.“

„Das weiß ich sehr zu schätzen, Detective. Da Sie vorhin meinten, Sie hätten sich heimlich im Morgengrauen nach Hause geschlichen, gehe ich davon aus, dass Sie da bereits wussten, dass nach Ihnen gefahndet wird.“

„Ich hab gehört, wie sie an besagtem Abend oben im Nabby’s nach den Bullen gerufen haben, und ja, mir ist schon klar, wie es ausgesehen haben muss“, sagte er. „Von Mrs. Cook habe ich erfahren, dass Skinner auf dem Kriegspfad ist. Sie hat mir erzählt, wie er mit ihr geredet hat. Und ganz egal, wie die Sache hier für mich ausgeht – sowie ich diesen widerlichen kleinen Wichtigtuer in die Finger bekomme, werde ich ihm seine vorlaute Fresse polieren. Mal sehen, ob er ohne Zähne auch noch so große Töne spucken kann.“

„Oh, tun Sie das nicht …“, setzte Nell an.

„Mit Verlaub, Miss Sweeney, aber nicht einmal Sie könnten mich davon abhalten.“

„… ohne mir vorher Bescheid zu sagen – ich würde nämlich gerne zuschauen.“

Cook warf den Kopf zurück und lachte lauthals, wodurch er so jäh an den Zügeln zog, dass die Pferde mitten auf der gepflasterten Straße stehen blieben und ihr klappernder Hufschlag verklang. Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, wischte Cook sich mit einer Hand über die Augen und brachte das Gespann wieder in Bewegung. „Wenn Sie so was sagen, erinnern Sie mich an Mrs. Cook. Ich meinte schon mal zu ihr, dass Sie beide sich bestimmt schnell anfreunden würden, wenn Sie sich jemals kennenlernen sollten.“

„Ich mag Ihre Frau sehr“, pflichtete Nell ihm bei. „Und ich wage mir kaum vorzustellen, was sie während der letzten paar Tage auszustehen hatte.“

„Das ist alles meine Schuld“, sagte Cook grimmig, als er den Wagen um eine Kurve lenkte. „Ich hätte den Job bei der Staatspolizei niemals annehmen sollen. Diese Arbeitszeiten, die Gefahren … Das war von Anfang an nicht leicht für sie, und jetzt auch noch das.“ Kummervoll schüttelte er den Kopf.

„Ich würde Sie gern etwas fragen“, sagte Nell, „und hoffe, dass Sie mir eine ehrliche Antwort unter Freunden geben …“

„Mary Molloy hat als Spitzel für mich gearbeitet – und mehr auch nicht“, sagte Cook entschieden. „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was in mir vorging, als Skinner, dieser verdammte … ach, entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise.“

„Was ihn anbelangt, müssen Sie sich damit nicht zurückhalten.“

„Und sie hat ihm geglaubt, die arme Chloe, oder es zumindest für möglich gehalten! Ist das denn zu glauben? Aber nun kennt sie die Wahrheit – und zwar die ganze Wahrheit.“

„Und die wäre …?“

„Es gibt im North End ein weit verzweigtes Verbrechernetz – von einfachen Straßendieben über gerissene Betrüger bis hin zu Auftragsmördern. Banden kaufen Opium direkt an Bord der Schiffe ein und verhökern es dann in den Opiumhöhlen. Diebesgut wird umgeschlagen, und neben der Hehlerei gedeiht auch der Wucher prächtig. Das Geld wird an die Glücksspieler verliehen – und wehe, sie können es nicht zurückzahlen … Es ist fast wie eine große Familie, und mit jedem Tag, den das Verbrechen sich ungehindert ausbreiten kann, organisiert es sich besser und gewinnt weiter an Einfluss. Brian O’Donagh ist einer der wichtigsten Köpfe in diesem Netzwerk. Mutter Nabby mischt auch ganz oben mit. Beide drehen ihre eigenen Geschäfte, arbeiten aber auch mal zusammen. Dieser Johnny Cassidy – der Typ, den man erschossen hat –, der hat sich um Mutters Angelegenheiten gekümmert.“

„Was genau hat er da so alles gemacht?“, fragte Nell.

