16. KAPITEL

Es war Samstagabend, und die Boxkämpfe hatten bereits begonnen. Das war unschwer aus dem nach Blut dürstenden Gegröle zu schließen, das Nell und Will entgegenbrandete, kaum dass sie über die Schwelle von Nabby’s Inferno getreten waren. Obwohl die Kämpfe auf dem Tanzboden im hinteren Teil des Saloons ausgetragen wurden, hallten die Schreie – „Los, mach ihn kalt!“ oder „Zeig’s ihm, dem Mistkerl!“ – so laut in Nells Kopf wider, als stünde sie selbst inmitten des Rings.

Riley, der Barkeeper, nickte ihnen kurz zu, als sie zu ihm hinüberkamen, wenngleich er angesichts von Nells Garderobe ein wenig enttäuscht zu sein schien. Zwar trug sie heute denselben blau schillernden Satinrock mit Turnüre aus Mary Agnes’ Beständen wie Donnerstagabend, doch diesmal hatte sie ihn mit einer ihrer eigenen weißen Spitzenblusen kombiniert. Obwohl sie die obersten Knöpfe offen gelassen hatte, war sie vergleichsweise sittsam gekleidet.

Nachdem sie ein paar Minuten lang über allerlei Belanglosigkeiten geplaudert hatten, fragte Will Riley, ob ihm auch dieser einbeinige Gesell aufgefallen wäre, der am Montagabend von Johnny Cassidy aus dem Saloon geworfen worden war. „Leider war ich ja selbst nicht dabei“, sagte Will mit seinem Bostoner Akzent, „aber ich hab davon gehört. Na, und jetzt frage ich mich gerade, ob das vielleicht der Bursche war, mit dem ich mal zusammen in der Armee war und ob irgendwer ihn hier kannte und weiß, wie er heißt.“

„Nee, der ist mir auch erst aufgefallen, als Johnny ihn hochkant rausgeschmissen hat“, meinte Riley und wischte den Tresen mit dem schmuddeligen Lappen ab, mit dem er auch die Gläser putzte. „Keine Ahnung, wie der heißt. Ist kein Stammgast.“

„Wirklich nicht?“, fragte Will. „Ich hab aber gehört, dass er am nächsten Abend gleich noch mal gekommen sein soll.“

„Dienstag? Nicht dass ich wüsste“, brummte Riley. „Und ich steh ja hier gleich bei der Tür und bekomm eigentlich alles mit. Aber gut, als dann Johnny erschossen worden war, ging hier eh alles drunter und drüber, kann schon sein, dass ich ihn da nicht bemerkt habe.“

„Ich glaub, dass er schon vorher gekommen ist“, meinte Will.

Riley schüttelte den Kopf und sagte: „Finn weiß das vielleicht. Er hat am Dienstagabend zwar geboxt, aber eigentlich entgeht ihm nix, was hier so vor sich geht.“

„Ah ja, danke. Dann frage ich mal ihn.“

„Da werden Sie aber warten müssen, bis das Match vorbei ist.“ Mit dem Kopf deutete Riley in den hinteren Teil des Saloons. „Er steht nämlich gerade gegen Bulldog Cunigan im Ring.“

Am Eingang zum Tanzboden blieben sie stehen und gesellten sich zu den johlenden und jubelnden Zuschauern. Die Menge hatte sich dicht an dicht um die von Seilen abgetrennte hölzerne Plattform geschart, auf der Finn und sein deutlich kleinerer, dafür aber umso stämmigerer Gegner mit bloßen, blutbesudelten Fäusten aufeinander einschlugen. Das Geschrei und Getobe des Publikums war ohrenbetäubend, das Gerangel oben im Ring brutal und unerbittlich.

