17. KAPITEL

Mit einem Satz war Finn bei Denny angelangt und schnappte sich die Zeitung. „Hast du da unten etwa schon wieder gelesen?“

„Das macht er die ganze Zeit“, petzte Pru, während sie Finn andächtig mit dem Handtuch über Schultern und Rücken rieb.

Der hingegen ballte schon die Faust und meinte: „Ich glaube, dass er mal eine kleine Erinnerung braucht, was er hier eigentlich …“

„Das ist meine Zeitung“, schaltete Will sich ein und zog rasch die Zeitung aus Finns Händen. „Ich hatte schon die ganze Zeit danach gesucht. Danke, Denny. Du bist wirklich ein guter Junge.“

„Ha, wenn Sie wüssten“, höhnte Pru. „Eine miese kleine Kanalratte ist das.“

Ärgerlich stieß Finn sie beiseite, als sie ihm auch noch das Gesicht abtupfen wollte. „Willst du wohl endlich damit aufhören? Ich krieg ja kaum noch Luft, wenn du die ganze Zeit so an mir dranhängst.“

„Apropos Kanalratte“, meinte Mutter. „Skinner war eben da, um seinen Wochenlohn einzustreichen. Er hat gesagt, sie hätten den miesen Bullen gefasst, der Johnny erschossen hat. Sie wissen schon“, sagte sie an Nell und Will gewandt, „der arme Bursche, der die Wohnung hatte, die Sie mieten wollen. Skinner meinte, der Mistkerl würde da nicht mehr rauskommen – auch nicht auf Kaution. Der wäre geliefert und würde für den Mord hängen.“

„Gut so. Nicht nur ein Bulle, sondern auch noch ein Mörder.“ Finn spuckte verächtlich auf den Boden. „In der Hölle soll er schmoren.“

Pru drehte sich zu Denny um und stemmte die Hände auf die Hüften. „Was glotzt du denn so blöd? Finn, schau mal, wie dieser kleiner Stinker dich anglotzt!“

Tatsächlich bedachte Denny Finn mit einem unverhohlen erzürnten Blick. Nell fiel zudem auf, dass er das Kinn auf dieselbe Weise gereckt hatte, wie Will es tat, wenn er wütend war.

„Ganz schön dreist, mich so anzuschauen“, schnaubte Finn.

„Ja“, sagte Denny, und Nell war, als würde seine Stimme nicht nur im Zorn erbeben, sondern auch vor Angst, „und ganz schön dreist von dir, Detective Cook einfach einen Mörder zu nennen, wenn du es doch selbst warst, der Johnny abgeknallt hat!“

Finn starrte Denny mit weit aufgerissenen, gefährlich aufblitzenden Augen an. „Was hast du da gerade gesagt?“, stieß er tonlos hervor.

Prus grell geschminkte Lippen standen stumm offen, bevor sie schließlich ansetzte: „Was fällt dir eigentlich ein, du kleiner …“

„Doch, du hast deinen Bruder umgebracht“, beharrte Denny mit zitternder Stimme. „Wenn hier jemand in der Hölle schmoren sollte, dann ja wohl du!“

Finn stürzte sich auf ihn, holte mit der Faust aus. Und ehe Nell es sich noch versah, hatte Will sich geschwind dazwischengeworfen, fing den Hieb ab und verpasste Finn selbst einen scharfen Kinnhaken.

„Schnapp ihn dir, Finn“, kreischte Pru. „Der wehrt sich nicht, das ist ’n warmer Bruder! Los, hau ihm eine rein!“

„Pru!“, brüllte Mutter dazwischen, während die beiden Männer aufeinander einhieben. „Los, hol Skinner! Der ist eben erst weg und kann noch nich’ weit sein. Schau mal nebenan.“

Als Pru losrannte, bekreuzigte Nell sich und betete, dass Wills unschlagbar lange Arme und seine hoffentlich noch nicht ganz in Vergessenheit geratenen Boxkünste der rohen Gewalt eines Gegners gewachsen sein würden. Jedes Mal, wenn Finn mit geballter Faust Will einen heftigen Schlag verpasste, zuckte sie unwillkürlich zusammen und fragte sich, wie er das nur aushielt – und vor allem, wie lange. Allerdings entging ihr auch nicht, dass Will dank seiner Wendigkeit und größeren Schlagweite alles in allem mehr Treffer erzielte. Einer dieser Schläge traf Finn so empfindlich an der Schläfe, dass er haltlos taumelte und nach hinten an die Wand stürzte. Langsam rutschte er an der Wand hinab, sank schlaff wie eine Lumpenpuppe zu Boden, die Beine weit von sich gestreckt, ließ den Kopf hängen und stierte mit trübem Blick vor sich hin. Sein Gesicht begann bereits anzuschwellen, aus dem Mundwinkel rann ihm Blut.