„Um das herauszufinden, habe ich Mary bezahlt“, sagte Cook. „Major Jones plant nämlich eine große Razzia, um im North End ein für alle Mal aufzuräumen, aber solange wir nicht wissen, wonach wir suchen, hat das wenig Sinn. Mein Job war es, mich umzuhören und was herauszufinden. Wenn Johnny nicht da war, ging ich also zu Mary, blätterte ein paar Scheine hin, und sie hat mir erzählt, was sie seit meinem letzten Besuch so alles aus ihm herausbekommen hatte.“

„Ganz schön gefährlich für sie“, meinte Nell.

„Stimmt. Wenn Johnny das spitzbekommen hätte, wäre sie geliefert gewesen. Er war ein absolut kaltblütiger Kerl, der ihr schon ein paar Mal gedroht hatte, ihr den Garaus zu machen, sollte sie jemals versuchen, sich davonzustehlen – und das nicht etwa, weil er sie so sehr mochte und es nicht ertragen hätte, wenn sie ihn verlassen würde, sondern weil sie ihm Geld brachte, und das nicht zu knapp. Deshalb hielt er sie auch so kurz – damit sie von ihm abhängig war und nirgendwo sonst hingehen konnte.“

Obwohl es ein angenehm warmer Nachmittag war, lief es Nell eiskalt über den Rücken. Das Ganze erinnerte sie in erschreckender Weise an Duncan, der sie in den beiden Jahren ihrer Ehe auf ebenso besitzergreifende Weise zu beherrschen versucht hatte.

„Deshalb hat sie sich auch darauf eingelassen, für mich den Spitzel zu spielen“, fuhr Cook fort. „Sie wollte eigenes Geld haben, und sobald sie genug beisammen hatte, Johnny verlassen und sich irgendwo niederlassen, wo er sie nicht finden könnte. Davon habe ich allerdings erst vor ein paar Tagen erfahren, als ich sie nach der Schießerei aus dem Nabby’s weggebracht habe. Ich wusste auch nicht, wie schlimm er sie verprügelte, obwohl ich das eigentlich hätte wissen sollen, denn sie hatte andauernd blaue Flecken, die nicht allein von ihren Spielchen kommen konnten – aber wahrscheinlich wollte ich es nicht sehen, nicht weiter darüber nachdenken, weil sie so nützlich für mich war. Ach ja.“

Nell horchte auf. „Ihren Spielchen?“

„Ja, diese Schulmädchengeschichte – Johnny hatte sich das ausgedacht.“

„Deshalb auch das artige Kleidchen und die Zöpfe.“

Cook nickte, sichtlich angewidert. „‚Küken‘ heißen sie hier – oder auch ‚junges Gemüse‘. Es gibt Männer, die ziemlich scharf auf so was sind, keine Ahnung warum. Mary saß also mit ihren niedlichen Sommersprossen und ihrem Glas Milch da oben rum und wartete, dass ein zahlungskräftig aussehender Kunde sie ansprechen und sich zu ihr setzen würde. Nachdem er einige Gläser intus hatte und ordentlich betrunken war, ließ sie sich von ihm in die Kellerwohnung begleiten.“

„Und Johnny folgte den beiden“, vermutete Nell.

„Stimmt, aber erst musste er sich den Schlüssel zum Kohlenkeller von Mutter holen, denn er beobachtete Mary und ihren Kunden derweil durch ein Guckloch.“

„Ah, Mutter wusste also von diesem Spielchen“, meinte Nell.

Cook nickte. „Sie verlangte auch jedes Mal ihren Anteil. Sowie Mary mit dem Typen auf dem Bett lag, kam Johnny ins Zimmer gestürmt, gab sich als ihr Vater aus und schrie herum, wie sie ihm das antun könne und welche Schande sie über ihn gebracht hätte. Meistens verpasste er ihr dann ein paar Schläge, damit das Ganze auch schön glaubhaft aussähe – schlug ihr die Nase blutig, die Lippe. Dem Freier wurde natürlich angst und bange. Wenn er so richtig wütend war, konnte Johnny genauso furchteinflößend sein wie sein Rabauke von Bruder. Er drohte dem Kunden, ihm alle Knochen im Leib zu brechen und ihn wegen Verführung Minderjähriger anzuzeigen. Kurzum, er würde ihn ruinieren, es sei denn …“

„Es sei denn, er zahlte, was Johnny verlangte.“

„Und billig war es nicht, das Problem aus der Welt zu schaffen, das können Sie sich gewiss denken.“

„Was genau ist Dienstagabend passiert?“, fragte Nell.

