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Richard Dorn knöpfte das Hemd zu, das er in Seilers Schrank gefunden hatte, stopfte es in den Bund der Jeans und schloss die Gürtelschnalle, die ein silbernes H formte. Obwohl sein Anwalt einen leichten Bauchansatz gehabt hatte, passten die Sachen gut. Sie entsprachen zwar nicht seinem Geschmack, ließen ihn aber seriös wirken. Vor allem aber war er froh, aus der klammen Hose heraus zu sein, die er erst eingepisst hatte, um den Gefängnisarzt zur falschen Diagnose zu animieren, und die dann bei seiner Flucht klitschnass geworden war. Ein banalerer, dennoch ähnlich wirkungsvoller Trick waren die steinharten Bällchen, die er Tage zuvor in seiner Gefängniszelle aus feuchtem Klopapier geformt und vor dem Treffen mit Kommissar Fuchs in seinen Achselhöhlen fixiert hatte, um später, durch Anpressen desjenigen Arms, an dem der Notarzt das Pulsoxymeter befestigen würde, die Arterie abzudrücken, woraus ein beängstigendes Abflachen der Pulswelle resultieren sollte. Letztlich war auch dieser Plan aufgegangen.

Nachdem er aus dem Krankenwagen getürmt und durch ein kleines Waldstück geflüchtet war, hatte er sich ein vorbeifahrendes Taxi herangewunken. Von diesem hatte er sich in eine Gegend fahren lassen, in der er sich auskannte und die nicht allzu weit von Seilers Zuhause entfernt lag. Den Taxifahrer hatte er vor ein Mehrfamilienhaus gelotst, gesagt, er würde rasch oben Geld holen, war aber dann, ohne zu zahlen, hinten durch den Garten verschwunden. Nach sieben Minuten hatte er einen Seitenarm der Nidda erreicht. Obwohl ihm die Taxifahrt einen Vorsprung eingebracht hatte, der es auch Hunden schwierig machen sollte, die Fährte zu halten, wollte er auf Nummer sicher gehen. Schließlich bestand die Möglichkeit, dass er die Spürnasen unterschätzte oder der Taxifahrer eine Meldung mit Personenbeschreibung von dem Zechpreller machte. Also war er ins Wasser gesprungen und dem Flusslauf gefolgt, bis er diesen nach gut zwei Kilometern auf Höhe eines kleinen Tennisklubs wieder verlassen hatte.

Wie zu dieser Jahreszeit zu erwarten, war dort nicht viel los gewesen. Auf dem Parkplatz hatte nur ein einziges Auto gestanden. Aus der über dem Platz errichteten Traglufthalle drang ein rhythmisches Ploppen. Einer Eingebung folgend, ging Dorn in die Hallenschleuse, von wo aus er einen Mann in T-Shirt und kurzer Hose beobachten konnte, der Bälle aus einer Ball­maschine über das Netz schlug. Da es draußen recht frisch war, ging Dorn davon aus, dass der Mann Wechselkleidung dabeihatte. Und tatsächlich stand neben dem Ausgang eine Tasche mit einer Trainingsjacke darauf. Im Krankenwagen hatte er überlegt, die Dienstkleidung des Wachmanns oder des Notarztes anzuziehen, dies aber letztlich verworfen, da er mit der schlichten Gefängniskluft sicher weniger auffallen würde. Ein Segen, dass man in deutschen Zuchthäusern in blauer Stoffhose und grauem Sweatshirt herumlaufen konnte und nicht in orangefarbene Overalls gezwängt wurde. Er hätte ja sogar Privatkleidung tragen dürfen, wenn er sich um deren Reinigung gekümmert hätte, was ihm jedoch zu weit gegangen wäre. Wenn man ihn schon gegen seinen Willen festhielt, sollte man ihm auch die Wäsche waschen.

Dorn schlich in die Halle, schnappte sich die Jacke mitsamt Tasche und durchwühlte sie vor dem Eingang. Er fand darin ein Handtuch, eine Trinkflasche sowie eine überreife Banane. Die im Seitenfach klimpernden Schlüssel ignorierte er, da deren Diebstahl nur die Cops auf den Plan gerufen hätte, während der Tennisspieler sie wohl kaum wegen einer fehlenden Trainingsjacke verständigen würde. Als er das nasse Oberteil ausgezogen hatte, trocknete er sich ab und schlüpfte in die Jacke. Das Oberteil warf er in einen Mülleimer, die klitschnasse Hose behielt er notgedrungen an.

