15. KAPITEL
Aus einer schräg gegenüberliegenden Gasse kamen drei weitere Polizisten angerannt, und einer sprang jäh hinter einem Baum hervor.
Geistesgegenwärtig schnappte Cook sich die Zügel, aber zwei der Männer hatten die Pferde schon beim Halfter gepackt. Die verschreckten Tiere wieherten laut und bäumten sich auf, bewegten sich jedoch nicht von der Stelle.
„Steigen Sie langsam und mit erhobenen Händen ab“, befahl Skinner Detective Cook, als er sich mit gestreckter Waffe dem Buggy näherte. „Und Finger weg von Ihrer Pistole, oder ich knall Ihnen eine Kugel durch den Kopf wie Sie’s bei dem guten alten Johnny gemacht haben.“
„Bleiben Sie hier“, bat Cook Nell mit leiser, eindringlicher Stimme und fasste sie beim Arm. „Kümmern Sie sich um Chloe. Ich bitte Sie, retten Sie unser Kind.“
„Ja, wird’s bald, Cook?“, brüllte Skinner, seine Pistole mit beiden Händen auf Cooks Kopf gerichtet.
„Ich werde tun, was ich kann“, versprach ihm Nell und legte ihre Hand auf seine. „Passen Sie auf sich auf, Colin. Dieser Mistkerl wartet nur darauf, dass Sie ihm einen guten Grund geben, Sie zu erschießen. Gönnen Sie ihm diese Genugtuung nicht – wenn schon nicht um Ihretwillen, so doch Ihrer Frau zuliebe.“
„Ich wage zu behaupten, dass Sie nun beide wohlbehalten über den Berg sind und wir das Unheil gerade noch mal glimpflich abgewendet haben“, versicherte Will der erleichterten Chloe Cook, als er am nächsten Morgen an ihrem Bett stand und nach erfolgter Untersuchung die Decke wieder über sie zog. „Das Herz des Babys schlägt kräftig und regelmäßig, und Sie hatten ja nun auch keine Wehen mehr seit … seit wann?“ Fragend drehte er sich zu Nell um, die mit Lily Booth am Fußende des Bettes stand. „Wann meintest du noch mal, dass die Krämpfe aufgehört hatten?“
„Gestern, am frühen Nachmittag“, erwiderte Nell.
„Gleich nachdem sie die erste Tasse Schneeballtee getrunken hatte“, fügte Lily noch mit anerkennendem Blick hinzu.
Das Erste, was Nell nach Cooks Verhaftung getan hatte – noch ehe sie hinauf zu Chloe ging –, war in die Küche zu eilen und einen Kessel Wasser aufzusetzen. Sie bereitete aus dem Heilkraut einen besonders starken Aufguss und süßte ihn mit Honig, um den bitteren Geschmack ein wenig zu mildern. Diesen Tee verabreichte sie Chloe dann in regelmäßigen Abständen.
Als Will am späten Nachmittag eingetroffen war, hatten Chloes Krämpfe und Blutungen bereits aufgehört. Obwohl sie sich noch immer furchtbar um das Wohlergehen ihres Mannes sorgte und soeben von Maureen für eine Handvoll Dollar verraten worden war, hatte sie nun zumindest die beruhigende Gewissheit, dass es ihrem Kind gut ging und es vorerst sicher und wohlbehalten in ihrem Bauch bliebe, wo es hingehörte.
„Nell …“ Chloe, noch immer sichtlich erschöpft von ihren Qualen, doch nicht mehr gar so blass, streckte die Hand nach ihr aus.
Nell trat neben sie und schloss ihre Hand um Chloes.
„Ich schulde Ihnen mehr, als ich jemals begleichen könnte“, meinte Chloe.
Nell drückte ihre Hand und sagte: „Ich werde Ihnen genügend Schneeballkraut hierlassen. Bei dem ersten kleinen …“
„Keine Sorge“, versicherte ihr Lily, die beschlossen hatte, vorübergehend bei den Cooks einzuziehen und sich um Chloe zu kümmern, bis das Baby wohlbehalten entbunden war. „Ich werde jeden Morgen eine Kanne davon machen – für alle Fälle.“
„Das Wichtigste ist“, sagte Will zu Chloe, „dass Sie sich schonen und sich so wenig Sorgen wie irgend möglich machen. Versuchen Sie ganz ruhig zu bleiben und sich wegen Ihres Mannes nicht allzu sehr aufzuregen. Ich verspreche Ihnen, dass wir alles daransetzen werden, ihn freizubekommen.“
„Na, dann mal los“, meinte Chloe. „Ich komme hier schon zurecht. Und Lily ist ja bei mir. Gehen Sie und tun, was immer zu tun ist, um ihn mir wieder nach Hause zu bringen.“ Mit der Hand streichelte sie ihren Bauch und fügte hinzu: „Um ihn uns wieder nach Hause zu bringen.“
Die Morgensonne brannte schon hell und recht warm, als Nell und Will die Fayette Street in Richtung Pleasant Street hinabliefen, wo sie eine freie Mietdroschke zu finden hofften. Nell rieb sich die Augen, die von der schlaflos verbrachten Nacht ganz trocken und gereizt waren, und sie fragte sich, ob sie wohl ebenso zerschlagen aussah, wie sie sich fühlte.