„Wenn ich das wüsste. Dienstagabend fanden immer Boxkämpfe statt, weshalb ich dann oft runter zu Mary bin, weil Johnny oben war und sich um die Wetten kümmerte. An besagtem Abend war eben das zweite Match eingeläutet worden, als ich bei ihr eintraf. Wie immer schlich ich mich durch den Hof, die Hintertreppe hinunter, doch als ich in die Wohnung kam, war Mary gerade dabei, ihre Sachen zu packen, und Johnny lag mit einer Kugel im Kopf auf dem Boden. Sofort zog ich meine Waffe, denn der Mörder hätte ja noch in der Nähe sein können. Im ersten Moment dachte ich sogar, dass Mary es vielleicht selbst war, konnte aber nirgends eine Pistole entdecken. Im Nabby’s gibt es einen Laufburschen, einen Jungen, der Denny Delaney heißt – und der stand drüben an der offenen Tür, mit Augen so groß wie Untertassen.“

„Denny?“, horchte Nell auf. „Er war am Tatort? Uns hat er gesagt, dass er oben war, als es passierte.“

„Nein, er stand wie gesagt an der Tür, aber Mary schrie ihn an, er solle wieder hochgehen und würde gut daran tun, ganz schnell zu vergessen, dass er jemals unten gewesen war. Sie war seine einzige Freundin in dem Laden, kümmerte sich wie eine Glucke um ihn – und er um sie. ‚Und was ist mit dir?‘, fragte er sie. Da drehte sie sich um, und ich konnte sehen, wie übel sie zugerichtet war. An der rechten Wange blutete sie, aber sie meinte nur, sie komme schon zurecht, und er solle sich lieber um sich selbst kümmern.“

„Woraufhin er nach oben verschwunden ist“, vermutete Nell.

„Nicht ganz. Erst hat er mich noch gefragt, ob ich nach Mary schauen würde, sie von hier wegbringen und ihre Wunden versorgen. Ich versprach es ihm, und dann erst ging er. Ein guter Junge, dieser Denny. Es ist mir wirklich unerträglich, ihn dort im Nabby’s zu sehen und zu wissen, dass er seine Zeit damit verschwendet, Botengänge für diesen Abschaum zu erledigen.“

„Er sollte eigentlich in der Schule sein“, pflichtete Nell ihm bei.

„Ich weiß. Das Problem ist nur, dass er sich von niemandem etwas schenken lassen will. Ich habe ihm angeboten, dass er bei mir und Mrs. Cook leben könnte und ich ihn auf die Boston College High School schicken würde – eine katholische Schule, weil es ihm nicht gefallen hat, wie man katholische Kinder in seiner alten Schule behandelt hat. Er ist ziemlich in Versuchung geraten, das habe ich gemerkt, hat das Angebot aber trotzdem ausgeschlagen, weil er keine Almosen will, wie er sagt. Ich meinte, dass er sich bei uns im Haus nützlich machen könnte, um sich seinen Unterhalt und das Schulgeld zu verdienen, bloß hat er das natürlich gleich durchschaut und mir gesagt, er würde niemals so viel abarbeiten können, wie es kostet, auf diese Schule zu gehen.“

„Wahrlich ein sehr großzügiges Angebot von Ihnen.“

Cook hob seine massigen Schultern. „Was hätte ich tun sollen? Es erschien mir nur richtig, ihm das anzubieten. Wenn man nachts ruhig schlafen will, muss man zumindest versuchen, nach seinem Gewissen zu handeln.“

„Und was ist geschehen, nachdem Denny die Wohnung verlassen hatte?“, fragte sie weiter.

„Ich vergewisserte mich, dass Johnny wirklich tot war, und das war er, gar kein Zweifel. Ich fragte Mary, wer das gewesen war, aber sie wollte es mir nicht sagen. Meinte nur: ‚Fragen Sie mich nicht, bitte fragen Sie nicht.‘ Sie müsse so schnell wie möglich von hier verschwinden, irgendwohin, nur weit fort von hier, denn wenn sie dabliebe, würde sie morgen um diese Zeit bestimmt auch tot sein.“