Nachdem er die Tasche wieder an ihrem Platz abgelegt hatte, war er mit quatschenden Schuhen und der an seiner Haut klebenden Hose weitergelaufen, bis er nach einigen Anläufen die Straße gefunden hatte, in der Seiler wohnte.

Jetzt ging er zufrieden und trockenen Fußes ins Wohnzimmer, wo er sich umsah. Für einen Anwalt war das Haus recht bescheiden, wie er fand. Vor allem für einen wie Seiler, der so eine protzige Uhr trug. Bei ihm hätte er mit hochwertigen Möbeln und Aufschneiderkunst an den Wänden gerechnet, doch vielleicht war sein Anwalt nur nicht erfolgreich genug gewesen, um sich solche Prestigeobjekte leisten zu können.

Dorn beglückwünschte sich jedenfalls zu seinem Schachzug, sich in dessen Haus eingenistet zu haben. So war er mit einem Schlag an eine Bleibe, ein Handy, einen Internetzugang sowie einen fahrbaren Untersatz gekommen. Besser konnte es kaum laufen. Umso wichtiger, dass er sich diesen Unterschlupf so lange wie möglich bewahrte. Zum Glück hatte sich Seilers Aussage, er würde allein wohnen, bestätigt. Dorn war eigentlich von einer Schutzbehauptung ausgegangen, da Seiler vielleicht verhindern wollte, der Fantasie seines Mandanten Nahrung zu liefern. Doch bisher ließ sich im Haus kein Anhaltspunkt dafür finden, dass eine weitere Person hier lebte. Trotzdem musste er dafür sorgen, dass man den Anwalt nicht allzu bald vermissen würde. Die größte Schwachstelle hierbei war sicher die Kanzlei.

Sein Blick glitt zum Durchgang zur Diele, wo Seiler auf dem Boden lag. Nachdem er ihn ins Haus gestoßen hatte, war dieser auf die Knie gesackt und hatte sich mit schreckgeweiteten Augen die Hand auf den Hals gepresst, aus dem unentwegt Blut hervorgesickert war. Dabei hatte er lediglich unsauber gezielt und gar nicht vorgehabt, Seiler zu quälen – schließlich hatte der sich als Anwalt redlich bemüht. Leider gab die Pistole seines Wärters nicht mehr als drei Kugeln her, die er nun alle verschossen hatte, also war er in die Küche gegangen und mit einem Messer zurückgekehrt, das er Seiler über die Kehle gezogen hatte wie ein Schächter dem Opferlamm. Daraufhin war das Blut wie Sprühluftschlangen aus ihm hervorgespritzt und hatte girlandenförmige Muster auf die Fliesen gemalt, bis diese von der wachsenden Lache verschluckt worden waren.

Es hatte Dorn überrascht, wie schnell Seiler gestorben war. Dass sich diese Art des Tötens anders anfühlte, wusste er noch vom alten Förster, stellte aber mit Ernüchterung fest, dass er dieses Mal noch weniger Befriedigung empfunden hatte. Ob das daran lag, dass er Seiler irgendwie gemocht hatte? Oder war es bloß, weil diese Art des Tötens in kulinarischer Hinsicht einer Bratwurst glich, die man im Gehen verschlang, während ein geplanter und sorgsam ausgeführter Mord an einer jungen, attraktiven Frau eher einem Gänge-Menü mit Silberbesteck und gestärkter Stoffserviette entsprach? Dies galt insbesondere, wenn der Mord nur ein Teil des Vergnügens war. Der Auftakt, das Amuse-Bouche sozusagen. Für Hauptgang und Dessert kamen männliche Leichen für ihn ohnehin nicht in Betracht. Dorn fragte sich, ab wann man eigentlich von Leiche sprach. Schon in dem Moment, wenn das Herz stehen blieb? Doch wären dann nicht alle, die man wiederbelebte, für kurze Zeit Leichen gewesen? Er beschloss, dass dieser Begriff für all jene reserviert sein musste, die endgültig tot waren. So wie Seiler.

