Hinter Joachim Fuchs krachte die acht Zentner schwere Stahltür der JVA Frankfurt I ins Schloss. Er begrüßte die Beamten an der Personenkontrolle und stellte einen Pappbecher mit Plastikdeckel auf das Durchleuchtungsband. Während einer der beiden Männer die Daten von seinem Ausweis ablas, kontrollierte sie dessen Kollege hinter der Scheibe am Computer.

»Augenfarbe blau. Ein Meter dreiundneunzig. Ausstellungsdatum 7. Oktober 2020.« Nachdem er auch Adresse und Ausweisnummer diktiert hatte, gab er Fuchs die Karte zurück. Dann fiel sein Blick auf den Becher. »Ihren Kaffee dürfen Sie aber nicht mit reinnehmen.«

»Das ist kein Kaffee, sondern Kakao.«

»Macht keinen Unterschied«, kam es mürrisch zurück.

»Der muss aber mit rein. Ist auch mit der Gefängnisdirektion abgesprochen.« Fuchs wies zu einem Wandtelefon. »Können Sie gern überprüfen. Und ich möchte ganz klar betonen, dass es nicht meine Idee war, Ihrem Insassen diesen Gefallen zu tun.«

Der Beamte musterte ihn skeptisch, bevor er zum Hörer griff und sich mit der Gefängnisleitung verbinden ließ.

Derweil leerte Fuchs seine Taschen und legte den Inhalt mitsamt Gürtel in eine Kunststoffschale, die er dem Heißgetränk auf dem Band hinterherschickte.

Der andere Beamte hielt das Band zweimal an und starrte konzentriert auf den Bildschirm. Nachdem die Gegenstände die Röntgenröhre passiert hatten, nahm er einen davon aus der Schale und musterte ihn argwöhnisch von allen Seiten.

»Was ist das?«

Fuchs schmunzelte, nahm dem Beamten den würfelförmigen Gegenstand ab und demonstrierte klickend dessen Funktionsweise. »Soll die Nerven beruhigen.«

»Ah ja«, kam es gedehnt zurück.

In der Zwischenzeit hatte sein Kollege das Telefonat beendet und nickte Joachim zu. »Geht in Ordnung. Bitte stellen Sie auch Ihre Schuhe aufs Band.«

Fuchs folgte der Anweisung. Er wurde abgetastet und mit einem Handscanner untersucht, bevor man ihn noch durch einen Ganzkörperscanner schickte.

»Das ist mal gründlich«, bemerkte er.

»Hände über den Kopf und nicht bewegen«, kam es statt einer Antwort.

Fuchs verharrte in der gewünschten Pose, während zwei mannshohe Balkendetektoren um ihn herumfuhren.

Wenige Sekunden später sah der Beamte hinter dem Monitor auf. »Gut, Sie dürfen sich wieder anziehen. Gehen Sie dann bitte durch die nächste Glastür und warten Sie dort. Es wird Sie jemand abholen.«

Während Fuchs mit dem lauwarmen Becher in der Hand auf seine Eskorte wartete, spürte er, wie die Anspannung in ihm wuchs. Heute wehrte sich nicht nur sein Magen, sondern sein ganzer Verdauungstrakt. Am liebsten wäre er noch mal auf die Toilette gegangen, doch da kam ihm schon ein junger Wärter mit freundlichem Gesicht und blondem Undercut entgegen.

»Hallo! Sie sind Herr Fuchs?«

Joachim nickte.