„Sie haben sich dann gemeinsam mit ihr aus dem Staub gemacht?“

„Ja, aber leider waren wir nicht schnell genug. Eins der Barmädchen hat uns gesehen, und ein paar junge Opiumraucher. Die Hure ist gleich wieder nach oben gestürmt, ich hab sie noch schreien gehört, dass man Johnny Cassidy umgebracht hätte und dass sie gesehen hätte, wer es war. Da wusste ich, dass ich mir Mary schnappen und mit ihr so schnell wie möglich verschwinden musste, sonst wäre ich geliefert gewesen. Das North End ist Skinners Revier. Mir war sofort klar, dass er sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen und mir daraus einen festen Strick für meinen irischen Hals drehen würde, dieser kleine Gauner.“

„Was er dann ja auch getan hat“, sagte Nell. „Und wo ist Mary jetzt?“

„In einem Zug Richtung Westen. Sie hat eine Cousine in Chicago, von der weder Johnny noch sonst wer was weiß. Einen eigenen Blumenladen will sie aufmachen – darauf hat sie die ganze Zeit gespart, damit sie endlich für sich selbst sorgen kann und nie wieder von einem Mann wie Johnny abhängig ist. Da kam ihr das Geld, das ich ihr für die Spitzelei zahlte, gerade recht.“

„Hat sie damit denn genügend verdient, um sich in Chicago eine neue Existenz aufbauen zu können?“, fragte Nell zweifelnd.

Cook zögerte. „Ähm, nein. Ich … ich habe noch ein bisschen was zugeschossen.“

Sie klopfte ihm auf den Rücken. „Sie sind wirklich ein guter Mensch, Detective.“

„Wahrscheinlich wollte ich nur mein Gewissen beruhigen, dass ich sie benutzt habe, um an Informationen zu kommen und dabei die Augen vor ihrer schrecklichen Lage verschlossen habe.“

„Mmh“, meinte Nell und fragte dann: „Wahrscheinlich hat sie Ihnen nicht verraten, wer Johnny umgebracht hat.“

„Nein, das habe ich nicht aus ihr herausbekommen.“

„Irgendwelche Vermutungen?“

„Keine, die wirklich schlüssig wären. Die Sache ist ja die, dass es eigentlich jeder gewesen sein konnte. Vergessen Sie nicht, dass sich im Nabby’s lauter zweifelhafte Gestalten rumtreiben, ein stetiges Kommen und Gehen. Und die Kellerwohnung hat dann noch den Eingang vom Hof her, da konnte sich gut jemand reinschleichen, die Tat begehen und klammheimlich wieder abhauen, ohne dass irgendwer was gesehen hätte.“

„Vielleicht war es aber gar keine der zweifelhaften Gestalten“, wandte Nell ein. „Sondern einer der reichen Schnösel, die dort ja auch in großer Zahl verkehren, wie ich mir habe sagen lassen.“

„Das tun sie wohl.“

„Wie beispielsweise Ihr Freund Ebenezer Shute.“

Cook warf ihr einen kurzen argwöhnischen Blick zu, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder der Straße widmete. „Ben hat mit dem Mord an Johnny Cassidy nichts zu tun, falls Sie das meinen. Er war nur einmal im Nabby’s, zusammen mit mir.“

„Und war sehr von Mary angetan.“

„Zuerst eigentlich gar nicht“, beeilte Cook sich zu sagen. „Nicht, als er dachte, sie wäre wirklich so jung wie sie aussah. Sie war ihm natürlich aufgefallen, wie sie da so saß, und er hatte mich gefragt, was denn so ein junges Mädchen hier zu suchen hätte. Ich habe ihn dann aufgeklärt, dass sie mindestens zehn Jahre älter ist, als sie aussieht, und erst dann hat er einen zweiten Blick auf sie geworfen. Ja, er wollte wissen, ob sie zu haben wäre, wenn Sie das wissen wollen.“

„Als Prostituierte, meinen Sie?“

Cook nickte. „Genau genommen schon, habe ich ihm erwidert, aber er solle bloß nicht den Fehler machen, sich mit ihr einzulassen, denn dann könnte er locker den doppelten Preis zahlen, als wenn er sich eins von den andern Mädels nehmen würde.“

„Von Johnnys Spielchen hatten Sie ihm nichts erzählt?“

Cook schüttelte den Kopf: „Davon habe ich nicht mal meinen Vorgesetzten erzählt. Das war wirklich Betrug ersten Ranges, und Mary hätte dafür leicht einige Jahre hinter Gittern bekommen, wenn das aufgeflogen wäre. Ich sagte Ben einfach nur, dass er gut daran täte, sich von Mary Molloy fernzuhalten. Aber je mehr er trank, desto unvernünftiger wurde er. Konnte über gar nichts anderes mehr sprechen. Schließlich habe ich ihn überredet, woanders hinzugehen. War nicht einfach gewesen, weil er dieses Mädel kaum noch aus dem Sinn bekam.“

„Und dann sind Sie Austern essen gegangen“, stellte Nell fest.