„Alle Achtung“, meinte Denny und starrte ungläubig auf den gestürzten Giganten.

„Alles in Ordnung, Will?“, fragte Nell. Er hatte einen violett schimmernden Bluterguss auf der Stirn, eine blutende Schramme auf der Wange, und sie wusste, dass er auch einige empfindliche Hiebe in den Unterleib hatte einstecken müssen.

Doch er nickte nur, strich sich das wirre Haar aus der Stirn und rückte sich seinen Rock zurecht. Mit seinem vertrauten englischen Akzent meinte er: „Ich hatte fast vergessen, wie wohltuend ein paar mannhafte Leibesübungen sein können.“

„Sind Sie Engländer?“, fragte Mutter.

„Ich bekenne mich schuldig.“

Allem Anschein nach störte es sie nicht weiter, dass man sie bislang hinters Licht geführt hatte. „Auch gut. Sie müssen für mich boxen. Dienstags und samstags. Vier Dollar plus einen Teil von den Wetteinsätzen. Wir werden Sie als ‚Sir Soundso‘ oder ‚Lord Irgendwas‘ anpreisen. Engländer gegen Ire – das is’ gut. Die Leute werden ganz aus dem Häuschen sein. Ab und an müssen Sie auch mal einen Schlag einstecken, aber alles in allem wird es sich für Sie auszahlen.“

„Ein sehr verlockendes Angebot, Mutter. Und insgeheim habe ich mir ja schon immer einen Titel gewünscht. Aber leider werde ich Ihr Angebot ausschlagen müssen.“

„Dann eben fünf Dollar, und den Hühnerstall gibt’s umsonst dazu.“

„Den Hühnerstall auch? Hmm, ja … da könnte ich fast in Versuchung kommen.“

„Er gehört Ihnen – Ihnen allein“, bestätigte Mutter. „Sowie ich Finn da raus habe.“

Der geschlagene Champion schien noch immer recht benommen, seine Augenlider flackerten, und als er seinen Namen hörte, brabbelte er etwas Unverständliches, bevor er das Bewusstsein verlor.

„Wenn es stimmt, was Denny sagt“, meinte Nell, „wird der Staat Massachusetts von nun an für Finns Unterbringung Sorge tragen.“

„Ach, was weiß denn der Junge schon“, wehrte Mutter verächtlich ab und stopfte sich ihre Pfeife. „Er kann Finn nicht leiden, ist doch klar. Die beiden haben sich noch nie sonderlich verstanden.“

„Das würde natürlich erklären, warum Finn dem Jungen die Nase und die Finger gebrochen hat“, bemerkte Nell.

„Damit ist er noch glimpflich davongekommen“, fand Mutter. „Der kleine Spanner hat heimlich in Johnnys und Marys Wohnung geglotzt. Damit das endlich aufhört, musste ich das Schloss an der Tür zum Kohlenkeller anbringen.“

„Das dürfte wohl nicht viel gebracht haben“, sagte Nell und lächelte Denny verschwörerisch zu.

„Was soll das denn heißen?“, wollte Mutter wissen.

Denny nickte, als wolle er Nell damit seine Erlaubnis erteilen, zu erzählen, worauf sie eben erst selbst gekommen war.

„Er ist durch die Kohlenluke reingekommen“, fuhr Nell fort. „Schauen Sie ihn sich doch nur mal an – er ist voller Kohlenstaub.“

„Du elender kleiner Spanner!“, zischte Mutter.