»Ich bin Lasse Krupp.« Verwundert sah er auf den Becher in Joachims Hand. »Wo haben Sie den denn her?«

»Mitgebracht.«

»Und man hat Sie damit durchgelassen?«

»Ja, ich habe sozusagen eine Sondergenehmigung dafür.« Schief grinsend, hob er den Becher, als prostete er dem Beamten zu. »War eine der Bedingungen Ihres Häftlings, damit er mit uns kooperiert.«

Krupp schüttelte den Kopf, grinste ebenfalls. »Der Typ ist echt durch. Wissen Sie eigentlich, weshalb man Milchschaum auf Cappuccino macht?«

Fuchs verzog die Mundwinkel, während er überlegte. »Vermutlich, damit er besser schmeckt?«

»Dachte ich auch immer. Aber ursprünglich führte man das in der Gastronomie ein, damit der Kaffee länger warm bleibt.«

»Ach ja?« Fuchs hob die Brauen. »Übrigens ist das kein Kaffee, wie jeder hier denkt, sondern Kakao.«

»Kakao?«

»Ja, unser lieber Serienmörder bevorzugt Kakao mit Sahne und einem ordentlichen Schuss Karamellsirup.«

Jetzt lachte Krupp herzhaft. »Na gut, dann bringe ich Sie mal ins Verhörzimmer. Ihre Kollegen sind auch schon da und warten im Überwachungsraum nebenan.« Er ging voraus. »Waren Sie schon mal hier?«

Fuchs folgte ihm. »Nicht seit dem Umbau.«

»Dann kennen Sie also noch die alte Festung?«

»Genau.«

»Hätte ich ja auch liebend gern mal gesehen«, sagte Krupp. »War aber vor meiner Zeit. Soweit ich gehört habe, gab es da aber einigen Nachbesserungsbedarf, sowohl was die humanen Bedingungen als auch die sicherheitstechnischen Belange betraf. Der Architekt war schließlich der Meinung, man könne dies nur mit einem Totalabriss sowie komplettem Neubau umsetzen. Und entstanden ist letztlich …«, er machte eine ausladende Geste »… eines der sichersten Gefängnisse der Welt.«

»Im Ernst?«

»Ja. Wussten Sie das nicht?«

»Nein. Dass es eines der modernsten Europas sein soll, habe ich mal gehört, aber eines der sichersten der Welt?«

»Doch, tatsächlich. Die Außenmauern sind fünfzehn Meter hoch, und über den Innenhof ist ein Drahtnetz gespannt, das sogar Entweichungen mit dem Heli unmöglich macht, wie ja 2018 in Frankreich passierte.«

»Wie viele Häftlinge sitzen hier eigentlich ein?«, fragte Fuchs, dem die kleine Führung eine willkommene Ablenkung war und den der sympathische Krupp an sein jüngeres Selbst erinnerte, als auch er noch voller Enthusiasmus gesteckt hatte.

»An die sechshundert. Da wir eine reine Untersuchungshaftanstalt sind, haben wir eine recht große Fluktuation. Die meisten sind höchstens sechs Monate hier, bis sie in ihre endgültige Bleibe kommen oder eben einen Freispruch erhalten. Anders natürlich bei Herrn Dorn. Aber Sie wissen ja sicher selbst, weshalb sich die U-Haft bei ihm so zieht.«

»Allerdings«, knurrte Fuchs. Das wusste er nur zu gut, und es ärgerte ihn jedes Mal, wenn er daran dachte. Eigentlich hätte die Hauptverhandlung auch bei ihm nach spätestens sechs Monaten beginnen müssen, doch ständig tauchte ein neuer Grund auf, weshalb sie verschoben wurde. Und jedes Mal gewann Fuchs den Eindruck, dass Dorn den Gerichtssaal als Bühne missbrauchte. Sogleich kamen ihm die Bilder in den Sinn, wie Dorn vor die laufenden Kameras getreten war und ein Statement abgegeben hatte, als wäre er Sprecher einer Menschenrechtsorganisation.