Will sah eigentlich genauso aus wie immer – mal abgesehen davon, dass ihm ein, zwei Haarsträhnen unordentlich herabhingen und sein Rock etwas zerknittert war, weil er während der Nacht in dem Sessel in einer Ecke von Chloes Zimmer kurz eingenickt und ein knappes Stündchen geschlafen hatte.
„Und wohin jetzt?“, fragte sie und konnte ein Gähnen nicht mehr unterdrücken.
„Palazzo Hewitt – damit du endlich deinen wohlverdienten Schlaf findest“, meinte er lächelnd.
„Und du? Bist du denn gar nicht müde?“
„Nein, eigentlich nicht. Ich habe ja immerhin ein kleines Nickerchen gehalten und bin es auch eher gewohnt, ohne Schlaf auszukommen – das harte Los eines Spielers, musst du wissen. Ich werde mich nur kurz waschen und umziehen und dann mal versuchen herauszufinden, ob man Cook schon angeklagt hat, und wenn ja, ob der Richter seine Freilassung gegen Kaution gewährt.“
„Hältst du das für möglich?“
„Eher nicht – zumal Cook ja schon mal unter Beweis gestellt hat, dass sein Fluchtinstinkt sehr ausgeprägt ist. Aber möglich ist alles. Auf jeden Fall werde ich ihm zuerst einmal einen guten Anwalt besorgen.“
„Den besten, den du auftreiben kannst“, bat Nell. „Er wird ihn brauchen.“
Wills gestrige Unterredung mit Larry Pinch und Ezra Chapman im Somerset Club hatte die Schlinge um Detective Cooks Hals leider nur noch fester zugezogen. Die beiden hatten Cook tatsächlich mit gezogener Waffe über den toten Johnny Cassidy bebeugt gesehen, hatten ihn folglich für den Mörder gehalten und würden das auch vor Gericht bezeugen. Laut Will waren sie zwar ebenso arrogante Nichtsnutze wie ihr gemeinsamer Freund Harry Hewitt, doch ungeachtet dessen und trotz ihres regen Opiumkonsums hegte er wenig Zweifel, dass ihr gesellschaftliches Ansehen ihrer Aussage erhebliches Gewicht verleihen würde, sollte der Fall vor Gericht kommen.
„In Anbetracht der Tatsache, dass etliche Zeugen gehört haben, wie Ben Shute Johnny Cassidy gedroht hat, ihn umzubringen“, fügte Nell hinzu, „wäre es vielleicht auch keine schlechte Idee, dem Nabby’s heute Abend noch mal einen Besuch abzustatten. Wir könnten fragen, ob er auch an besagtem Dienstagabend dort gesehen worden ist. Wenn er tatsächlich so wütend und in seinem Stolz verletzt war, wie Detective Cook meinte, könnte er vielleicht …“
„Nell.“ Will fasste sie beim Arm und bedeutete ihr stehen zu bleiben. Sein Blick war auf das Oberteil ihres grauen Seidenkleides gerichtet, das sie seit gestern trug. „Was ist das?“, fragte er und deutete auf die rotbraunen Flecken, die nur teilweise von dem Rüschenbesatz verdeckt wurden, der von den Schultern spitz zulaufend bis zur Taille reichte. In dem Dämmerlicht im Hause der Cooks waren sie nicht weiter aufgefallen, aber hier, im grellen Sonnenschein, war nur allzu offensichtlich, worum es sich handelte.
„Das ist doch nicht etwa dein Blut, oder?“, fragte er.
„Nein. Nein, es ist …“ Nell zögerte kurz und überlegte, wie Will das wohl aufnehmen würde. „Es stammt von Duncan.“
Einen Augenblick war Will sprachlos. „Duncan Sweeney?“, fragte er dann etwas begriffsstutzig. „Dein Mann?“
„Ich … ja. Nachdem du gestern zum Somerset Club gegangen warst, habe ich ihn besucht, im Gefängnis …“
„Du hast was?“
„Ich wollte doch nur … ich musste …“
„Ganz allein?“, fragte er ungläubig und packte sie eine Spur zu fest bei den Armen. „Da versuche ich die ganze Zeit, für deine Sicherheit zu sorgen, damit dir nichts passiert, und was machst du? Was hast du dir nur dabei gedacht, Nell? Warum um alles in der Welt bist du ohne mich …“
„Um ihm zu sagen, dass ich mich scheiden lassen will.“
Will verstummte und sah sie an, als könne er seinen Ohren nicht recht trauen. Dann lockerte er seinen Griff um ihre Arme, streichelte sie leicht, schien jedoch kaum zu merken, was er tat. „Tatsächlich? Und was … was ist mit der Kirche?“
„Ich habe viel darüber nachgedacht, Will – sehr viel, um genau zu sein, und ich … ich finde, dass du recht hast. Gott würde sich niemals von mir abwenden. Die Kirche ist längst nicht mehr das Problem. Das Problem ist Duncan.“
„Natürlich – er will dich nicht freigeben“, erriet Will ganz richtig, dem dieses leidige Thema nur allzu bekannt war.