„Ich hab nicht gespannt“, verteidigte sich Denny aufgebracht. „Also, zumindest nich’ so. Nachdem dann das Schloss an der Tür war, bin ich ganz lange nicht mehr in den Keller rein – drei oder vier Monate nich’ mehr. Aber eines Tages war ich gerade im Hof, und da hab ich Mary schreien gehört, als ob jemand sie schlagen würde. Na, und da hab ich die Kohlenluke gesehen und mir gedacht, vielleicht passe ich ja da durch. Ich bin also da durchgerutscht und auf dem Kohlenhaufen gelandet. Und wie ich dann durch das Loch geschaut habe, saß Mary auf dem Bett, das Gesicht in den Händen vergraben, und Johnny war wohl gerade eben weg. Ein paar Minuten habe ich noch geschaut – nur um sicher zu sein, dass alles in Ordnung ist mit ihr –, und dann bin ich durch die Luke wieder rausgeklettert.“

„Und von da an bist du immer auf diesem Wege hineingelangt?“, fragte Will.

„Nur wenn ich dachte, dass Mary … na ja, wenn ich dachte, sie würd’ vielleicht Hilfe brauchen. Also, wenn Johnny besoffen war und mal wieder eine seiner Launen hatte. Wenn er dann runterging, hab ich geschaut, dass ihr nix passiert. Mehr nicht. Ich hatte ihr ja versprochen, dass ich sie nicht mehr beobachten würd’ – also, zumindest nich’ mehr so wie früher eben.“

Mutter musterte Denny mit finsterem Blick. „Wie ein Mann dafür sorgt, dass seine Frau spurt, ist seine Sache und geht niemanden was an. Kapiert? Wenn Finn nicht gerade außer Gefecht wäre, würd’ ich ihn dir jeden Knochen in deinem mickrigen Körper brechen lassen. Und jetzt verschwinde – von jetzt an kannst du woanders faulenzen. Morgen will ich dich hier nicht mehr sehen, verstanden?“

„Ja, klar. Ich denk schon“, meinte Denny achselzuckend.

„Du konntest dir bestimmt denken, dass du nicht ungestraft davonkommen würdest, wenn Mutter und Finn herausfinden, was du da unten getrieben hast“, sagte Will. „Und doch hast du jetzt alles zugegeben.“

„Das hab ich wegen Detective Cook gemacht“, erwiderte der Junge. „Ich hätte es ja schon viel eher gesagt, aber ich dacht’ mir, die Bullen würden da schon selbst drauf kommen, dass es Finn war, der Johnny umgebracht hat, und dass ich es dann nich’ sagen müsste.“

„Weil dann auch herausgekommen wäre, dass du selbst dann noch heimlich in Johnnys und Marys Wohnung geschaut hast, als die Tür schon längst verschlossen war“, sagte Nell. „Wahrscheinlich hast du so auch beobachtet, wie Finn seinen Bruder umgebracht hat.“

„Ja, ich dacht mir, ist schon schlimm genug, dass Mutter mich wieder auf die Straße wirft, aber wenn Finn mich zwischen die Finger bekommt, könnt’ ich ja von Glück sagen, wenn er mir nur alle Knochen bricht. Aber jetzt, wo Cook im Gefängnis sitzt und sie ihn vielleicht hängen, wenn ich es nicht sage, da musste ich’s doch sagen! Wenn er an meiner Stelle wäre, würde er das auch so machen, damit mir nix passiert, und deshalb will ich auch nich’, das ihm was passiert, bloß weil ich mich nich’ trau, was zu sagen.“

„Warum erzählst du uns nicht alles schön der Reihe nach?“, meinte Nell. „Fang doch mit der Zeitung an: Wie ist die in den Kohlenkeller gekommen? Denn von dort, so vermute ich mal, hast du sie doch eben geholt.“

„Ja, als Sie mich vorhin danach gefragt haben, fiel mir ein, dass sie eigentlich nur da sein kann. Ich fand das nicht mehr so wichtig – war ja nur eine alte Zeitung, die ich Johnny hätte geben sollen, und der war ja jetzt tot.“

„Weshalb bist du überhaupt an jenem Abend in den Kohlenkeller gegangen?“, fragte Will. „Hast du dir wieder Sorgen um Mary gemacht?“

„Ja, aber nicht wegen Johnny – wegen ihm.“ Denny deutete auf Finn, der noch immer recht abgeschlagen und zusammengesackt an der Wand hockte. „Ich war in der Gasse hinter’m Haus. Das war kurz nachdem mir der Typ mit dem Holzbein das da gegeben hatte.“ Er nickte zu der gefalteten Zeitung hinüber, die Will in der Hand hielt. „Ich stand also gerade da in der Gasse und hab mich gefragt, was Johnny wohl mit ’ner Zeitung will, wo er doch kaum lesen kann, und da hör’ ich Finn Marys Namen rufen. Ich schaue also um die Hausecke, und da stand Finn, noch immer in seiner Boxerhose, so wie jetzt. Sein Match war vorbei, und das zweite hatte eben angefangen. Er hat an die Tür geklopft, aber wenn Mary was erwidert hat, hab ich es nicht gehört. ‚Lass mich rein, Mary‘, hat er immer wieder gesagt. ‚Ich will doch nur reden.‘ So was eben.“

„Hat er sie denn öfter alleine besucht?“, fragte Will.