»Es darf einfach nicht sein, dass einem in Deutschland so schweres Unrecht widerfahren kann. Erst recht nicht vonseiten derer, die das Gesetz eigentlich vertreten sollten. Man tut in den Reihen der Polizei offenbar alles, um die damaligen Geschehnisse zu vertuschen. Aber ich glaube an ein funktionierendes Rechtssystem in diesem Land und bin guter Dinge, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird.«

Joachim wäre am liebsten in den Fernseher gesprungen und dabei auch gleich Dorns Anwalt an die Gurgel gegangen. Der gedrungene Mann um die vierzig mit dem dunklen Haarkranz hatte zufrieden nickend neben seinem Mandanten gestanden, als sei er der stolze Vater, der aller Welt seinen patenten Sohn präsentierte. Wahrscheinlich sah dieser Schmierlappen in dem Fall des Serienmörders seine Chance, als Strafverteidiger groß rauszukommen. Dorn selbst war im grauen Designeranzug erschienen und hatte mit dem längeren, nach hinten gegelten Haar und der verspiegelten Sonnenbrille, die er zum Schutz seiner kaputten Augen trug, ausgesehen wie ein Filmstar auf dem roten Teppich.

Selbst bei der bloßen Erinnerung kam Fuchs die Galle hoch, doch da wurde seine Aufmerksamkeit von dumpfem Gebrüll angezogen, das über den Flur hallte.

Automatisch hielt er inne.

Krupp winkte ab. »Alles gut. Wir hatten heute nur eine kleine Revolte.«

»Eine Revolte?«

»Ja. Nichts Wildes. Irgendwie drehen ein paar der Häftlinge heute am Rad. Vielleicht ist ja Vollmond? Jedenfalls ist alles wieder unter Kontrolle.«

»Klingt aber nicht so.«

Krupp lachte. »Doch, doch. Sie können ganz beruhigt sein. Die Unruhestifter sind alle schon wieder in ihren Zellen. Ist bloß recht hellhörig hier drin. Wenn einer richtig Rabatz macht, hören Sie das im ganzen Trakt.« Er wies auf eine Kamera an der Decke. »Davon haben wir übrigens über vierhundert Stück im Gebäude. Allein im Verhörraum, in dem Sie gleich sein werden, hängen zwei.«

»Hm«, machte Fuchs, merkte aber, wie ihm der Gedanke gefiel, dass jeder Winkel hier drin überwacht wurde. Nicht nur, weil es für hohe Sicherheitsstandards sprach, sondern auch für einen gravierenden Mangel an Privatsphäre. Letztlich war ihm alles willkommen, was Richard Dorn das Leben schwer machte.

»Da wären wir«, verkündete Krupp, als sie vor einer grauen Metalltür ankamen. »Ich weiß ja, dass Sie sich auskennen. Trotzdem bin ich verpflichtet, Sie zu belehren. Reichen Sie dem Gefangenen keinesfalls irgendwelche Gegenstände, außer den Kakao, für den Sie ja offenbar eine Genehmigung haben. Und nehmen Sie bitte nichts von ihm an, falls er Ihnen etwas geben möchte. Halten Sie mindestens eine Armlänge Abstand. Falls der Häftling etwas aufzeichnen soll, liegen auf dem Tisch einige Bogen Papier und ein Biegebleistift aus Gummi. Wenn Sie Hilfe brauchen, wird das der Kollege im Nebenraum sehen und in kürzester Zeit jemand bei Ihnen sein. Wenn Sie das Verhör beenden möchten, heben Sie einfach Ihre rechte Hand und bleiben Sie sitzen. Dann kommt jemand rein und führt den Gefangenen ab. In Ordnung?«

Fuchs nickte.

Krupp schloss ihm auf.

»Viel Glück«, hörte er den jungen Wärter noch sagen, bevor die Tür hinter ihm ins Schloss krachte.