Er schob den Gedanken beiseite und setzte sich auf einen Sessel vor dem gläsernen Couchtisch, auf dem ein Laptop stand. Er legte den Autoschlüssel daneben, den er Seiler abgenommen hatte. Den Bund mit dem Haustürschlüssel hatte er bereits eingesteckt. Nun versuchte er, Seilers Handy zu entsperren. Da dieses durch einen Fingerabdrucksensor geschützt war, musste er zurück in den Flur, um sich an Seilers Daumen zu bedienen. Nachdem er das Gerät entsperrt hatte, überflog er den Nachrichtenverlauf bei WhatsApp, fand dort aber nichts von Interesse. Nur sinnlose Chats und haufenweise Memes, mit denen er sich jedoch nicht aufhalten wollte; so lustig sie auch sein mochten. Nach einigem Suchen entdeckte er einen weiteren Messenger, welchen Seiler offenbar immer dann benutzt hatte, wenn der Inhalt der Nachrichten vertraulich gewesen war. So hatte er hierüber sogar Informationen über Mandanten verschickt, weshalb Dorn annahm, dass dieser Dienst über bessere Datenschutzrichtlinien verfügte.

Und tatsächlich wurde er in der App fündig. Wie er den Nachrichten entnehmen konnte, hatte sein Anwalt mit einer gewissen Karolina Bonin nicht nur berufliche Belange, sondern auch Körperflüssigkeiten ausgetauscht. Es schien sich also nicht nur um seine Geliebte, sondern auch um eine Arbeitskollegin zu handeln.

Dorn klappte den Bildschirm des Laptops hoch und stellte mit Erleichterung fest, dass der Passwortschutz deaktiviert war. Als er Seilers Namen und das Wort Anwalt googelte, fand er direkt die Kanzlei, für die er tätig gewesen war, und scrollte auf deren Homepage durch den Menüpunkt mit den Mitarbeitern, wo er tatsächlich auf jene Karolina Bonin stieß. Dorn betrachtete das Foto der brünetten Frau Anfang dreißig. Sein Anwalt hatte Geschmack, das musste man ihm lassen. Er nahm das Handy wieder zur Hand und las etwa zehn Minuten lang in den Chatverläufen. Dann hielt er sich für ausreichend vorbereitet, um eine Nachricht zu verfassen, wobei er penibel darauf achtete, Seilers Sprachduktus zu treffen.

Hey Sweety!

Es hat mich erwischt. Habe fiese Hals- und Kopfschmerzen, und mir tut jeder Knochen weh. Ich glaube, ich habe sogar Fieber. Wenn das bis morgen nicht besser ist, wovon ich ausgehe, werde ich kaum zur Arbeit kommen können. Falls ich länger als drei Tage ausfallen sollte, melde ich mich noch mal. Die AU reiche ich nach. Kannst du das weitergeben?

Keine halbe Minute später kam die Antwort:

Och, mein Hase …

Ich hoffe, es ist nur ein Fall von Männergrippe. ;-)

Falls du was brauchst, sag Bescheid. Ich habe eine ziemlich gut ausgestattete Hausapotheke.

Gute Besserung!

Küsschen

Dorn überlegte, es dabei bewenden zu lassen, entschied sich aber, noch mal zu schreiben.

Danke Liebes!

Fühlt sich eher wie eine echte Grippe an … Ein Arzt hat mir mal gesagt, eine Grippe dauert vierzehn Tage und mit Medikamenten zwei Wochen. Insofern versuche ich mal, ohne Chemie auszukommen. Und ich will dich keinesfalls anstecken.

Küsschen

Dorn zögerte, drückte aber schließlich auf Senden. Musste schmunzeln. Es ließ sich nicht leugnen – irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Da hatte es ihn doch tatsächlich mehr Überwindung gekostet, die Nachricht mit einem Küsschen zu schließen, als seinem Anwalt den Hals aufzuschlitzen …

Er fuhr zusammen, als es an der Tür läutete.

Wer zum Geier konnte das sein? Die Cops?

Hektisch sah er sich um und stellte mit Erschrecken fest, dass man ihn dort, wo er saß, durch zwei Fenster würde sehen können, sofern man ins Haus spähte.

Er sprang auf, schlich zum Durchgang der Diele und drückte sich dort an die Wand. Lugte ums Eck Richtung Tür, wo er einen menschlichen Schemen hinter der Milchglasscheibe erblickte. Der Größe nach schien es ein Mann zu sein, dessen Silhouette zunächst reglos dastand, bis sie verblasste wie der Atemhauch auf einem Spiegel. Erleichtert stieß Dorn die Luft aus und wollte schon wieder zurück auf die Couch, als er im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm.

