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Hoffentlich freute er sich über ihren Besuch, dachte Karolina Bonin, während der Türgong im Innern des Hauses verhallte. Es war das erste Mal, dass sie unangekündigt bei ihm aufschlug, und sie hatte keine Ahnung, wie er darauf reagieren würde. Andererseits könnte sie hier und jetzt Klarheit gewinnen, was genau das zwischen ihnen war. Sie hatte nur riesige Angst davor, dass es so ablief wie mit Piet. Und die letzten beiden Chats mit Marco waren nicht gerade vielversprechend gewesen. Womöglich übertrieb sie aber mal wieder, indem sie, neben jedem geschriebenen Wort, auch alle auf die Goldwaage legte, die sie selbst zwischen den Zeilen zu lesen glaubte. Zumindest unterstellte ihr das ihre beste Freundin Rebecca. Aber manchmal trogen die Zeichen eben nicht, egal, was Rebecca davon hielt. Marcos Nachrichten waren knapp und distanziert gewesen, genau wie am Ende bei Piet. Auch bei ihm hatte sie lange geglaubt, er sei der Richtige, bis sie dahintergekommen war, dass er die Sache anders sah und ihm Monogamie offenbar fremd war.

Wer will schon für den Rest seines Lebens jeden Tag Pizza essen , hatte er ihr erklärt, als seine Affäre aufgeflogen war. Bei der Erinnerung daran spürte Karo selbst heute noch Aggressionen in sich aufwallen. Allein schon, sie mit Pizza zu vergleichen, war eine Frechheit. Natürlich mochte die jeder, doch man bekam sie auch an jeder Straßenecke. Unterm Strich war Pizza also okay, aber eben nichts Besonderes. So ein Arschloch!

Rein optisch ähnelten sich die beiden zwar nicht, aber da man angeblich stets einem Muster folgte, wie Rebecca behauptete, bestand natürlich die Gefahr, dass dieses im Charakter zu finden war, was die Dinge nur schwieriger machen würde. Hoffentlich irrte sich ihre beste Freundin, dachte Karolina, als sie zum dritten Mal klingelte. Sie sah über ihre Schulter nach hinten, um sich noch mal davon zu überzeugen, dass der Jeep tatsächlich in der Einfahrt stand. Einkaufen oder beim Arzt war ihr Freund also nicht. War er vielleicht spazieren gegangen, um frische Luft zu schnappen? Sah ihm zumindest nicht ähnlich und passte auch nicht zu seiner Verfassung, schließlich war er ja nicht mal in der Lage gewesen, ein Telefonat zu führen. Ein anderer Gedanke stieg in ihr auf, einer, für den sie sich im selben Moment schämte. Warum beschwor ihr vermaledeites Gehirn nur solche Ideen herauf? Niemals würde Marco jetzt mit einer anderen im Bett liegen. Oder? Sag niemals nie , mahnte eine innere Stimme.

Karo stellte den Topf mit der Hühnersuppe, den sie zwischen Armbeuge und Hüfte hielt, vor die Tür, schritt das Beet ab und suchte nach dem Kieselstein, der in Wahrheit aus Kunststoff bestand. Nachdem sie ihn entdeckt hatte, hob sie ihn hoch, löste den Deckel von der Unterseite und fingerte den Schlüssel aus dem Hohlraum. Während sie dies tat, kam ihr ein beruhigender Gedanke. Wenn Marco keine ernsthaften Absichten hegte, hätte er ihr doch nicht von dem Zweitschlüssel erzählt. Und falls er Besuch von einer anderen hätte, würde der Schlüssel nicht hier im Versteck liegen. Marco war ja nicht blöd.

Sie legte die Steinattrappe zurück ins Beet, ging zur Tür und schloss auf. Spürte, dass ihr Herz kräftiger schlug und einen Zahn zugelegt hatte. Die Tür glitt auf.

»Hallo?«, rief sie zaghaft durch den Spalt. Nachdem keine Antwort gekommen war, rief sie erneut, diesmal lauter: »Marco?«

Nichts. Wahrscheinlich schlief er tief und fest, hatte Kopfhörer auf oder stand unter der Dusche.

Na, dann würde sie ihn jetzt überraschen. Sie lächelte.

Hoffentlich freute er sich, dachte sie, steckte den Schlüssel ein, hob den Topf vom Boden und betrat das Haus.

Richard Dorn sprang aus dem Bett, als hätte er den Appell beim Militärdienst verpennt, zog in Windeseile Jeans und T-Shirt über und schlich bis vor in den Flur. War das wieder dieser lausige Paketbote? Oder war man ihm nun doch auf die Schliche gekommen?

Mit pochendem Herzen spähte er ums Eck, konnte aber diesmal keinen Umriss hinter dem Milchglas erkennen. Also lehnte er sich zurück, sodass das Fenster zur Straße in sein Blickfeld geriet, doch auch dort war niemand zu sehen. Dann war der ungebetene Besucher vermutlich gegangen.