„Er sagt, ich wäre alles, was ihm auf der Welt noch geblieben ist. Wenn er so anfängt, bekomme ich fast Mitleid mit ihm, aber dann … dann fällt mir wieder ein, warum ich ihn überhaupt verlassen habe und …“
Will runzelte die Brauen, betrachtete die Blutspritzer auf ihrem Kleid und fragte: „Was ist passiert?“
„Als ich ihm sagte, ich würde ihm die Unterlagen für die Scheidung zuschicken, hat er völlig die Beherrschung verloren. Da habe ich ihm kurzerhand eins auf die Nase gegeben.“
„Nell, Nell, Nell …“ Mit beiden Händen umfasste Will ihr Gesicht und meinte: „Ich bin stolz auf dich, dass du dich zu wehren weißt, sehr stolz sogar, aber ich möchte dich trotzdem nicht noch einmal in einer solchen Lage wissen. Dieser Mann ist nicht ganz bei Sinnen. Du solltest ihm nie wieder gegenübertreten müssen – schon gar nicht allein. Wenn du irgendwann noch einmal mit ihm sprechen musst, sag mir Bescheid, und ich begleite dich.“
„Ich bezweifle, dass ihn das versöhnlicher stimmen würde“, bemerkte Nell trocken.
„Es ist mir egal, wie er gestimmt ist. Ich will nur nicht, dass dir etwas geschieht. Und was die Scheidung anbelangt – wenn er sich dagegen wehrt, wehrst du dich auch. Ich besorge dir den besten Anwalt, den ich auftreiben kann. Wir …“
„So einfach ist das nicht, Will.“
„Du meinst wegen der Kosten? Ich komme für alles auf.“
„Oh, Will, das kann ich unmöglich …“
„Himmel noch mal, Nell“, unterbrach er sie gereizt. „Ich dachte, das hätten wir geklärt.“ Einen Moment sah er beiseite, als müsse er sich erst beruhigen. Dann streichelte er sanft ihre Wange und fügte etwas versöhnlicher hinzu: „Das Geld bedeutet mir nichts. Ich habe es beim Faro gewonnen. Warum sollte es nicht zu etwas Besserem nutze sein, als nur wieder beim Spiel gesetzt zu werden? Ich weiß, dass eine Scheidung nicht leicht sein wird, wenn Duncan damit nicht einverstanden ist. Ich weiß, dass es lange dauern wird und du es geheim halten musst, aber …“
„Genau das ist das Problem“, sagte sie. „Ich werde es nicht geheim halten können. Er wird sich meinem Antrag nicht nur widersetzen, Will. Er will es deinen Eltern erzählen. Einen Brief will er ihnen schreiben, ihnen von meiner Ehe berichten und meiner Vergangenheit als Taschendiebin.“
„Verdammt.“ Wieder sah Will beiseite, blickte die Straße hinab und rieb sich nachdenklich den Nacken. Dann schloss er die Augen und flüsterte: „Dieser verdammte Mistkerl.“ Solch ungehemmtes Fluchen hatte er sich in ihrer Gegenwart bislang noch nie erlaubt.
„Wenn sie herausfinden – insbesondere dein Vater –, was ich ihnen alles verheimlicht habe“, fuhr Nell verzweifelt fort, „bin ich ruiniert. Ich würde alles verlieren. Meine Anstellung, meinen Lebensunterhalt, mein Zuhause, meinen Ruf … Dein Vater hasst mich. Er wird dafür sorgen, dass ich nirgends mehr einen Fuß auf den Boden bekomme. Aber das Schlimmste wäre, dass ich Gracie verlieren würde. Man würde mir nicht mehr erlauben, sie zu sehen. Vielleicht würde dein Vater sie sogar ganz fortschicken – so wie dich, als du klein warst. Das kann ich nicht riskieren.“
„Es … es muss doch irgendeine andere Möglichkeit geben“, stieß Will grimmig hervor, „damit du loskommst von diesem … diesem …“
„Ich habe mir die Sache wirklich von allen Seiten betrachtet, Will, und sollte es eine Möglichkeit geben, so liegt sie nicht in meiner Macht. Vor zwölf Jahren habe ich versprochen, mich in guten und in schlechten Zeiten an Duncan zu binden bis dass der Tod uns scheide. Und es sieht so aus, als würde Gott mich beim Wort nehmen.“