„Nicht dass ich wüsste“, meinte Denny. „Johnny war oben, die Wetteinsätze für das zweite Match einsammeln. Wahrscheinlich ist Finn gerade dann zu ihr gegangen, weil er wusste, dass Mary jetzt allein war. Irgendwann hat sie die Tür dann einen Spaltbreit aufgemacht und was zu ihm gesagt, das ich aber nicht verstanden habe. Dann wollte sie die Tür wieder zumachen, doch Finn hat sie einfach aufgetreten.“

„Aufgetreten?“, wiederholte Will.

„Ja, so mit dem Fuß, und Mary hat geschrien, und da dachte ich, er hat ihr bestimmt wehgetan, oder vielleicht hatte sie auch nur Angst. Finn ist also rein, und ich hab noch gehört, wie er ‚Halt’s Maul‘ zu ihr gesagt hat, bevor er die Tür zugeknallt hat.“

„Und dann bist du durch die Kohlenluke geklettert“, folgerte Nell.

„Ich hab mir Sorgen um sie gemacht.“

„Na, Prügelei schon vorbei?“ Es war Charlie Skinner, der – mit Pru im Schlepptau –, hereinstolziert kam und erwartungsvoll seinen Schlagstock schwang. Als er den sich langsam berappelnden Finn sah, pfiff er anerkennend. „Sieht wohl so aus.“

„Finn!“ Pru stürzte sich auf ihn. „Was hat er dir getan?“

Skinner stubste Finn mit seinem Schlagstock in den Bauch. „Na los, sag schon – wer war das?“

„Er.“ Mutter zeigte auf Will. „Ich versuche schon die ganze Zeit, ihn dazu zu überreden, für mich in den Ring zu steigen. Dass jemand Finn Cassidy k.o. schlägt, hab ich auch noch nicht erlebt – zumindest nicht in ’ner knappen Minute.“

Skinner drehte sich um, und sein Gesicht verzog sich vor Verdruss, sobald er Nell und Will sah, die er zuerst gar nicht bemerkt hatte. „Sie beide schon wieder. Der Himmel erbarme mich meiner! Wenn Sie Ihre Finger mit im Spiel haben, will ich lieber nix damit zu tun haben.“

„Finn. Mein armer Liebling.“ Pru tätschelte ihrem Geliebten die Wange, schüttelte ihn bei den Schultern. Mit zornig funkelnden Augen fuhr sie zu Will herum und fauchte: „Du hast ihn umgebracht, du gottverdammte Schwuchtel!“

„Von einer Schwuchtel zur Strecke gebracht“, sinnierte Will. „Welch passendes Epitaph für Finn Cassidy.“

Eine Hand schützend auf Dennys Schulter gelegt, sagte Nell zu Skinner: „Dieser Junge war Zeuge des Mordes. Er hat am Dienstagabend heimlich durch ein Guckloch beobachtet, wie Finn Mary einen unerwünschten Besuch abgestattet hat. Sie wollte ihn nicht in die Wohnung lassen, doch er hat sich gewaltsam Zutritt verschafft.“

Pru schüttelte Finn unsanft. „Finn, aufwachen! Der kleine Scheißer erzählt Lügengeschichten über dich.“

Blinzelnd schlug Finn die Augen auf, stieß Pru beiseite und brummte: „Mach, dass du wegkommst. Hab dir schon mal gesagt, du sollst dich nich’ so an mich dranhängen.“

„Das sind keine Lügengeschichten“, verteidigte sich Denny. „Ich hab gesehen, was ich gesehen hab, und gehört, was ich gehört hab.“

„Ach ja?“, meinte Skinner mit einem süffisanten Grinsen. „Und was hast du denn gehört und gesehen?“