„Zeig’s ihm, Southpaw!“, brüllte jemand. „Der kriegt sein Fett weg.“

„Schnapp ihn dir, Finn!“, kreischte eine Frau, die ganz vorne am Ring stand und sich im Eifer des Gefechts an die Seile klammerte – es war Pru. „Los, hau rein!“

Und Finn haute rein. Schlag um Schlag musste Cunigan einstecken und taumelte zurück, während Finn unermüdlich auf den Kopf seines Gegners einhieb. Schweiß flog durch die Luft, als der große, kräftige Ire seinen Gegner mit den Fäusten traktierte, das Gesicht zu einer wilden Grimasse verzogen, die Nell schaudern ließ. Cunigan hing längst abgeschlagen in den Seilen, doch Finn holte noch einmal mit seiner Linken aus und hieb sie ihm wie einen Vorschlaghammer ins Gesicht, sodass das Augenlid seines Gegners platzte und Blut in den Ring spritzte.

Nell hielt sich keuchend den Bauch und musste sich sehr zusammenreißen, damit ihr nicht übel wurde.

„Nell.“ Will legte seinen Arm um sie und drängte sie fort von dem grausigen Geschehen. „Alles in Ordnung?“, fragte er und musste fast schreien, um sich inmitten des tosenden Lärms Gehör zu verschaffen.

Zitternd rang sie nach Atem und meinte schließlich: „So eine Bestie!“

Will nickte. „Für ihn ist das kein Sport mehr, er ist besessen. Man muss sich nur mal seine Augen ansehen – es macht ihm Spaß, seinen Gegner bis aufs Blut zu prügeln. Komm, lass uns erledigen, was wir hier noch zu tun haben, dann können wir wieder verschwinden.“

Aber als sie die Barmädchen und die Kellnerinnen befragten, hatte auch von denen niemand Ben Shute am Dienstagabend ins Nabby’s zurückkehren sehen. Bis sie schließlich so weit waren, Mutter Nabby höchstpersönlich ins Verhör zu nehmen, war das Match dann auch vorbei. Es überraschte Nell, wie lange Cunigan noch durchgehalten hatte, schien er doch vorhin schon völlig erledigt gewesen zu sein. Allerdings hatte Finn gewiss auch keine Skrupel, noch eine Weile auf einen bereits geschlagenen Gegner einzuprügeln.

„Wenn ich hier hinten sitze, bekomme ich natürlich nix von dem mit, was da vorne so los ist“, sagte Mutter und paffte an ihrer Pfeife. „Aber zufällig weiß ich, dass Johnny am Montag so einen armen Krüppel rausschmeißen musste.“

„Und ob er noch mal wiederkam, wissen Sie nicht?“, fragte Nell.

Mutter schüttelte den Kopf. „So, jetzt hören Sie mir mal zu – die Wohnung ist fertig, Sie können da jederzeit einziehen. Das Blut ist auch alles weg.“

„Gut zu wissen. Treibt Denny Delaney sich hier irgendwo rum?“, fragte Will.

„Ja, der ist unten – ausfegen“, erwiderte sie. „Soll er zumindest. Wahrscheinlich hockt er wieder irgendwo rum und steckt die Nase in ein Buch, dieser elende Faulpelz.“

„Ein Bein und ein Auge?“, fragte Denny. Sie hatten ihn in einer der leeren Tanzkabinen gefunden, wo er auf dem Strohsack lag und bei flackerndem Kerzenlicht ‚Der letzte Mohikaner‘ las. Der Besen lag neben ihm auf dem Boden. Als sie ihn dort entdeckt hatten, war er ganz außer sich geraten, dass er jetzt dafür bestraft werde, weil er sich auf die faule Haut gelegt hatte. Erst als sie ihm versicherten, dass sie ihn nicht verraten würden, hatte er sich wieder etwas beruhigt.