Mit einem Tisch und zwei Stühlen war der Verhörraum äußerst karg eingerichtet. Grauer Linoleumboden, beigefarbene Wände. In eine davon war ein Einwegspiegel eingelassen, durch den Lara Schuhmann mit ihrem Kollegen Martin Huber aus dem angrenzenden Überwachungsraum beobachtete, wie Joachim eintrat. Rechts neben ihnen stand Marco Seiler, Dorns Anwalt, mit dem sie seit dessen Erklärung, warum er dem Verhör beiwohnen wollte, kein Wort mehr gewechselt hatten. Da wollte dieser Lackaffe doch tatsächlich überwachen, dass sich die Polizei an alle Statuten hielt und nicht wieder auf den Grundrechten seines Mandanten herumtrampelte. Eine Frechheit, fand Lara. Dabei war ihr klar, dass auch Seiler nur seinen Job machte. Trotzdem war der Kerl ein Ekel und sein Mandant ein sexuell motivierter Serienmörder, der ihr regelmäßig im Traum erschien, um sie bis auf den letzten Tropfen ausbluten zu lassen. Lara schüttelte die Erinnerungen ab und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Wärter vor sich, der hinter einem Pult mit zahlreichen Knöpfen saß, auf welchem ein Dutzend Monitore thronte, von denen zwei die Bilder der Kameras aus dem Verhörraum übertrugen.

Mit klopfendem Herzen beobachtete Lara, wie Joachim sich bewusst für den Platz entschied, von dem aus er die Tür im Blick behalten konnte. Garantiert widerstrebte ihm der Gedanke, dass Dorn hinter seinem Rücken hereingeführt wurde. Ihr wäre es jedenfalls so ergangen, und sie war heilfroh, das Geschehen aus der Distanz beobachten zu können. Bei der Vorstellung, ihrem Peiniger gegenübertreten zu müssen, wurde ihr speiübel. Selbst hier, hinter der verspiegelten Panzerglasscheibe und in Gesellschaft zweier Männer, hatte sie das Gefühl, ihr könnten jeden Moment die Beine wegknicken. Dazu noch dieses nervige Klicken, das aus den Lautsprechern zu kommen schien. Irrsinnigerweise musste Lara dabei an Spinnen denken, die mit ihren haarigen Beinchen auf der Lautsprechermembran herum­trippelten.

Sie schaute zu Martin, der mit seinen knapp zwei Metern unbehaglich von einem Bein aufs andere trat. In den zwei Jahren, seit sie als Fallanalystin in Frankfurt angefangen hatte, war er, neben Joachim und Olaf, zu ihrem verlässlichsten Teamkollegen geworden. Er hatte auch darauf bestanden, sie heute zu begleiten, und blinzelte ihr unter seiner dunklen Monobraue ermutigend zu. Sie erwiderte die Geste mit einem Lächeln.

Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde die Klinke runtergedrückt. Die Tür glitt auf und ein beleibter Wärter führte Dorn herein. Schlagartig beschleunigte sich Laras Puls. Vor ihrem inneren Auge blitzte die gleißende Wendel einer nackten Glühbirne auf. Das bucklige Mauerwerk und der bogenförmige Durchgang des Kellers, in dem eine Gestalt stand und sie anstarrte. Lara zuckte zusammen, als das Ratschen einer Schere ertönte. Dann erkannte sie, dass der Wachmann bloß die Nase hochgezogen hatte. Lara blinzelte, ließ kontrolliert die Luft aus der Lunge entweichen und richtete den Blick zurück auf die Scheibe.

Der damals schon schlanke Dorn schien in den vergangenen Monaten weiter abgenommen zu haben. Seine Arme wirkten sehnig und die Wangen eingefallen wie bei einem Totenschädel. Der blassen Haut nach hatte er seit seiner Inhaftierung keine Sonne abbekommen. Wahrscheinlich mied er die täglichen Hofgänge mit den anderen Knackis. Immerhin standen perverse Frauenmörder wie er in der Knasthierarchie am unteren Ende der Hackordnung, maximal eine Stufe über den Pädophilen. Da würde ihm auch seine Sehbehinderung keine Nachsicht verschaffen. Bei diesem Gedanken verspürte Lara Genugtuung, so unprofessionell diese auch sein mochte. Doch eine Sache irritierte sie, weshalb sie sich an den Wärter wandte.