„Finn hat Mary erzählt, dass er und Pru vorhin über sie geredet hatten – vor dem Boxkampf. Pru hatte ihm gesagt, er solle endlich aufhören, Mary anzuschmachten, denn sie wär’ überhaupt nicht so ein süßes junges Ding, wie sie immer tat. In Wirklichkeit würde sie nämlich einen Drecksbullen unter ihre Röcke lassen und sie – also Pru – dafür bezahlen, dass sie das nicht weitererzählte. Und der einzige Grund, warum sie es Finn trotzdem erzählt hatte, war der, dass sie lieber Finn haben wollte als das Geld. Er meinte dann zu Mary: ‚Pru glaubt, sie wär’ in mich verliebt, aber ich denk mal, ich hab was Bessres verdient als so ein verlottertes Flittchen wie sie.‘“

„Hat er nicht gesagt! So was würde er doch nicht sagen!“, rief Pru und stürzte sich abermals auf Finn. „Hast du das etwa gesagt?“

„Hä?“

Kräftig schlug sie ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. „Hast du?“

„Autsch!“ Finn setzte sich auf und rieb sich die Wange. „Was denn jetzt los, du blöde Kuh?“

Mit einem Zornesschrei sprang Pru auf, raffte ihre Röcke hoch und trat Finn in die Magengrube, sodass er sich krümmte und eine ganze Litanei lästerlicher Flüche ausstieß. Auch er fing an nach ihr zu treten, doch gewandt wich sie jedem seiner Tritte aus.

„Du elendes Miststück“, stöhnte er und versuchte mühsam auf die Beine zu kommen.

„Hast du mich ein ‚verlottertes Flittchen‘ genannt?“ Sie verpasste ihm einen noch kräftigeren Tritt, der nun indes etwas tiefer platziert war als der erste. „Verlottert?“ Finn brüllte auf vor Schmerz und ging wieder zu Boden, hielt sich den Schritt und kauerte sich wimmernd zusammen.

„Vielleicht sollten Sie sie in den Ring schicken“, schlug Skinner Mutter vor.

„Wie hat Mary denn reagiert auf das, was Finn ihr erzählt hatte?“, fragte Nell Denny.

„Sie sagte, das würd’ nicht stimmen, das mit Cook und ihr, aber Finn hat ihr nicht geglaubt. Er meinte, sie wäre schlimmer als Pru und die andern Mädels, denn die wär’n wenigstens ehrliche Huren und würden sich nicht als was Bessres ausgeben. Sie hätte ihn an der Nase rumgeführt, ihm schöne Augen gemacht und ihm dabei die ganze Zeit was vorgemacht. Hätt’ sie nicht, sagte Mary, und dass sie ihm schon mal gesagt hätte, dass sie nix für ihn empfinde – und selbst wenn, würde sie Johnny nicht betrügen, aber das hat Finn erst so richtig wütend gemacht. Sie hätte Johnny doch längst betrogen, schrie er, nur eben nicht mit ihm, und dass sie ihn komplett zum Narren gehalten hätte, und er wär’ da auch noch drauf reingefallen, weshalb er sie gefragt hatte, ob sie nicht mit ihm abhauen und ihn heiraten wolle, aber das würde er sie jetzt bestimmt nicht mehr fragen, denn Männer wie er würden keine Flittchen wie sie heiraten. Dann hat er gesagt … er hat gesagt: ‚Du bist auch nur für eins zu gebrauchen‘, und hat sie … ähm, wo gepackt, wo er nicht hinfassen hätte sollen und sie aufs Bett gestoßen und angefangen, an ihren Kleider zu zerren.“

„Hat sie geschrien?“, fragte Nell.

„Oder war es genau das, was sie von Anfang an gewollt hatte?“, spottete Skinner.

„Sie hat geschrien“, ließ Denny den Constable in einem Ton wissen, der keinen Widerspruch duldete. „Aber weil oben geboxt wurde, hat niemand sie hören können. ‚Du hast es mit Cook getrieben – warum dann nicht mit mir?‘, wollte Finn von ihr wissen, und als sie nach ihm trat, schlug er ihr ins Gesicht. So richtig doll.“

Will schnaubte angewidert.