„Ja“, sagte Will, „wenn es der Bursche ist, den ich meine. Er hat beide in Fredericksburg verloren.“

Denny setzte sich auf und meinte: „Doch, den hab ich geseh’n. Er ist mir aufgefallt, nein, aufgefallen, weil er Montagabend mit Detective Cook zusammensaß. Da dachte ich mir, die beiden sind bestimmt befreundet. Irgendwann waren sie dann verschwunden, aber der Typ mit dem Holzbein … also, der kam später noch mal …“ Er sah beiseite, reckte dann das Kinn und sagte: „Er und Mary … na ja, Sie wissen schon.“

„Sie ist mit ihm nach unten gegangen.“

Der Junge nickte und zupfte an der zerschlissenen Wolldecke, die auf dem Strohsack lag. „Johnny hat ihn rausgeschmissen. Das war eigentlich nix Besonderes, weil er andauernd Leute rausgeschmissen hat, also eben die Typen, die … mit Mary. Ich denke mal, dass ein paar von denen ziemlich grob zu ihr waren, denn danach hab ich sie oft mit blauen Flecken und so gesehen. Ich meine, Johnny hat sie natürlich auch verprügelt, manchmal, aber wahrscheinlich wollte er trotzdem nicht, dass andere sie so hart rannehmen. Mal habe ich sie gefragt, warum sie sich das überhaupt gefallen lässt, aber da meinte sie nur, das wäre sehr schwer zu erklären, und ich würd’ es sowieso nicht verstehen.“

„Hast du ihn nach diesem Abend dann noch mal gesehen?“, wollte Nell wissen. „Den Mann, den Johnny rausgeschmissen hatte?“

„Ja, klar. Der kam am nächsten Abend wieder. Das weiß ich deshalb noch so genau, weil Johnny kurz darauf umgebracht worden ist.“

Nell und Will sahen sich bedeutungsvoll an.

„Oben lief gerade ein Boxkampf“, fuhr Denny fort. „Nicht der erste, der hat nämlich nur zwei Runden gedauert, dann hatte Finn Davey Kerr schon k.o. geschlagen. Der zweite hatte gerade begonnen.“

„Der zweite hatte gerade begonnen“, wiederholte Will nachdenklich. „Das müsste dann wohl Muldoon gegen McCann gewesen sein, nicht wahr?“

„Ganz genau. Die erste Runde war eben eingeläutet worden, und ich bin mal kurz raus, um … äh …“ Verlegen schaute er Nell an. „Sie wissen schon.“

„Um aufs Klo zu gehen?“, mutmaßte Will.

Denny nickte. „Als ich fertig war, steht da dieser Typ in der Gasse hinter dem Hof und schaut sich irgendwas an, was er in der Hand hält. Weil es so dunkel war, konnte ich erst gar nicht erkennen, was er da hatte. Aber dann hat er aufgeschaut, und ich hab gesehen, dass es der Typ von gestern war – der mit dem Holzbein, den Johnny rausgeschmissen hatte. Er hatte einen Zylinder auf, so ’nen feinen Rock an … Plötzlich ruft er mich zu sich, und als ich näher komme, hab ich dann gesehen, dass er eine Zeitung in der Hand hatte.“

„Eine Zeitung?“, fragte Nell verwundert.

„Ja, ganz fest zusammengefaltet. Er meinte, er würde mir zwei Quarter geben, wenn ich das Johnny Cassidy bringen würde, aber ich müsste es ihm persönlich geben, nicht einfach irgendwo für ihn hinlegen. Klar, sagte ich, kann ich machen. Er hat mir die zwei Quarter und die Zeitung gegeben und ist verschwunden.“

Wills düstere Miene drückte in etwa aus, wie Nell zumute war. Wahrscheinlich waren in die Zeitung tausend Dollar eingewickelt gewesen. Aber würde Ben Shute Johnny denn erst das Schweigegeld zahlen, um ihm danach eine Kugel durch den Kopf zu jagen? Diese neuerliche Wendung der Ereignisse entlastete Shute, wohingegen Colin Cook weiterhin zu dem kleiner werdenden Kreis der Verdächtigen zählte.