»Wieso trägt er keine Handschellen?« Lara merkte, dass sie alarmierter geklungen hatte als beabsichtigt.

Der Wärter sah sie mit gerunzelten Brauen an, bevor er den Blick zurück auf die Bildschirme richtete. »Von hier ist noch keiner entkommen.«

»Es geht mir auch nicht darum, dass er abhaut, sondern um das, was er da drin anstellen könnte.«

»Dieses Vorgehen ist hier seit Jahren Usus. Die in Ketten gelegten Gefangenen, die in den Verhörraum geführt werden, gibt es nur noch im Film. Es sei denn, es handelt sich um wirklich gefährliche Burschen. Der hier wäre doch allein körperlich nicht in der Lage, irgendetwas auszurichten.«

»Außerdem sollten wir festhalten, dass mein Mandant seit seiner Inhaftierung ein Paradebeispiel guter Führung ist«, grätschte nun Marco Seiler dazwischen.

Der Wärter murmelte etwas, das niemand verstand, aber Lara hatte den Eindruck, dass selbst er von Seiler genervt war.

»Und Ihnen ist schon bewusst«, fuhr Seiler fort, »dass mein Mandant, dank Ihres Kollegen da drin, nahezu blind ist?«

»Dafür sind eine Handvoll junger Frauen dank Ihres Mandanten tot«, konterte Lara.

Seiler verzog das Gesicht, verkniff sich aber eine Erwiderung.

Lara konzentrierte sich wieder auf die Geschehnisse hinter der Scheibe. Hoffentlich blieb Joachim cool. Mit diesem Anstandswauwau von Anwalt durfte er sich keinen Fehler erlauben, der Dorn bei der Verhandlung in die Karten spielen könnte. Sicher wartete dieser Winkeladvokat nur darauf.

Joachim war überrascht. Dorn wirkte um einiges größer, als er ihn in Erinnerung hatte, was aber womöglich nur daran lag, dass er saß. Doch er wollte partout nicht aufstehen, damit es dieser Narzisst nicht als Höflichkeit oder – schlimmer – als Zeichen des Respekts auffassen konnte. Er blickte in die Spiegelung von Dorns Brillengläsern und sah dort eine doppelte rot-gelbe Miniaturversion seiner selbst.

Der Beamte, der ihm zur Begrüßung zunickte, ergriff Dorns Unterarm, um dessen Hand zur Stuhllehne zu führen. Nachdem der sie zu fassen bekommen hatte, rückte er sich den Stuhl zurecht und nahm etwas linkisch Platz. Dann legte sich das altbekannte Lächeln auf seine Lippen.

»Kommen wir gleich zur Sache«, ergriff Fuchs das Wort, bevor sein Gegenüber die Gesprächsführung an sich reißen konnte. »Ich bin hier.« Er schob ihm den Becher über den Tisch, sodass dieser Dorns Finger berührte. »Da ist Ihr Kakao. Und jetzt sagen Sie mir, wo Sie Romina Liebermanns Leiche versteckt haben.«

Wieder zupfte das Lächeln an Dorns Mundwinkeln. Als seine Finger aber den Becher umschlossen, erstarb es urplötzlich. »Der ist ja kalt.«

Fuchs schwieg, wartete ab, was als Nächstes kommen würde.

Da schob Dorn das Getränk von sich weg und verschränkte die Arme wie ein bockiges Kind. »Ich dachte, mein Anwalt hätte die Bedingungen klar kommuniziert.«

Joachim schielte zum Einwegspiegel, wo er aber nur sein Ebenbild erblickte: einen zunehmend ergrauten Ermittler, der kurz davor stand, die Beherrschung zu verlieren.