Sichtlich beeindruckt sah Cook sie an. „Wären Sie als Mann auf die Welt gekommen, würden Sie einen verdammt guten Polizisten abgegeben haben, Miss Sweeney. Alle Achtung. Ja, ich wollte, dass er was in den Bauch bekam, damit er wieder etwas klarer im Kopf wird. Also habe ich vier Dutzend Austern frisch vom Cape bestellt, aber er stocherte nur lustlos in den armen Viechern herum und rührte nicht mal das Brot an. Aber zwei Krüge Bier hat er runtergekippt. Als wir gegangen sind, war er schon ziemlich hinüber.“

„Wussten Sie, dass er danach noch mal ins Nabby’s zurückgekehrt ist?“, fragte Nell.

Cook presste die Lippen zusammen. „Ja, das wusste ich, hab es aber erst später erfahren. Eigentlich hatte ich ihn nämlich in eine Mietdroschke verfrachtet und mir gedacht, er würde wohl geradewegs nach Hause fahren – in seinem Zustand. Ich musste noch ein Weilchen im North End ausharren, hatte was in einer der Spielhöllen in der North Street zu erledigen, ein paar Häuser vom Nabby’s entfernt. Als ich damit fertig war und auf der Straße nach einer Droschke Ausschau hielt, um selbst endlich nach Hause zu kommen, wen sah ich da? Ben. Kam er da plötzlich angetorkelt, völlig durch den Wind, und zeigte mir seine Hände – ganz aufgeschürft waren die, voller Blut. Seine Knie auch. Also zumindest sein gesundes Knie. Durch die Hose durch aufgeschlagen.“

„Johnny Cassidy hatte ihn hochkant hinausgeworfen“, sagte Nell.

„Ja, da hat er mir dann auch erzählt, dass er noch mal ins Nabby’s und mit Mary nach unten gegangen ist. Sie lagen gerade auf dem Bett und … ähm, ja, Sie wissen schon, fummelten so rum, als Johnny die Tür aufreißt und – also natürlich hat Ben nicht ‚Johnny‘ gesagt. Er wusste ja gar nicht, wer das war, meinte nur, dass auf einmal ‚so ein Schläger mit irrem Blick‘ hereingestürmt wäre. Johnny hat ihn von Mary fortgerissen, ihn gegen die Wand geschleudert und Mary ein paar deftige Ohrfeigen verpasst. Ben meinte, er hätte versucht, ihn davon abzuhalten, sie zu schlagen, sei aber viel zu betrunken gewesen, um auch nur irgendwas ausrichten zu können. Johnny brüllte dann rum, was ihm denn einfiele, sich an seiner armen dreizehnjährigen Tochter zu vergreifen, und dass er ihm einen Tausender dafür blechen müsste, damit er das nicht an die große Glocke hänge. Entweder das oder Johnny würde den Bullen Bescheid sagen. Er meinte noch, er wüsste genau, wer Ben wäre, hätte ihn schon ein paar Mal in der North Street gesehen, wenn er die Pfandläden inspizierte, und dass er seinen Job als Inspektor verlieren würde und ruiniert wäre, wenn rauskäme, dass er eine Schwäche für kleine Mädchen hat.“

„Aber das hat er doch gar nicht, oder? Ich meine, er wusste doch, dass Mary viel älter war.“

„Stimmt, deshalb sagte er auch nur, dann geh doch und hol die Bullen, er wisse genau, dass Mary längst keine dreizehn mehr wäre und würde nicht im Traum dran denken, auch nur einen Cent zu zahlen. Gut, meinte da Johnny, wenn er nicht binnen vierundzwanzig Stunden gezahlt hätte, würden er und seine Jungs Ben aufspüren und ihm sein gutes Bein derart zurichten, dass er auch das los wäre, und seinen rechten Arm gleich mit. Und sein eines Auge könne er dann auch vergessen, denn wenn schon, dann richtig. Als Ben meinte, das wäre doch alles nur Bluff, schrie Johnny: ‚Dann werd’ ich dir mal zeigen, wer hier blufft!‘, hat Ben die Treppe hochgeschleift und ihn rausgeworfen.“

