25 

Ein Häufchen Elend.

Das war alles, was Lara beim Anblick des Mannes einfiel. Keine Stunde zuvor hatte sie noch erwogen, sich vielleicht mal selbst an ihn zu wenden. Doch in Anbetracht dessen, was Rammelt durchgemacht hatte und noch durchmachen würde, wirkten ihre Probleme wie Zipperlein. Aus dem renommierten Psychiater, der angeblich am Standardwerk seiner Zunft mitgewirkt hatte, war auf einen Schlag eine zerschmetterte Existenz geworden. Kaum vorstellbar, wie ein Mensch sich je von so was erholen sollte. Im Moment war er davon jedenfalls Lichtjahre entfernt. Vor allem, da ihm ein sichtlich verärgerter Hauptkommissar gegenübersaß, dem jeden Moment der Geduldsfaden zu reißen drohte.

Sie saßen zu dritt am Esstisch im Wohnzimmer, einem in Laras Augen denkbar ungünstigen Ort, um diesen traumatisierten Mann zu befragen. Aber dort hatte Rammelt sich bei ihrer Ankunft bitterlich weinend niedergelassen, ohne bisher auch nur auf eine einzige ihrer Fragen zu antworten.

Lara schaute über die bebenden Schultern hinweg Richtung Küche, wo ein Beamter der Spurensicherung mit einem Fotoapparat im Anschlag die Tote umkreiste wie ein Jäger die Beute. Jedes Mal, wenn der Auslöser klickte, erstarrte die Szenerie für einen Sekundenbruchteil in monochromem Licht, das die zwei Schlieren, die von der Blutlache wegführten, schwarz wirken ließ. Die Spuren verloren sich nach einem halben Meter in den klar abgrenzbaren Pfotenabdrücken, die auf dem Weg in die Diele verblassten. Wahrscheinlich hatte der Hund das Blut aufgeleckt und war von Rammelt fortgeschleift worden. Jetzt war der Hund im Obergeschoss eingesperrt, von wo sein mitleiderregendes Jaulen zu ihnen hinunterdrang.

Die Leiche, die an einer Schrankblende lehnte, erinnerte Lara an eine gespickte Voodoo-Puppe, an der sich jemand mit infernalischem Zorn ausgetobt hatte.

Sie hatten richtiggelegen, waren aber zu spät gekommen.

»Gibt es einen Raum, in dem wir uns in Ruhe unterhalten können?«, startete Fuchs einen erneuten Versuch, den Psychiater zum Reden zu kriegen. Nachdem dieser weiterhin nicht reagierte, wurde Joachims Ton eine Spur schärfer. »Wenn wir denjenigen, der für das hier verantwortlich ist, fassen sollen, brauchen wir Ihre Hilfe.«

Die Erschütterungen in Rammelts Körper verebbten. Langsam hob er das Gesicht aus den Händen und sah die Ermittler aus verquollenen Augen an. »Derjenige sitzt vor Ihnen.«

»Ich verstehe, dass Sie sich schuldig fühlen«, sagte Fuchs, »aber das hilft uns nicht weiter. Ihnen im Übrigen auch nicht. Und das wissen Sie, allein schon von Berufs wegen. Sie müssen sich jetzt für ein paar Minuten zusammenreißen und uns alles erzählen. Wie sind Sie an Richard Dorn herangetreten? Was hat er über sich offenbart? Wir brauchen einfach alles, was Sie über ihn wissen.«

»Macht das jetzt noch einen Unterschied?«

Fuchs schwieg, wartete, ob Rammelt noch etwas sagte, doch der begann stattdessen zu wimmern.

»Er hat mir alles genommen. Alles!«

Lara bemerkte ein Flackern im Blick ihres Partners, als der erwiderte: »Auf Sie mag das zutreffen, Herr Rammelt. Aber es gibt noch andere Menschen, denen er ihre Liebsten nehmen kann. Ich versichere Ihnen hiermit, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um das zu verhindern – wirklich alles. Wozu im Moment aber leider auch gehört, Sie zu befragen. Und das werde ich so lange tun, bis ich alle Informationen bekommen habe, die Sie uns geben können. Haben Sie das verstanden?«

Rammelt starrte auf seine Handflächen, als überlegte er, wieder sein Gesicht darin zu vergraben.