Nell räusperte sich. „Hattest du denn noch Gelegenheit, Johnny die Zeitung zu geben, bevor er …“

„Nee, das ging dann alles so schnell, und eh ich ihn noch gefunden hatte, war er auch schon … erschossen worden.“

„Was hast du mit der Zeitung gemacht?“, fragte Will ihn. „Wenn du sie noch hast, würden wir sie uns gern mal ansehen.“

Denny zog die Stirn in tiefe Falten. „Hmm, ja … weiß auch nicht. Kann mich gar nicht mehr erinnern, aber vielleicht …“ Er verstummte, sah kurz auf und dann rasch wieder beiseite. „Also, ich glaube … ja, doch, ich glaube, ich hab sie einfach irgendwo fallen lassen, Sie wissen schon, nachdem Johnny erschossen worden war. Da ging hier alles drunter und drüber, alle riefen und rannten wie wild durcheinander. Hab ich dann ganz vergessen, die Zeitung.“

Nell seufzte leise und ging in die Hocke, damit sie dem stammelnden Jungen in die Augen schauen konnte. „Denny“, sagte sie.

Er blickte auf, blickte wieder beiseite.

„Wo ist sie, Denny?“

„Ich … keine Ahnung. Hab ich Ihnen doch gerade erzählt.“

„Du hast in die Zeitung reingeschaut, nicht wahr?“, fragte sie weiter. „Und hast gesehen, was drin war.“

„Nein. Nein, ehrlich nicht! Ich schwöre, dass ich nur …“

„Schon gut“, beschwichtigte Will. „Wir sind nicht böse auf dich. Wir wollen nur …“

„Ich hab sie nich’!“, rief Denny und sprang hastig auf. „Ich hab da nich’ reingeschaut, ehrlich nich’!“

„Denny, wir glauben, dass in dieser Zeitung eine Menge Geld versteckt war“, sagte Will. „Eintausend Dollar.“

Der Junge starrte ihn an.

„Wir wissen, dass du ein guter Junge bist“, sagte Nell. „Du bist Detective Cook sehr ähnlich. Du glaubst an das Gute im Menschen und daran, dass man immer tun sollte, was man für richtig hält. Wenn du uns sagst, wo das Geld ist, würden wir es gern dem Mann zurückgeben, der es dir gegeben hat.“

„Wer sind Sie eigentlich wirklich?“, wollte Denny wissen. „Wenn Sie nur hier wären, weil Sie die Wohnung mieten wollen, wüssten Sie doch das alles gar nich’ und würden nich’ so viele Fragen stellen.“

Nach einem kurzen Blick zu Will meinte Nell: „Wir sind Freunde von Detective Cook. So wie du.“

„Wir wissen, dass du uns angelogen hast“, fügte Will hinzu. „Du hast uns weisgemacht, dass du oben warst, als man Johnny erschossen hatte, dabei warst du hier unten gewesen.“

Denny drängte sich zwischen ihnen hindurch und sagte: „Ich sollte mal zuseh’n, dass ich wieder nach oben komme, bevor …“

Indem er dem Jungen seine Hand fest auf die Schulter legte, hielt Will ihn zurück und meinte: „Wir wissen auch, dass du gesehen hast, wie Detective Cook mit seiner Pistole in der Hand über Johnny gebeugt stand. Und dass Mary dich nach oben geschickt hat.“

„Finn würde mich …“ Hektisch fuhr Denny sich mit den Händen durchs Haar. „Ich … ich hätte nich’ da unten sein dürfen.“

„Aber nun hast du gesehen, was du gesehen hast“, sagte Will, „und noch immer glaubst du nicht, dass es Cook war, der Johnny umgebracht hat?“

„Er ist kein Mörder“, beharrte Denny. „Er war’s nich’.“

„Hast du Constable Skinner deshalb verschwiegen, dass du Cook am Tatort gesehen hast?“, fragte Nell. „Oder wolltest du einfach nur keinen Ärger haben, weil du hier warst, obwohl du nicht hier unten hättest sein dürfen?“

„Die mögen das hier nicht, wenn ich unten im Keller rumhänge und … ähm, lese.“

„Aber wenn du oben liest, scheint es keinen groß zu kümmern“, bemerkte Nell.