„Woraufhin Ben ihm gedroht hat, ihn umzubringen, und das vor etlichen Zeugen.“

Cook stieß einen tiefen Seufzer aus. „Wie ich schon sagte, er war zu dem Zeitpunkt völlig hinüber. Das war doch nichts weiter als eine leere Drohung. Was Betrunkene eben so reden, wenn sie nicht mehr Herr ihrer Sinne sind.“

„Sind Sie sich da sicher?“

„Ganz sicher. Nachdem Ben mir das alles erzählt hatte, fragte er mich: ‚Glaubst du, mir droht von diesem Kerl eine ernst zu nehmende Gefahr?‘, und ich meinte: ‚Ja, du verdammter …‘ ’Tschuldigung.“

„Keine Ursache.“

„Ich sagte ihm also, dass er durchaus in Gefahr sei, und dass ich diesen Typen ziemlich gut kenne und er schon Schlimmeres getan hätte, als Leute zusammenzuschlagen. Johnny legt für einen Fünfziger auch schon mal jemanden um – und das ist dann bestimmt kein Bluff mehr.“

„Tausend Dollar sind ganz schön viel Geld“, sinnierte Nell. „Ich weiß, dass Ben wohlhabend ist, aber hätte er sich das leisten können?“

„Oh, er ist mehr als nur wohlhabend“, sagte Cook. „Er ist mehrfacher Millionär. Seinem Geldbeutel hätte das nicht wehgetan, aber sein Stolz war zutiefst verletzt.“

„Hatte er sich also doch bereit erklärt zu zahlen?“

„Direkt gesagt hat er es nicht, aber als wir in jener Nacht auseinandergegangen sind, war ich mir ziemlich sicher, dass er den Ernst seiner Lage begriffen hatte und sich einsichtig zeigen würde.“

„Trägt Ben eine Waffe?“, fragte Nell.

Cook schaute sie an und hob die Brauen. „Nein, Miss Sweeney, tut er nicht.“

„Aber jemand, der so häufig bei Pfandleihern ein- und ausgeht, könnte sich doch gewiss leicht eine Waffe beschaffen. Und als ehemaliger Soldat sollte er auch wissen, wie man damit umgeht.“

„Ben Shute hat Johnny Cassidy nicht umgebracht“, betonte Cook und bog in die Fayette Street ein.

„Ich wünschte, ich könnte Ihre Zuversicht …“ Nell vergaß, was sie hatte sagen wollen, als sie sich dem Hause der Cooks näherten. Maureen, das Dienstmädchen, stand draußen vor der Tür, hatte die Arme fest um sich geschlungen und sah mit ängstlichem Blick die Straße hinauf und hinab. Als sie Cooks Buggy kommen sah, wedelte sie heftig mit den Armen und zeigte auf sie, trat dann einen Schritt zurück und bekreuzigte sich rasch.

„Detective …“, sagte Nell und setzte sich kerzengerade auf. Hinter den dünnen Vorhängen im Erdgeschoss sah sie schemenhafte Gestalten sich bewegen.

„Das ist Maureen, unser Mädchen – scheint Probleme zu geben“, meinte Cook, schlug die Zügel fester und drängte die Pferde rascher vorwärts. „Es ist bestimmt wegen Chloe. Irgendwas ist mit dem …“

„Nein, das glaube ich nicht“, sagte Nell und packte ihn fest beim Arm, als er vor dem Haus anhalten wollte. „Fahren Sie weiter.“

„Was? Aber Chloe …“

In einem der oberen Fenster wurden die Vorhänge beiseitegezogen. Eine blonde Frau mit schmalem Gesicht – Chloes Freundin Lily Booth, vermutete Nell – lehnte sich weit heraus und schrie: „Fahren Sie weiter, Colin! Fahren Sie schnell weiter!“

Und da flog auch schon die Haustür auf, und zwei blau uniformierte Polizisten – einer von ihnen Skinner – kamen mit gezogener Waffe herausgestürmt.