„Detective Cook meinte, dass es ihre rechte Wange war, die blutete“, sagte Nell. „Das würde passen, da Finn Linkshänder ist.“

„Ich bin schnell von der Kohlenkiste gesprungen“, fuhr Denny fort, „und hab im Dunkeln nach der Schaufel gesucht, als ich gehört hab, wie drüben in der Wohnung die Tür aufging.“

„Die Tür zum Hof?“, fragte Will. „Oder …?“

„Nein, die drinnen, neben der Tür zum Kohlenkeller. Und dann konnte ich hören, wie Johnny rumbrüllt, und Mary rief ihm zu, er solle sofort die Knarre wegstecken – sie flehte ihn geradezu an, ehrlich. Also bin ich wieder auf die Kohlenkiste gestiegen, um durch das Loch schauen zu können, und da hab ich die beiden gesehen, Johnny und Finn, wie sie miteinander kämpften. Aber nich’ so wie im Ring, wo sie nur mit den Fäusten aufeinander losgehen, sondern so richtig … mit dem ganzen Körper und so. Und dann gab Finn Johnny einen kräftigen Stoß, sodass er auf diese alte Schiffstruhe fiel, die da an der Wand steht. Dann hob er die Hand – also jetzt Finn –, und ich hab gesehen, dass er jetzt Johnnys Pistole hatte. ‚Ich bring dich um‘, sagte Johnny noch und wollte sich gerade auf Finn stürzen, aber dann …“ Denny verstummte und schüttelte den Kopf.

„Hat Finn abgedrückt“, schloss Will.

„Sie legen dem Jungen die Worte ja in den Mund!“, empörte sich Skinner.

„Dann hat er geschossen“, sagte Denny. „Ich habe den Feuerstrahl gesehen und den Knall gehört, und Johnny … er flog erst zurück auf die Truhe und ist dann auf den Boden gestürzt. Sein Kopf … Da war überall Blut …“

„Das wissen wir“, sagte Nell tröstend. „Wo war Mary, als das passiert ist?“

„Sie hatte sich in der Ecke zusammengekauert und zitterte wie ein verschrecktes Kaninchen. ‚Oh Gott, oh Gott, oh Gott‘, stammelte sie. ‚Dein eigener Bruder …‘ Finn steht da und starrt Johnny an, als könnt er gar nicht glauben, was er da getan hat. Dann schreit er Mary an, dass sie endlich die Klappe halten soll. Er hat die Pistole auf sie gerichtet und gesagt, das wäre alles ihre Schuld. Ich glaub … Also, er stand ja jetzt mit dem Rücken zu mir, aber ich glaub, er hat geheult. Aber geschrien hat er auch. Die Pistole in seiner Hand konnte ich aber sehen, die hat gezittert. Er sagte zu Mary, sie solle verschwinden. ‚Wenn du hierbleibst oder auch nur einer Menschenseele ein Sterbenswörtchen erzählst, bist du tot‘, hat er gesagt. Und dann fing er an, wie besessen im Zimmer hin und her zu laufen und meinte: ‚Nein, dich muss ich auch erledigen, sonst redest du. Ich weiß genau, dass du reden wirst.‘ Und als er die Pistole dann wieder auf sie gerichtet hat, hab ich mir die Schaufel geschnappt und bin raus, hab an die Tür von der Wohnung gehämmert und gerufen, dass Mutter nach Mary sucht und sie sofort hochkommen soll oder irgend so was. Ich hab gehört, wie Finn zu ihr gesagt hat, sie soll ja schön den Mund halten, wenn ihr ihr Leben noch was wert ist, und dann hab ich gehört, wie die Tür zum Hof aufging. Die Scharniere sind nämlich rostig, deshalb quietscht die immer. Also bin ich rein, und …“

„Du bist in die Wohnung gegangen?“, fragte Will.

„Ja, und Mary hat noch immer in der Ecke gehockt, aber Finn war weg. Ich hab ihn draußen die Treppe raufrennen gehört – wahrscheinlich ist er zum Hühnerstall gelaufen. Mary ist dann schnell aufgesprungen und hat angefangen, ganz flatterig ihre Sachen zu packen. Ich hab ihr gesagt, dass ich alles gesehen hätte, aber sie meinte nur, ich solle bloß nichts sagen. ‚Kein Wort, Denny, oder er knallt dich auch ab‘, hat sie gesagt. Kurz darauf kam Detective Cook über den Hof und hinten zur Tür rein. Als er Johnny da liegen sah, zog er sofort seine Pistole. Er wollte von Mary wissen, wer das war, aber sie wollte es ihm nicht sagen. Zu mir sagte sie, ich solle hochgehen und sofort vergessen, dass ich eben hier unten war. Na, und das hab ich dann auch getan.“

„Nachdem du dich vergewissert hattest, dass Detective Cook sich um Mary kümmern würde“, setzte Nell hinzu.