»Ich wollte einen heißen Kakao«, quengelte Dorn. »Das ist eine klar formulierte Bitte und kann so schwer doch nicht sein.«

Fuchs blieb reglos sitzen, bis ihm klar wurde, dass Dorn nicht einlenken würde. Kapitulierend stand er auf, schnappte sich den Becher und hämmerte mit der Faust an die Tür, die kurz darauf geöffnet wurde.

»Schon fertig?«, fragte der Wachmann verdutzt.

»Nein.« Fuchs hob den Becher. »Der Herr bemängelt die Temperatur des Getränks. Wäre es möglich, den Kakao aufzuwärmen?«

Der Wärter nickte mit einem undurchsichtigen Lächeln. Vielleicht war ihm in den Sinn gekommen, den Kakao so zu erhitzen, dass sich Dorn die Zunge verbrannte. Fuchs gefiel der Gedanke, weshalb er ebenfalls lächelte. »Vielen Dank. Ich warte hier draußen.«

Der Wachmann sperrte die Tür ab und verschwand ein Stück den Flur hinunter in einem Raum, von wo er nach zwei Minuten zurückkehrte.

»Hier, bitte. Aber aufpassen, ist heiß.«

Fuchs bedankte sich. Nachdem ihm die Tür wieder aufgesperrt worden war, ging er, den Becher mit spitzen Fingern haltend, zurück ins Verhörzimmer, wo Dorn noch immer lässig zurückgelehnt auf dem Stuhl saß und grinste. Am liebsten hätte Fuchs ihm die brühend heiße Flüssigkeit über den Kopf gegossen, doch er wusste, dass er sich keinen Fehltritt erlauben durfte. Heute war einhundertzehnprozentige Korrektheit angesagt, um der Gegenseite bloß kein Kanonenfutter zu liefern.

Kommentarlos nahm er Platz und stellte den Kakao auf den Tisch. Sogleich begannen die dürren Finger des Mörders wie Tentakel danach zu tasten. Nachdem Dorn fündig geworden war und den Deckel entfernt hatte, pustete er in den Becher, bevor er vorsichtig nippte.

»Na, hoppla!«, sagte er mit einem Lächeln. »Sie wollen wohl, dass ich mich verbrenne, was?«

Am liebsten würde ich dir dein selbstgefälliges Grinsen aus der Visage prügeln, dachte Fuchs, sagte aber in gemessenem Ton: »Jetzt sind Sie am Zug.«

Dorn stellte den Becher ab, nickte. »In Ordnung. Sie sollen sehen, dass ich zu meinem Wort stehe. Aber erlauben Sie mir zuvor noch eine persönliche Frage. Da ich jede Menge Wut und Verachtung in Ihrer Stimme höre, frage ich mich, ob Sie beim Anblick Ihrer hübschen Freundin Sophia nicht hin und wieder an mich denken müssen? Immerhin wären Sie sich ohne mich nie begegnet. Haben Sie darüber mal nachgedacht?«

Fuchs schwieg. Ihm war klar, was dieser Mistkerl vorhatte. Doch auf solch schlichte Manipulationsversuche würde er nicht eingehen.

»Sie sind doch ein kluger Mann, Kommissar Fuchs. Ich bin mir sicher, dass auch Ihnen bewusst ist, dass Sie der große Gewinner unserer Beziehung sind. Durch mich haben Sie, nach einer gescheiterten Ehe, die Liebe wiedergefunden, wie ich aus den einschlägigen Medien erfahren durfte. Von der Apothekerin zur Ärztin – nicht übel, Herr Kommissar. Außerdem habe ich Ihnen zu großer Berühmtheit verholfen. Ach …«, in einer theatralischen Geste ließ er den Kopf sinken, »… ich vergaß … Offiziell gelten Sie ja gar nicht als der Held der Geschichte. Sagen Sie, wie geht es eigentlich Ihrer reizenden Kollegin? Sieht Sie uns gerade zu?«

