Allmählich tat ihm der Arsch weh, denn er hockte hier schon seit Stunden. Aber nach wie vor keine Spur von dem Arzt. So langsam musste dieser Seelenklempner doch mal Feierabend machen. Dorn beschloss, noch eine halbe Stunde zu warten und dann zurück in sein Versteck zu fahren, um abermals umzuplanen.
Nachdem Fuchs und Schuhmann in einem grünen Mazda davongebraust waren, hatte Dorn alle Sachen im Range Rover verstaut, sich hinters Steuer gehockt und gewartet. Als ein weiteres Fahrzeug in die Straße gebogen war, hatte er sich flink davorgesetzt und war, um nicht mit einem umständlichen Wendemanöver aufzufallen, gemächlich, wenn auch mit pochendem Herzen, durch den Wendehammer gefahren, wo das Observationsteam gestanden hatte. Die Blicke der beiden Fahnder hatten förmlich auf seiner Haut gebrannt. Doch da ihn diese Idioten dabei beobachtet haben mussten, wie er in Arbeitsmontur die Gartengeräte ins Fahrzeug geladen hatte, schienen sie ihn, wie erhofft, als harmlos abgestempelt zu haben. Vermutlich war der Fahrer des anderen Wagens von größerem Interesse für sie gewesen.
Ein Stück die Straße runter war er links abgebogen, hatte gewendet und direkt an einer T-Kreuzung geparkt, von wo aus er einen optimalen Überblick hatte, wer aus der Sackgasse kam, in der die Klinik lag.
Jetzt dachte Richard Dorn nach. Wenn Fuchs und Schuhmann den Arzt über seinen Gefängnisausbruch informiert, ihm womöglich sogar ein Bild von ihm ausgehändigt hatten, musste er sich etwas einfallen lassen. Weiterhin konnte er davon ausgehen, dass man neben der Klinik auch sein Mädel beschatten würde. Vielleicht hatten die Cops sie schon kontaktiert, um zu sehen, wie sie reagierte. Oder sie hatten bereits versucht, sie zu korrumpieren. Bei diesem Gedanken wurde ihm flau im Bauch. Eine unangenehme Mischung aus Wut, Frustration und Verzweiflung stieg in ihm auf. Er musste einen Weg finden, mit ihr zu sprechen, um herauszufinden, ob das, was sie ihm zwischen den Zeilen vermittelt hatte, ernst gemeint war. Und falls er es schaffte, Kontakt zu ihr herzustellen und sie endgültig für sich zu gewinnen, würde dies sein Leben auf so dramatische Weise verändern, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Er würde zum ersten Mal ausleben können, was er bisher nur aus Filmen kannte. Wenn sie ihm freiwillig gab, was er brauchte, konnte er bestimmt auch aufs Töten verzichten. Der damit verbundene Kick würde ihm zwar ganz sicher fehlen, doch er hielt ohnehin nur kurz an. Und die anschließende Phase der Niedergeschlagenheit wog meist um ein Vielfaches schwerer als das vorangegangene Vergnügen.
Dorn sah sich den forensischen Psychologen der Haftanstalt bereits Lügen strafen, der ihn als hedonistischen Triebtäter eingestuft und ihm unterstellt hatte, dass er nur aus dem Leiden seiner Opfer Befriedigung ziehen könne. Diesem aalglatten Wichser würde er es zeigen. Mehr noch – er würde es der ganzen Welt beweisen!
Fast blieb sein Herz stehen, weil jemand ans Fenster der Beifahrerseite klopfte. Sein Kopf schnellte herum, und er sah einen älteren Herrn mit Hut, der ihm das Zeichen gab, die Scheibe herunterzulassen.
Jetzt bloß nicht auffallen! Solche alten Knacker waren gefährlich. Von Natur aus argwöhnisch und aus chronischer Langeweile notorische Umgebungsbeobachter.
Dorn lächelte, nickte und suchte an seiner Tür nach dem elektrischen Fensterheber, musste dann aber feststellen, dass diese alte Möhre noch Kurbeln besaß. Seiler konnte wirklich kein Erfolgsanwalt gewesen sein. Widerwillig beugte er sich auf die Beifahrerseite hinüber und kurbelte das Fenster runter.
»Guten Tag«, grüßte er betont höflich.
»Junger Mann«, kam der Alte direkt zur Sache, »Sie wissen schon, dass Sie beim Parken mindestens fünf Meter Abstand zu Straßenkreuzungen einhalten müssen?«
»Ich parke ja nicht, denn ich habe den Wagen noch nicht verlassen.«
»Länger als drei Minuten halten entspricht parken …«, kam prompt die Antwort, »… und Sie stehen mindestens schon zwei Stunden hier.«
Kurz schoss Dorn die Garotte durch den Kopf, die er sich aus dem Fahrradbremszug sowie zwei Besenstielstücken gebastelt hatte und die im Handschuhfach lag. Doch er verwarf den Gedanken und rang sich ein Lächeln ab. »Entschuldigen Sie, ich bin gleich wieder weg.«
»Was machen Sie überhaupt hier?«
Dorn hob das Handy hoch. »Ich sollte eine Dame abholen und habe, nur Sekunden bevor Sie an die Scheibe geklopft haben, die Nachricht erhalten, dass ich versetzt wurde. Leider.« Er versuchte sich an einem traurigen Gesicht.
Der Alte musterte ihn, als wunderte er sich, welcher Idiot in Gärtnermontur eine Dame abholte. Dorn fürchtete schon, der Mann könnte ihn nach dem Namen dieser Dame fragen, da er jeden hier in der Nachbarschaft kannte. Stattdessen deutete er auf das Handy. »Das liegt an diesen Dingern, das sage ich Ihnen. Seitdem es die gibt, sind Verabredungen unverbindlich geworden. So was hätte es früher nicht gegeben. Zu meiner Zeit konnte man sich schon Wochen vorher verabreden, und jeder war pünktlich da. Aber jetzt …«
Während er den Alten im Geiste verfluchte, da dieser ihn nötigte, seinen Posten aufzugeben, schenkte Dorn ihm ein falsches Lächeln. »Sie sagen es. Früher war alles besser.«
Von rechts schob sich ein rotes Auto ins Bild.
Dorn warf einen Blick in das Fahrzeug und erkannte einen bärtigen Mann mit Brille hinter dem Steuer. Scheiße – das ist er! Nichts wie hinterher!
Der Alte legte seine Hände auf die Kante der Scheibe, als umklammerte er eine Reling. »Ich würde nicht sagen, dass früher alles besser war, aber vieles . Müsste ich schätzen, würde ich sagen, Sie sind Mitte dreißig, womit uns beide ein halbes Jahrhundert trennt.«
Gehetzt sah Dorn der roten A-Klasse nach und richtete den Blick wieder auf den Greis. »War wirklich nett, Sie kennenzulernen, aber ich muss jetzt los.«
»Nun haben Sie es aber plötzlich eilig, was?«
Dorn startete den Motor. »Jepp. Schönen Abend noch.«
Als der Mann endlich seine faltige Hand von der Scheibe genommen hatte, tippte sich Dorn an die Schläfe und fuhr los. Natürlich langsam, mit Bedacht, sowie nach ordnungsgemäßem Setzen des Blinkers. Nicht dass sich dieser Verkehrsregelfetischist noch das Kennzeichen merkte. Während Dorn abbog, sah er im Rückspiegel, dass ihm der Mann nachschaute.