„Ja, klar“, erwiderte Denny, als sei das doch wohl selbstverständlich. „Kurz darauf war dann die Hölle los. Ich stand oben an der Kellertreppe, als ich Pru unten wie am Spieß schreien hörte. Als ob der Teufel hinter ihr her wär’, kommt sie hochgerannt und schreit Zeter und Mordio. Mutter hat mich losgeschickt, damit ich die Bullen hole. Den da hab ich ein paar Häuser weiter aufgegabelt“, der Junge zeigte auf Skinner, „und ihn hergebracht. So wahr mir Gott helfe, genauso ist es geschehen.“

„Na, das werden wir ja sehen“, meinte Skinner und wandte sich an Finn, der noch immer zusammengekrümmt auf dem Boden lag. Unsanft stubste er den Boxer mit der Stiefelspitze an. „He, Cassidy. Cassidy. Hast du gehört, was der Junge gesagt hat …? Cassidy?“

Finn Cassidys Schultern bebten. Er drehte sich um, Tränen strömten über sein Gesicht. „Ich wollte das nicht. Es war ihre Schuld. Sie … sie … Oh Gott … Es tut mir leid, Johnny. Der Herr erbarme sich meiner, es tut mir leid.“

In düsterem Schweigen betrachtete Skinner den im wahrsten Sinne des Wortes am Boden zerstörten Mann, dann stieß er einen langen, schweren, abgrundtiefen Seufzer aus. „Mist“, murmelte er.

„Cook! He, Cook!“, blaffte Skinner zu etwas fortgeschrittenerer Stunde und trommelte mit seinem Schlagstock gegen die Gittertür von Detective Cooks Arrestzelle in der Wache des achten Dezernats. „Los, aufwachen. Ihre Freunde hier haben Sie rausgehauen.“

Cook, der auf einer durchgelegenen Pritsche an der hinteren Zellenwand gedöst hatte, setzte sich schlaftrunken auf und blinzelte ungläubig, als er Nell und Will sah. Seine Haare waren zerzaust, seine Schornsteinfegerkleider völlig zerknittert. Durch die verschmierten Rußreste in seinem Gesicht schienen Bartstoppeln hindurch. Irgendwie erinnerte er Nell an einen Bären, der eben aus dem Winterschlaf erwacht ist.

„Mich rausgehauen?“, wiederholte Cook. „Schlechter Witz, was?“

„Leider nein“, erwiderte der Constable. Für Skinner war es in der Tat sehr bedauerlich, zumal sein Vorgesetzter, ein Ire namens Quinn, ihn eben noch vor Nell und Will wegen seiner höchst fahrlässigen Fehleinschätzung des Falles gerügt hatte. Während sie sich die Schelte nicht ohne eine gewisse Genugtuung angehört hatte, musste Nell wieder an Skinners Bemerkung denken, dass sein „Paddy Captain“ ihn behandelte, als wäre er ein streunender Kater, den er am liebsten ertränken würde. Es schien, als wäre da etwas Wahres dran.

Schließlich blieb Cooks ungläubiger Blick an Nell hängen, und ein leises Lächeln huschte über sein Gesicht. „Miss Sweeney, Sie verblüffen mich immer wieder.“

„Tja, sie ist schon ein durchtriebenes kleines Ding“, meinte Skinner, „aber da stehen Sie ihr ja wohl in nichts nach – was, Cook? Ihr seid schon verdammt clever, ihr Iren. Schafft es immer wieder, euch aus der Scheiße zu ziehen und dabei noch frisch nach grünem Klee zu duften.“

„Passen Sie lieber auf, was Sie sagen, Constable“, mahnte ihn Nell. „Oder haben Sie schon die Worte Ihres Captains vergessen? Nur noch eine unverschämte Bemerkung zu Detective Cook, und Sie werden vom Dienst suspendiert.“

„Ach ja?“, horchte Cook auf.

