20 

Was war nur wieder mit ihm los?

Betroffen blickte Martina Wuest ihrem Lebensgefährten nach, dessen Silhouette hinter der Hecke in der Abenddämmerung verschwand. Die an den Garten angrenzenden Felder sowie das Wäldchen dahinter wirkten wie Scherenschnitte vor dem Farbband des Himmels.

Obwohl Volker sich in letzter Zeit manchmal seltsam verhielt, war Martina der Meinung gewesen, dass es ihm besser ging. Dass er es allmählich überwunden hatte. Natürlich würde ihn der Schmerz nie ganz loslassen. Aber es hatte den Anschein erweckt, dass er sich mit dem Leid arrangieren konnte und lernte, damit zu leben. Doch seit er heute Abend das Haus betreten hatte, fürchtete sie, dass dies ein Trugschluss gewesen war. Er hatte sich direkt in sein Zimmer verzogen, ohne mit ihr zu reden. Wie verrückt das eigentlich war – ein Mann, der sein Geld damit verdiente, Gespräche zu führen, damit andere ihren Seelenballast loswurden, schaffte es selbst nicht, den Mund aufzumachen. Aber der Schuster trug bekanntlich die schlechtesten Schuhe.

Martina deckte den Tisch ab, ging hinüber in die offene Küche, wo sie die Teller in den Geschirrspüler räumte. Anschließend legte sie einen Tab in den Besteckkasten und startete das Gerät. Sogleich setzte dieser furchtbare Ton ein, den die Maschine seit einiger Zeit von sich gab, sobald die Pumpe ansprang. Ein enervierendes Kreischen, das einen um den Verstand bringen konnte. Da die Spülleistung aber funktionierte und das Geräusch nach etwa zehn Minuten verschwand, hatte sie noch keinen Mechaniker gerufen.

Sie horchte auf. Hatte es geklingelt? Einen Moment lang verharrte sie in der Pose und lauschte, hörte aber nichts als das Kreischen der Pumpe. War wohl doch an der Zeit, sie reparieren zu lassen.

Martina ging zurück zum Esstisch, um die abgefallenen Blätter der Narzissen aufzulesen, die ihr Volker Anfang der Woche mitgebracht hatte. An dem Tag war er richtig gut drauf gewesen. Und jetzt? Echt ein Jammer …

Mit der einen Hand fegte sie Blätter und Blütenstaub in die andere, als es nun unüberhörbar klingelte. Sie ging vor zur Tür, um durch den Spion zu spähen. Draußen stand ein adrett gekleideter Mann, dem trotz seines jungen Alters der Haarausfall heftig zugesetzt hatte. Obwohl er keineswegs kriminell aussah, hakte sie den Sperrbügel ein, denn man konnte nie wissen. Dann öffnete sie die Tür, soweit es die Vorrichtung zuließ.

»Ja, bitte?«

»Guten Abend. Marco Seiler mein Name, ich grüße Sie. Entschuldigen Sie bitte, dass ich hier so unangemeldet aufschlage, aber ich bin Anwalt und war in der Gegend bei einem Mandanten und dachte mir, dass ich bei der Dringlichkeit meines Anliegens besser einen kurzen Abstecher hierher machen sollte, um persönlich mit Ihrem Mann zu sprechen, als den beschwerlichen und leider auch trägen offiziellen Weg einzuschlagen.« Er lächelte.

Martina Wuest runzelte die Brauen, was ihrem Gegenüber offenbar nicht entging, denn er zückte sogleich seinen Ausweis. In der anderen Hand hielt er eine Aktentasche aus Leder. »Ich vertrete die Interessen einer Familie, die seit gestern durch tragische Umstände nur noch aus einem achtjährigen Mädchen besteht. Vielleicht haben Sie von dem Unfall auf der A5 Richtung Kassel gehört?«

Martina riss die Augen auf. »Nein, habe ich nicht. Aber das ist ja schrecklich.«

»Ja, ist es.«

Martina legte den Kopf schief. »Aber ich verstehe nicht, wie Ihnen mein Lebensgefährte dabei helfen soll.«

»Es ist so: Die Patentante dieses Mädchens ist eine Patientin von Dr. Rammelt. Und damit die kleine Helena nicht im Heim untergebracht werden muss, bis alle bürokratischen Hürden genommen sind, bräuchte ich eine kurze Einschätzung von ihm, ob er denkt, dass die Patentante, die ja nun mal eine psychiatrische Behandlung in Anspruch nimmt, überhaupt in der Lage ist, sich um das Mädchen zu kümmern. Es wäre ja durchaus möglich, dass das Heim das kleinere Übel für das Kind wäre, aber da möchte ich ungern spekulieren. Mir ist natürlich bewusst, dass Ihr Lebensgefährte nicht viel sagen darf, aber ich bin selbst Vater einer kleinen Tochter, und es würde mir das Herz zerreißen, wenn ich wüsste, dass Helena wochenlang, womöglich sogar über Monate in ein Heim müsste, nur weil Justitias Mühlen so langsam mahlen. Mir würde ja schon ein vielsagender Blick auf meine Frage reichen. Wirklich, mehr ist es nicht. Kleine Ursache mit riesiger Wirkung. Würden Sie ihn denn mal holen?«

Martina Wuest sah über ihre Schulter ins Haus. »Sie haben ihn gerade verpasst. Er ist mit dem Hund raus. Aber er läuft abends meistens dieselbe Runde. Er sollte also in zwanzig Minuten zurück sein. Höchstens in dreißig«, korrigierte sie sich, als ihr wieder einfiel, wie Volker drauf gewesen war. An solchen Tagen ließ er sich oft etwas mehr Zeit mit dem Spaziergang, um den Kopf freizukriegen, wie er es nannte.

»Kein Problem, ich kann warten.« Der Anwalt sah sich um, als suchte er auf dem Treppenabsatz nach einer Sitzgelegenheit.

Martina zögerte, wog etwas ab und schlug ihre Bedenken aber dann in den Wind. »Sie können gerne drin warten. Ich mache Ihnen auf.« Sie schloss die Tür, hakte den Sperrbügel aus und ließ den Mann mit dem dunklen Haarkranz und dem Herzen für kleine Mädchen eintreten. »Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?«

Der Fremde spitzte die Lippen. »Ich will Ihnen keine Umstände machen, aber hätten Sie auch einen warmen Kakao?«