Richard Dorn konnte ums Verrecken nicht schlafen. Ständig hallten die letzten Worte der Frau in seinem Kopf wider, als hätte sie ihn mit einem Fluch belegt.
Kein Problem, wirklich. Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Ich hole schnell einen Lappen.
Kein Problem? Im Ernst? Blöde Fotze! Natürlich gab es ein Problem. Ein verdammt großes sogar. Doch das hatte sie am Ende sicher ähnlich gesehen.
Nachdem er das Foto mit dem Mädchen entdeckt und in einem fast apoplektischen Anfall die Tasse fallen gelassen hatte, war er der Frau wie in Trance in die Küche gefolgt, wo er unter ihren irritierten Blicken den Schrank mit den Mülleimern geöffnet hatte. Daraus hatte er dann den fliederfarbenen Papierball entnommen, diesen entknüllt und somit den endgültigen Beweis erbracht, dass das Unfassbare tatsächlich Realität war. Schwarz auf weiß – beziehungsweise in königsblauer Tinte auf violettem Papier – hatte es dagestanden. Der Miene der Frau nach zu urteilen, hatte sie keinen Schimmer von den Briefen gehabt. Dennoch war ihm keine Wahl geblieben.
Den Lappen, den sie vom Haken genommen hatte, um die Sauerei im Wohnzimmer aufzuputzen, hatte er stattdessen benutzt, um sich das Blut von den Händen zu wischen. Die Damastklingen waren so leicht in sie eingedrungen, als wäre ihr Körper aus Butter. Hatten Bluse, Haut, sogar Rippen durchbohrt und ihr mit jedem Stich ein Stöhnen entlockt. Das pulsschlagsynchrone Zucken des letzten Messers in ihrem Bauch hatte ihm gezeigt, dass es in einem großen Gefäß steckte, vermutlich in der Aorta. Und so war es, wie zu erwarten, recht schnell mit ihr gegangen, was ihn jetzt, in der Stille des Zimmers, in dem er nicht einschlafen konnte, auf wundersame Weise beruhigte. Denn neben ihrer widerhallenden Stimme machte ihm etwas Weiteres zu schaffen. Ein ungutes Gefühl, das sich in ihm eingenistet hatte, seitdem seine Wut verflogen war. Er wusste es zwar nicht sicher, vermutete aber, dass es Reumütigkeit war. Denn aus irgendeinem Grund hatte er die Frau gemocht. Vielleicht, weil sie so eine liebevolle Mutterfigur verkörpert hatte – eine, wie es seine eigene niemals gewesen war.
Trotzdem hatte die Wut obsiegt und die Frau zu einem Zweck degradiert. Deshalb sagte Richard sich immer wieder vor, dass ihm keine Wahl geblieben war. Er hatte es diesem Mann, von dem er auf die übelste Art hintergangen worden war, mit gleicher Münze heimzahlen müssen, was bedeutete, ihn gerade nicht zu töten, sondern dafür zu sorgen, dass er in höchstem Maße litt. Und was wäre da besser geeignet gewesen, als ihn im vollen Bewusstsein weiterleben zu lassen, die Schuld am Tod seiner Liebsten zu tragen. Um sicherzugehen, dass dies auch geschah, hatte er ihm die Nachricht auf ihrer Brust hinterlassen.
Draußen begannen die ersten Vögel zu zwitschern, und über die Innenseite seiner Lider waberten kaleidoskopartige Muster. Dorn wälzte sich auf den Rücken, öffnete die Augen und starrte mit wachsender Verzweiflung an die Decke. Selbst die schien in der Dunkelheit zu flimmern. Es war zum Verrücktwerden.
Was war bloß mit ihm los? Die Einschlafprobleme wurden ja schlimmer statt besser, obwohl er schon die zweite Nacht hier verbrachte. Holte ihn etwa ein Schatten aus der Vergangenheit ein? Oder hatten ihn diese Briefe verändert? Dieser Gedanke versetzte ihm einen Schreck. War es möglich, dass dieser Anflug von Sentimentalität und sein Mitgefühl für diese Frau daher rührten, dass ihm dieser Psychofritze eine Gehirnwäsche verpasst hatte? Konnte sich ein Psychiater mittels Briefen in seine Gedankenwelt hacken? Wieso nicht, schließlich war der menschliche Geist manipulierbar und das Gehirn nicht viel mehr als ein biologischer Computer. Die Frage war nur, ob auch ihm das passieren konnte, ohne dies zu bemerken. Im Grunde unvorstellbar. Andererseits hatte er auch nicht durchschaut, dass ihm ein alter Sack anstelle einer jungen Schönheit geschrieben hatte …
Nach zahllosen Gedankenspiralen dieser Art, während derer Dorn allmählich glaubte, den Verstand zu verlieren, zog es ihn letztlich doch in einen gnädigen, wenn auch äußerst unruhigen Schlaf.
Als dieser ein abruptes Ende fand, war es draußen schon hell, und jemand klingelte bereits zum dritten Mal an der Tür.