Sein Kopf schnellte nach links, wo ein junger Mann am Fenster vorbeiging. Die rot-gelbe Jacke verriet, dass es sich um den Postboten handelte, der offenbar auf dem Weg zur Terrasse war. Dorns Blick glitt von der großen Scheibe zur Leiche. Shit!

Blitzschnell zog er den blutüberströmten Körper zurück in den Flur, bis dieser außer Sichtweite war.

Draußen erklang ein hohles Klock , als ein Karton abgestellt wurde.

Dorn wartete zwei Minuten, bevor er sich vorwagte und davon überzeugte, dass die Luft rein war. Dann erst trieb ihn die Neugier auf die Terrasse, wo der Bote die Sendung unter der eingefahrenen Markise abgestellt hatte. Der bekam sicher nicht den Titel Mitarbeiter des Monats , dachte Dorn, als er das Päckchen ins Haus holte. Im Falle von Regen wäre es völlig durchweicht worden. Er musste seinen Job besser machen als dieser Bote. Genau genommen durfte er sich nicht den winzigsten Fehler erlauben. Daher galt es zunächst, die Leiche zu beseitigen, genau wie die Sauerei auf dem Boden. Da er den schweren Anwalt aber nicht durchs Haus schleifen wollte, womit er bloß das ganze Blut verteilt hätte, sah er sich in den Räumlichkeiten um und fand im Arbeitszimmer einen Bürostuhl, den er in die Diele rollte. Es war zwar gar nicht so leicht, den erschlafften Körper auf die Sitzfläche zu hieven und dafür zu sorgen, dass dieser hocken blieb, aber aufgrund seiner Erfahrungen mit Leichen gelang es ihm schließlich. Dann packte er den Anwalt an den Schultern und schob ihn wie einen Gelähmten im Rollstuhl vor sich her. In der Küche blieb er vor einem hölzernen Klappladen stehen, hinter dem er die Besenkammer vermutete. Tatsächlich befand sich darin zwar kein Besen, dafür Eimer und Wischmopp, was ihm in seiner Situation sogar dienlicher erschien. Die Putzutensilien tauschten ihren Platz mit Seiler. Dann machte Dorn sich daran, das Blut im Flur aufzuwischen. Nachdem er auch Mopp und Eimer gereinigt und diese wieder in dem Verschlag verstaut hatte, spürte er, dass er sich entspannte. Nun hatte er endlich Zeit, sich seinem eigentlichen Anliegen zu widmen.

Sein Blick fiel auf die Briefe, die er in seiner Unterhose mit sich herumgetragen hatte und die neben dem Paket auf dem Couchtisch lagen. Er hob das feuchte Bündel an die Nase. Schade, der schöne Duft war verloren. Durch die Flucht im Fluss war das Parfüm ausgewaschen, die Tinte verschmiert, doch man konnte das meiste noch lesen. Dennoch kehrte sogleich diese seltsame Anspannung zurück. Sollte er sich erst noch etwas Gemütlicheres anziehen? Vielleicht einen der Trainingsanzüge, die er im Schrank gesehen hatte? Schließlich hatte er heute nicht mehr vor auszugehen. Es sei denn, es war nichts zum Essen im Haus. Aber war er überhaupt hungrig? Schwer zu sagen. Sein Magen fühlte sich zwar etwas flau an, aber das mochte andere Gründe haben.

Als er merkte, dass er sich zu drücken versuchte, gab er sich einen Ruck. Er fläzte sich in den Sessel, blieb aber noch eine Weile sitzen, bevor er es endlich über sich brachte, einen der Briefe zur Hand zu nehmen. Er strich diesen glatt, las die Adresse und gab sie am Laptop in die Suchmaschine ein. Als ihm das Ergebnis angezeigt wurde, entfuhr ihm ein ungewohnter Laut. Ein seltsamer, fast grunzender Ton, der irgendwo zwischen Erstaunen und Erkenntnis rangierte.

Das ändert natürlich alles …

Sollte er es dennoch wagen?

Er hob den Blick, starrte eine Zeit lang ins Nichts, bis sich ein entrücktes Lächeln über seine Züge legte.

Ja, er sollte. Wieso auch nicht?