Lara fragte sich, ob Rammelt bei diesem Anblick womöglich ein anderer Gedanke durch den Kopf schoss. Einer, den Fuchs im nächsten Moment aussprach, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

»Wenn Sie also kein Blut an Ihren Händen kleben haben wollen, Herr Rammelt …«, Fuchs presste die letzten Worte heraus, »… dann reden Sie!«

Auch wenn Lara Joachims Ungeduld nachvollziehen konnte, war sie überrascht, denn ihr Kollege vergriff sich nur selten im Ton. Besonders in Situationen wie dieser glänzte er für gewöhnlich mit unerschöpflichem Einfühlungsvermögen. Doch das kannte offenbar Grenzen, was sie in diesem Fall merkte und auch für angebracht hielt. Immerhin hatte Rammelt mit seinen Briefen den Stein erst ins Rollen gebracht. Zudem drängte die Zeit. Allerdings fürchtete sie, dass die Verzweiflung des Psychiaters jeden Moment in Wut umschlagen könnte, falls Joachim weiter an dessen Schuldgefühle appellierte.

»Sie konnten unmöglich ahnen, dass so etwas passiert«, grätschte sie daher dazwischen. »Wie soll ein normal denkender Mensch auch auf die Idee kommen, dass es einem Häftling gelingen könnte, aus einem Hochsicherheitstrakt zu entkommen? Niemand wird Ihnen deswegen einen Vorwurf machen. Wir jedenfalls nicht.« An dieser Stelle stieß sie Fuchs unter dem Tisch mit dem Fuß an. »Aber wir würden gerne erfahren, was Sie angetrieben hat, ihm zu schreiben?«

Rammelt sah sie an, schluckte. »Das Warum.« Für diese Antwort hatte er nicht nachdenken müssen.

»Das Warum?«, fragte Lara. »Sie meinen, den Grund, weshalb er Ihre Tochter ermordet hat?«

Rammelt nickte, fing wieder an, stumm zu weinen.

»Haben Sie eine Antwort darauf erhalten?«, wollte Lara wissen.

Er schüttelte den Kopf, zog die Nase hoch.

»Aber Sie haben bis zuletzt gehofft, er würde Ihnen den Grund noch nennen?«

Erneutes Kopfschütteln.

»Und trotzdem haben Sie ihm weiter Briefe geschrieben? Jetzt möchte ich Sie gerne fragen: Warum?«

Rammelt schlug den Blick nieder, blinzelte Tränen weg.

Lara setzte ihm nach. »Sie haben sich als junge Frau ausgegeben. Ich nehme an, Sie wollten sein Vertrauen gewinnen.«

Ein Nicken.

»Nachdem Ihnen das ja offenbar gelungen war und Sie gemerkt haben, dass Sie keine zufriedenstellende Antwort auf Ihre Frage erhalten würden – warum haben Sie ihm dann weiter geschrieben?«

»Und ihn derart angestachelt?«, ging Joachim dazwischen. »War Ihnen denn nicht klar, was Sie damit bewirken? Das ist ja wie einen Eimer voll Blut in ein Becken mit einem gefräßigen Hai zu gießen. Was haben Sie sich dabei gedacht?«

Lara wollte schon intervenieren, da Joachim nun unfair wurde, aber Rammelt kam ihr zuvor.

»Er war eingesperrt!«, schrie Rammelt. »In einem Hochsicherheitstrakt. Er hätte niemals entkommen dürfen. Wessen Schuld auch immer das war – meine bestimmt nicht!«

Kurz war es still im Haus. Selbst der Hund hatte das Gejaule eingestellt.

»Was sollte das Ganze dann?«, fragte Joachim gefasst und ignorierte die von Rammelt in den Raum geworfene Schuldfrage, da er sonst vermutlich an die Decke gegangen wäre. »War Dorn so eine Art Psychoexperiment für Sie?«

»Experiment?« Rammelt sah ihn mit wutverzerrtem Gesicht an. »Er hat mir meine Tochter genommen, mir den Sinn meines Lebens geraubt. Haben Sie auch nur die geringste Vorstellung, wie sich das anfühlt? Was das mit einem macht? Psychiater hin oder her. Ich wollte zumindest das kleine bisschen Vergeltung, das ich bekommen konnte. Wie sonst hätte ich denn an dieses Monster herankommen können? Wie? Sagen Sie es mir! Mir war es ja nicht mal vergönnt, diesen Hai in seinem Aquarium zu beobachten. Zu sehen, ob er unter dem Freiheitsentzug litt. Stattdessen erzählte mir mein Verstand jeden Tag die Geschichte, wie gut es ihm dort erging. Dass er regelmäßig Essen bekommt, ein warmes Bett, Kabelfernsehen. Die haben sogar Fitnessgeräte da drin, wussten Sie das? Drei Viertel der Menschheit hat einen solchen Luxus nicht. Finden Sie das gerecht?«

Nein, gerecht war das nicht, dachte Lara, behielt ihre Meinung aber für sich, da sie Joachims Befragung nicht in die Quere kommen wollte.