„Überrascht Sie das etwa, dass Captain Quinn für Sie Partei ergreift? Dann sind Sie vielleicht doch nicht ganz so clever, wie ich dachte.“ Skinner suchte einen Schlüssel aus dem umfänglichen Bund hervor, den der Wachmann ihm gegeben hatte, drehte ihn im Schloss um und sperrte die Eisengittertür mit einem schauerlichen Quietschen auf. „Los, raus mit Ihnen“, sagte er barsch und wies mit seinem Schlagstock nach draußen. „Wir brauchen die Zelle für Finn Cassidy.“

„Cassidy?“, meinte Cook etwas verwundert, als er sich von der Pritsche hochstemmte und sich den schmerzenden Rücken rieb. „Wirklich?“, fragte er Nell.

„Wir erzählen Ihnen später alles ganz ausführlich“, erwiderte Nell. „Jetzt sollten wir erst mal zusehen, dass wir Sie so schnell wie möglich nach Hause zu Mrs. Cook bekommen.“

Als Cook nun zur Tür hinaus in die Freiheit schlenderte, meinte Skinner mit einem etwas verlegenen Grinsen: „Nichts für ungut, Detective, aber auf mich haben Sie einen verdammt schuldigen Eindruck gemacht. Zum Glück ist ja nix passiert.“

Während Cook Skinner seinen breiten Rücken zukehrte, sich über seine Jacke strich und mit den Händen durch sein Haar fuhr, stieß er mühsam beherrscht hervor: „Sagen Sie das mal meiner Frau. Sie hätte aus Sorge darüber, dass man mich hängen könnte, fast das Baby verloren.“

„Ach ja? Nun denn, aber der Boden der alten Heimat ist schließlich sehr fruchtbar, wie ich höre. Wenn da mal ein Samenkorn nicht aufgeht …“, und hier zwinkerte Skinner doch tatsächlich vergnügt, der Hund, „… haben Sie wenigstens allen Grund, neu auszusäen.“

Ehe Nell es sich versah, fuhr Cook jäh herum und hieb Skinner seine Faust mit der Wucht einer Kanonenkugel an den Kopf. Alle viere von sich gestreckt, lag Skinner auf dem Boden, sein Hut rollte in die eine Richtung davon, sein Schlagstock in die andere. Er jaulte vor Schreck und Schmerz und hielt sich die Hände vor sein geschundenes Gesicht.

„Ganze Arbeit, Detective“, meinte Will anerkennend, während er den zuckenden, winselnden Constable mit gleichmütiger Belustigung betrachtete. Mit einem prüfenden Blick beugte er sich über Skinner und fügte im Ton leichter Enttäuschung hinzu: „Nur leider scheint mir, dass sein Kiefer noch unversehrt ist.“

„Ach ja, ich habe mich zurückgehalten“, bekannte Cook und rieb sich seine geröteten Fingerknöchel. „Ich will doch, dass er seinen Kiefer noch bewegen kann.“

„Wozu das denn bitte schön?“

Will sollte seine Antwort bekommen, als just in diesem Augenblick einige andere Polizisten einschließlich Captain Quinn eilig angelaufen kamen, um nachzusehen, was dieser Aufruhr bedeuten sollte.

„Was geht hier vor sich?“, verlangte Quinn zu wissen.

„Ich glaube, Constable Skinner ist … über dies hier gestolpert“, sagte Nell und zeigte auf den Schlagstock, „und dann unglücklich gestürzt.“

„So ein verlogenes kleines Miststück!“, schrie Skinner, ganz rot im Gesicht vor Zorn und Scham, und stützte sich seitlich auf dem Ellenbogen auf. Mit bebendem Finger zeigte er auf Detective Cook und rief: „Dieser gottverdammte Torftreter hat mir einfach eine reingehauen!“ Und so fuhr er fort, seinen Angreifer mit einer ganzen Tirade lästerlichster Schimpfworte zu belegen, von denen selbst Nell viele noch nie gehört hatte, derweil Cook mit einem feinen, selbstzufriedenen Lächeln zuhörte.

Auch der Captain schien höchst zufrieden, als er meinte: „Skinner, was habe ich Ihnen vor gerade einmal einer Viertelstunde hinsichtlich künftiger Beleidigungen von Detective Cook gesagt?“

„Aber … aber er …“

„Packen Sie Ihre Sachen und verschwinden Sie“, unterbrach ihn Quinn. „Sie sind gefeuert.“

„In der Tat, Detective – ganze Arbeit“, flüsterte Nell Cook zu, bevor sie sich umwandten und gingen.