„Hat es nicht eher damit zu tun, dass Mary hier unten wohnte?“, fragte Will. „Weil sie nicht wollten, dass du dich so oft in der Nähe ihrer Wohnung herumtreibst?“

Sichtlich verlegen ließ Denny seinen Blick zwischen ihnen schweifen, das Blut stieg ihm heiß in die Wangen.

„Wir wissen, dass du sie heimlich beobachtet hast“, sagte Will. „Und wir wissen, dass das der Grund war, weswegen letztes Jahr ein Schloss an der Tür zum Kohlenkeller angebracht wurde.“

„Und weswegen Finn dir die Nase und die Finger gebrochen hat“, fügte Nell hinzu. „Wenn du mich fragst, eine unangemessen harte Strafe, die durch dein kleines Vergehen keineswegs gerechtfertigt war.“

Denny vergrub seine Hände in den Hosentaschen und murmelte etwas vor sich hin, von dem wenig mehr als das eine Wort „Mary“ zu verstehen war.

„Wie bitte?“, fragte Nell.

„Ich hab gesagt, dass sogar Mary fand, dass ich zu hart bestraft worden wär’. Sie hat’s mir gesagt. Dann wollte sie wissen, wie es überhaupt kam, dass ich damit angefangen hätte, und da hab ich ihr erzählt, dass ich eines Tages dieses Loch gefunden hatte, als sie mich in den Kohlenkeller geschickt hatten, um Fusel zu holen, und als ich durchgeschaut habe, hab ich sie eben gesehen – wie sie da am Tisch saß und ganz allein Karten gespielt hat. Auf dem Tisch stand ’ne Kerze, und das Licht fiel auf ihr Gesicht, und ihr Haar leuchtete wie ein großer roter Heiligenschein. Sie sah aus wie auf diesen Heiligenbildern, und irgendwie traurig, aber so schön. Nicht so wie die andern Mädels hier. Sie war wirklich hübsch und nicht nur hübsch angemalt und so. Und es war irgendwie … schwer wegzugucken. Aber ich hab ihr auch gesagt, dass es nicht stimmte, was die andern sagen, dass ich zugeschaut hätte, während sie … Sie wissen schon. Wenn sie nix anhatte. Das habe ich nicht.“

„Wirklich nicht?“, fragte Will. „Nicht ein einziges Mal?“

Mit gesenktem Blick und leiser Stimme sagte der Junge: „Doch, einmal, als ich gerade schaute, hat sie angefangen, sich auszuziehen, weil sie schlafen gehen wollte. Ich … also, ich hab zugeschaut, bis sie bei ihrem, Sie wissen schon, ihrem Unterrock und so war, und ich glaube schon, dass ich am liebsten weiter zugeguckt hätte, aber ich wusste, dass ich das Pater Gorman beichten müsste. Außerdem würde ich damit alles kaputt machen. Wissen Sie, was ich meine? Irgendwie würde das Gucken dann unanständig – aber bisher war gar nix Unanständiges dabei gewesen. Deshalb bin ich dann doch gegangen.“

„Und das hast du Mary alles erzählt?“, fragte Will.

Denny nickte. „Sie meinte, sie wäre stolz auf mich, dass ich gegangen wäre, denn es würde ihr überhaupt nicht gefallen, beobachtet zu werden, aber sie würde das schon verstehen. Schließlich sei ich auch nur ein Junge und hätte hier ja keine Mädchen – also zumindest keine netten –, und Jungs wären eben neugierig.“

„Wusste sie denn auch, dass du in sie verliebt warst?“, fragte Nell vorsichtig.