Fuchs verkniff sich einen Blick Richtung Scheibe und versuchte, sich zugleich seine Irritation nicht anmerken zu lassen. Dieses Arschloch wusste für seinen Geschmack viel zu viel über sein Privatleben … diese verdammten Pressefritzen hatten nach dem Fall letztes Jahr wirklich alles breitgetreten. »Sie wollten mir erzählen, wo die Leiche von Romina Liebermann ist.«

»Richtig. Bitte entschuldigen Sie mein Abschweifen, aber wir haben uns so lange nicht gesehen. Ich bin einfach neugierig, wie es Ihnen seit unserer letzten Begegnung ergangen ist. Wie ich gehört habe, sind Sie letztes Jahr um ein Haar bei einem großen Feuer umgekommen. Muss ziemlich knapp gewesen sein.« Lächelnd wies er zur Decke. »Wie es aussieht, hat der alte Herr da oben was für Sie übrig. Andererseits bin auch ich noch da. Vielleicht mag er uns ja beide. Oder es bereitet ihm einfach besonderen Spaß, uns zusammen in Interaktion zu sehen. Was meinen Sie?«

»Den Ort von Rominas Leiche, bitte.«

Dorn ließ den Kopf sinken, nickte. »Sie haben recht. Ich wollte Ihnen beweisen, dass ich zu meinem Wort stehe. Dass ich ein redlicher Häftling bin, der nur die allerbesten Absichten hat.« Er hob den Kopf. »Sind Sie bereit?«

Fuchs nickte. Als Dorn nicht reagierte – wahrscheinlich, weil er die Geste nicht sehen konnte –, antwortete Fuchs: »Bereit.«

»Gut. Dann wollen wir mal.« Dorn rieb sich die Hände. Seine Stimme erhob sich marktschreierisch. »Die sterblichen Überreste der schönen Romina liegen, faulen und verrotten im …«, seine Finger trommelten eine Art Tusch auf die Tischplatte, »… Frankfurter Stadtwald.«

Als er nichts weiter hinzufügte, hakte Fuchs nach: »Das geht doch bestimmt etwas genauer? Oder sollen wir die achtzig Quadratkilometer auf gut Glück durchkämmen?«

»Das wäre doch amüsant.« Dorn zog eine Grimasse. »Das Problem ist leider, dass sich die exakte Stelle aus dem Kopf unmöglich beschreiben lässt. Nicht mal mir würde das gelingen. Man muss schon vor Ort sein, um sie wiederzufinden.«

Fuchs schnaubte. »Ja klar. Sie glauben aber nicht wirklich, dass wir einen Ausflug mit Ihnen unternehmen werden, oder?«

Dorn zuckte die Schultern. »Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht. Falls Ihre Sorge daher rührt, dass ich Ihnen bei dem Ausflug verloren gehen könnte, darf ich Sie daran erinnern, dass ich dank Ihnen schwerbehindert bin.« Er tippte sich an die Brille. »Da wäre ich wohl kaum in der Lage, der Schar von Polizisten zu entkommen, die mich begleiten würden.«

Fuchs überlegte. Wieso nicht hypothetisch auf sein Spielchen einlassen und hören, was er wirklich will?

»Gut«, sagte er dann, »nehmen wir an, das ließe sich einrichten. Natürlich nur unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen und nicht wie hier in der Anstalt ohne Hand- und Fußfesseln. – Wie lautet die Bedingung, von der Ihr Anwalt sprach?«

»Die Bedingung, ja …« Dorns Lächeln erschien fast schon devot. »Vorab möchte ich Ihnen aber mitteilen, dass diese nicht verhandelbar ist, sondern absolute Voraussetzung für meine Kooperation.«

»Ich höre.«

Dorn wandte den Kopf ab und nickte versonnen, als hinge er einer schönen Erinnerung nach. »Sie kennen sicher das Sprichwort: Der Gesunde hat viele Wünsche, der Kranke nur einen . Das kann ich aus heutiger Sicht nur bestätigen. So ist es mein sehnlichster Wunsch, wieder sehen zu können.«