Fuchs verschränkte die Hände vor sich auf dem Tisch. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen. Worin sehen Sie Ihre Vergeltung, wenn Sie einem Narzissten schmeichelnde Briefe schreiben? Sie haben einem Triebtäter das Foto einer attraktiven Frau geschickt, die exakt seinem Beuteschema entspricht. Das ergibt für mich keinen Sinn. Erst recht ist es keine Strafe, sondern vielmehr ein Geschenk.«

»Ich wollte, dass er leidet!«, rief Rammelt. Ein Speichelfaden landete auf seinem Kinn.

»Ja wie denn?«, fragte Fuchs. »Erklären Sie es mir bitte! Ich verstehen es nicht.«

Rammelt holte Luft. »Indem er schmerzlich erkennt, dass er das, was er am meisten begehrt, nicht mehr haben kann. Ich stellte ihn mir durch seine Inhaftierung wie einen vom Hals abwärts gelähmten Sexsüchtigen vor, dem ich durch die Briefe quasi ein Porno-Kopfkino beschere, der sich jedoch keine Erleichterung verschaffen kann. Und irgendwann, wenn ich das Gefühl gehabt hätte, er sei dieser Frau, diesem vermeintlichen Groupie, mit Haut und Haar verfallen, hätte ich die Bombe platzen lassen. Dann hätte ich ihm auch etwas nehmen können, das ihm alles bedeutet, verstehen Sie? Das war doch die einzige Möglichkeit für mich, wie ich ihm von hier draußen zusetzen konnte.«

Fuchs’ Blick kreuzte den von Lara, während er nachdenklich nickte. Dann wandte er sich wieder dem Psychiater zu. »Wer war die Frau? Die auf dem Foto, das Sie ihm geschickt haben?«

Rammelt zuckte die Schultern. »Weiß ich nicht. Ich habe das Bild aus dem Internet. Ich musste eine Weile suchen, bis ich sie fand. Aber wie Sie schon sagten, entsprach sie genau seinem Beuteschema. Damit es authentisch wirkt und er keinen Verdacht schöpft, habe ich das Bild auf Fotopapier drucken lassen.«

Fuchs hob die Brauen. »Dann hoffen wir mal, dass Dorn, trotz der Erkenntnis, mit dem Bild nur gelinkt worden zu sein, nicht herauszufinden versucht, wer die Frau darauf ist.«

»Wird er schon nicht«, krächzte Rammelt, klang aber wenig überzeugt.

»Das sagen Sie so. Aber Sie haben auch nicht geglaubt, ihn mit Ihren Briefen aus dem Knast locken zu können. Am Ende wissen wir alle nicht, was in so einem kranken Hirn vor sich geht. Auch Sie nicht, obwohl Sie das beruflich machen. Und nur zu Ihrer Info: Heutzutage ist es überhaupt kein Ding mehr, jemanden mithilfe eines Fotos im Netz aufzustöbern. Es gibt frei verfügbare Software dafür. Und Dorn kennt sich mit solchen Sachen ziemlich gut aus. Haben Sie noch einen Abzug von dem Bild?«

»Nein.«

»Oder die Bilddatei auf dem PC?«

»Ich weiß es nicht. Glaube nicht. Ich hatte die auf einen Stick gezogen, den ich aber neulich mit Sachen für die Arbeit überschrieben habe.«

»Dann werden unsere Kollegen an Ihren Computer müssen. Vielleicht finden die ja noch was in den Suchverläufen. Und für den Fall, dass diese Frau im Netz auffindbar sein sollte und sie für Dorn auch nur im Geringsten erreichbar erscheint, weil sie eben nicht in Neuseeland oder Mexiko wohnt, braucht sie Polizeischutz. Genau wie Sie.«

»Ich?« Rammelt sah ihn verwirrt an.

»Natürlich. Er war hier in Ihrem Haus und hat Ihre Lebensgefährtin getötet. Wir wissen nicht, ob er der Meinung ist, sich damit genügend an Ihnen gerächt zu haben.«

Rammelt schnaubte. »Glauben Sie, das spielt für mich noch eine Rolle? Jetzt, nachdem er mir auch Martina genommen hat?«

»Das ist unerheblich für uns. Wir lassen Sie trotzdem bewachen. Allein schon, um ihn zu schnappen, falls er hier auftaucht.« Fuchs rückte mit dem Stuhl vor und stützte die Arme auf den Tisch. »Und jetzt will ich alles hören, was Sie mit Ihrem Briefwechsel über Richard Dorn in Erfahrung gebracht haben.«