Denny sah so jäh auf, als wolle er diese ungeheuerliche Unterstellung ganz entschieden abstreiten, senkte den Blick dann indes und murmelte: „Keine Ahnung. Vielleicht. Sie ist ganz schön clever und weiß richtig viel … über Menschen und so. Nachdem ich … also, nachdem ich erwischt worden war, wie ich heimlich durch das Guckloch geschaut habe, hat sie ziemlich viel mit mir geredet und hat mir alles Mögliche erzählt. Auch über Mädchen und so. Und dass ich zusehen soll, dass ich von hier wegkomme, bevor ich genauso verdorben wäre wie alle andern hier. Verdorben, das hat sie wirklich so gesagt. Wenn man nur lang genug hier wäre, würde dieses Haus einen verderben – so hat sie das gesagt. Sie hat geglaubt, dass ich mich nach einer Weile auch zum Schlechten verändern würde, und deshalb wollte sie, dass ich wieder zur Schule gehe.“

„Du vermisst sie, was?“, fragte Nell mitfühlend. „Mary, meine ich.“

Der Junge nickte traurig. „Jetzt wird es hier nie wieder so sein wie früher. Weil sie weg ist, und Detective Cook auch …“

„Cook ist übrigens wieder aufgetaucht“, sagte Will.

„Er ist wieder da?“, fragte Denny freudig, doch sein Strahlen schwand jäh dahin, als er ihrer beider düstere Mienen sah. „Die glauben wohl, dass er es war, was?“

„Er ist verhaftet worden“, bestätigte Will. „Gestern Nachmittag ist er angeklagt worden, was bedeutet, dass er vor Gericht gestellt wird. Man hat ihn des Mordes beschuldigt, er beteuert aber weiter seine Unschuld. Doch weil der Richter seine Freilassung auf Kaution abgelehnt hat, muss er bis zur Verhandlung in Haft bleiben.“

„Und dann?“, fragte Denny.

„Dann hoffen wir, dass er freigesprochen wird“, erwiderte Will.

„Weil er nicht schuldig ist“, bekräftigte Nell.

„Glauben Sie denn, dass er freikommt?“, fragte der Junge, als Nell und Will sich schon zur Treppe umgewandt hatten.

Sie blieben stehen und sahen sich fragend an.

Schließlich meinte Nell: „Ich verspreche dir, dass wir wirklich alles tun werden, was in unserer Macht liegt, damit er freikommt.“

Nachdem sie wieder oben waren, befragten Nell und Will erneut alle, mit denen sie bereits zuvor gesprochen hatten. Vielleicht war ja irgendjemandem in der Mordnacht eine zusammengefaltete Zeitung aufgefallen. Verständlicherweise brachte ihnen diese Frage einige höchst befremdete Blicke ein, denn wen kümmerte schon eine vier Tage alte Zeitung?

„Ist wahrscheinlich mit dem Müll rausgeflogen“, meinte Mutter Nabby.

Eintausend Dollar, dachte Nell, einfach so im Müll gelandet. Der Gedanke war ihr schier unerträglich.

Finn Cassidy kam ins Hinterzimmer gepoltert, noch immer in seiner schweißfleckigen Boxerhose, die nackte Brust von Blutspritzern gesprenkelt. Pru eilte hinter ihm her und trug ein rot verschmiertes Handtuch so triumphierend in der Hand, als wäre es eine Trophäe.

„Ich hab gehört, dass Sie nach mir gesucht haben – vorhin, als ich im Ring war“, sagte Finn. „Riley hat gemeint, Sie hätten nach dem Krüppel gefragt, den Johnny am Montagabend vor die Tür gesetzt hat. Ich hab den Typen vorher noch nie geseh’n und seitdem auch nicht mehr. Ist das ein Freund von Ihnen?“

„Ich dachte, es könnte vielleicht dieser eine Bursche sein, den ich damals während des Krieges kannte“, sagte Will, „aber wahrscheinlich …“

„Da bist du ja, du kleines Miststück“, knurrte Mutter.

Als sie sich umdrehten, sahen sie Denny an der Tür stehen und Finn argwöhnisch beäugen. Sein Gesicht und seine Kleider waren voller schwarzer Rußflecken, und er hatte etwas unter den Arm geklemmt.

„Wurde ja auch langsam Zeit, dass du dich mal wieder hier oben blicken lässt“, fand Mutter. „Was hast du denn da?“

Denny hielt es kurz hoch, damit sie es sehen konnte, schaute dabei aber Nell und Will an. „Och, nur … nur so’ne Zeitung.“