Fuchs klang fast schon belustigt, als er sagte: »Und was soll ich da machen? Die Nummer mit dem Handauflegen war ein anderer, wie Sie als katholischer Internatsschüler sicher wissen.«

Dorn lächelte matt. »Ich habe von einer Operation erfahren, die mir helfen könnte, mein Augenlicht zurückzubekommen. Allerdings ist die recht kompliziert und kostspielig. Ich vermute jedoch, dass der Staat als Stellvertreter für den Steuerzahler kein allzu großes Interesse daran hat, sie mir zu bezahlen. Es sei denn, ich kann ihm im Gegenzug etwas anbieten.«

»Haben Sie noch nie gehört, dass der Staat nicht mit Kriminellen verhandelt?«

Dorn legte den Kopf schief. »Sie meinen das No-talks-Paradigma. Ich weiß aber auch, dass dies für Verhandlungen mit terroristischen Gruppen gilt, nicht für Einzeltäter wie mich. Der Hintergrund jeder Verhandlung ist ja der, dass man sich nur auf jemanden einlässt, wenn zumindest eine gewisse Vertrauensbasis besteht. Deshalb werde ich meinen Teil der Abmachung als Erster einlösen. So können Sie sehen, dass ich vertrauenswürdig bin. Natürlich möchten mein Anwalt und ich vonseiten der Staatsanwaltschaft zuvor eine schriftliche Garantie, dass die Operation dann auch tatsächlich stattfindet.«

»Ich bezweifle, dass sich jemand auf diesen Deal einlässt«, sagte Fuchs.

Dorn spitzte die Lippen. »Die Liebermanns sind eine einflussreiche Familie. Ich könnte mir vorstellen, dass sie einigen Druck machen werden, wenn sie hören, dass die Polizei fortan die Schuld daran trägt, dass sie niemals erfahren, wo die Leiche ihrer hübschen Tochter vergraben ist. Oder gibt es im Fall Liebermann etwa antisemitische Ressentiments, welche die geringe Bereitschaft der Polizei zum Verhandeln mit mir erklären?«

Jetzt glitt Joachims Blick doch zum Einwegspiegel. Diesem Dreckskerl war wirklich jedes Mittel recht. Aber würde da auch sein windiger Anwalt mitspielen und eine solche Unwahrheit verbreiten? Natürlich könnten sie mit einer Verleumdungsklage darauf reagieren, doch das würde ihnen womöglich als Ablenkungsmanöver ausgelegt werden. Wie sollten sie jemals beweisen, dass Dorns Behauptung erstunken und erlogen wäre? Am Ende würde ein fader Beigeschmack bleiben, wie bei jedem der Vergewaltigung bezichtigten, dennoch freigesprochenen Mann. Es könnte immer heißen, man habe lediglich einen guten Anwalt gehabt.

Fuchs beugte sich vor, senkte die Stimme, in der Hoffnung, dass die Mikrofone nicht in der Lage sein würden, seine Worte aufzuschnappen. »Jetzt habe ich mal eine Frage an Sie«, presste er in beherrschtem Flüsterton hervor. »Ist es für Abschaum wie Sie eigentlich wirklich so hart im Knast, wie man sagt? Oder ist die Geschichte vom Seife-Aufheben ein Mythos? Ich weiß ja, dass Sie diesbezüglich schon einige Erfahrung im Internat sammeln konnten, aber die Schwestern hier im Gefängnis sind bestimmt ein anderes Kaliber als die Priester, nicht wahr?« Mit Genugtuung erkannte er, dass seine Worte ihre Wirkung nicht verfehlten, denn an Dorns Stirn begann, eine Ader zu pochen. Die Bewegung, die daraufhin folgte, kam aber so schnell, dass Fuchs keine Zeit blieb zu reagieren.