Er stieß die verbrauchte Luft aus der Lunge und spürte die verzögerte Wirkung des Adrenalins. So ungern er sich das eingestehen wollte – er würde sich nicht mehr lange hier verstecken können. Selbst wenn Seiler Junggeselle war – früher oder später würde jemand nach ihm sehen. Das hier war etwas anderes als mit dem gelähmten Förster, den kein Schwein vermisst hatte. Was wohl aus dem Haus geworden war? Sosehr es ihn interessierte – die Polizei würde den Ort garantiert überwachen. Falls man die Hütte nicht abgerissen hatte. Bei dem Gedanken an die Bullen fiel ihm auch wieder dieser gottverfluchte Kommissar Fuchs mit seinem Anhängsel ein, der ihm gestern schon viel zu nahe gekommen war. Wie oft hatte er in seiner Zelle fantasiert, ihm das Leben zur Hölle zu machen. Jedenfalls bestärkte ihn die Erinnerung an diesen dreckigen Schnüffler in seinem Beschluss, sich alsbald nach einer neuen Bleibe umzusehen. Aber wo?

Die Überlegung brach ab, da sein Herz abrupt stehen blieb. Es setzte genau für einen Schlag aus, als er einen Schlüssel im Schloss hörte. Auf Zehenspitzen zog er sich zurück, verfluchte das Knacksen seiner Gelenke und verschwand in der Küche, wo er die Tür zum Abstellraum öffnete.

»Hallo?«

Eine Frau. Verfickte Scheiße! Was jetzt?

»Marco?«

Hektisch sah er sich um, entdeckte die selbst gebaute Garotte, die er von der Anrichte nahm. Doch bevor er zurück zur Besenkammer gehen konnte, hörte er das Klacken von Absätzen auf den Fliesen. Rasch umrundete er den Küchenblock und ging dahinter in die Hocke.

Klack. Klack. Klack.

»Marco? Wo bist du denn? Ich habe dir Hühnersuppe gemacht. Die müsste nur aufgewärmt werden.«

Dorns Augen wanderten über die Backofentür, vor der er kauerte, hinauf zu den Knöpfen des Herds. Automatisch umklammerten seine Hände die Griffe der Garotte, bis seine Knöchel weiß hervortraten.

Klack. Klack. KLACK. Die Schritte wurden lauter.

Der Draht zwischen den Holzgriffen spannte sich.

Das Nächste, was Richard Dorn hörte, war ein hartes Tock , als der Topf auf dem Herd abgestellt wurde.

Seltsam, dachte Karo. Marco gab ja wirklich keinen Mucks von sich. Dabei hatte er für gewöhnlich keinen tiefen Schlaf. Eher im Gegenteil. Vielleicht war er platt, weil er die halbe Nacht kein Auge zugemacht hatte. Sie erinnerte sich, wie kräftezehrend Erkältungen sein konnten, erst recht, wenn man von nächtlichen Hustenattacken geplagt wurde oder sich wegen Gliederschmerzen in den Laken wälzte. Falls Marco noch im Bett lag, so entschied sie, würde sie sich dazulegen, sich an ihn kuscheln und ihn auf andere Gedanken bringen. Und wenn sie sich ansteckte? Auch egal. Dann würden sie eben zusammen das Bett hüten. Sobald es ihm wieder besser ging, könnte er sich um sie kümmern. Der Gedanke gefiel ihr. Dafür würde sie sogar eine Erkältung in Kauf nehmen.

Sie stellte den Topf auf den Herd, verließ die Küche und bog nach rechts Richtung Schlafzimmer ab. Schon aus der Entfernung konnte sie sehen, dass die Tür angelehnt und der Raum abgedunkelt war. Marco hatte die Vorhänge zugezogen. Also lag er doch im Bett. Sie streifte ihre Pumps ab, um auf Zehenspitzen weiterzugehen. Als sie die Schlafzimmertür erreichte, stellte sich eine gewisse Vorfreude ein. Vorsichtig schob sie die Tür auf und stockte. Versuchte, eine Erklärung für das zu finden, was sie dort sah. Da saß Marco, den Rücken ihr zugewandt, in dem abgedunkelten Raum auf einem Stuhl und … tat was?

»Marco?« Von jetzt auf gleich hämmerte ihr Herz gegen die Rippen.

Wie in Zeitlupe bewegte sie sich auf ihn zu. Noch bevor sie sich davon überzeugen konnte, dass sie richtiglag und dies kein böser Traum war, durchzuckte es sie wie ein Blitz, da sie ein Geräusch wahrgenommen hatte. Das leise, aber unverkennbare Knacksen eines Gelenks.

Sie wirbelte herum und erschrak fast zu Tode, als sie Marco erblickte, der nur ein paar Meter hinter ihr ging und just in dieser Sekunde beschleunigte. Sie brauchte einen Moment, um ihren Irrtum zu erkennen sowie den Gegenstand in der Hand des Fremden.

Karo schrie auf. Wie von selbst packte ihre Hand die Tür, schlug sie zu, und fast im selben Moment, in dem die Schlossfalle einschnappte, rumste der Körper des Unbekannten gegen das Holz. Trotz der Wucht des Aufpralls hielt das Schloss stand. Rasch drehte Karolina den Schlüssel.

»Hau ab!«, schrie sie. »HILFE!«

Panisch sah sie sich um.

Das Fenster!

Sie stürmte los, riss die Vorhänge beiseite und packte den Fenstergriff, doch der ließ sich kein bisschen bewegen. Sie rüttelte kräftiger, schrie, hörte Holz hinter sich splittern. Entdeckte den kleinen Schlüssel im Griff, den sie drehte, doch das verdammte Ding klemmte.

Erneutes Rumpeln. Wieder barst Holz, diesmal jedoch so, als hätte es den Kampf verloren.

Karolina drückte das Schlüsselchen ins Schloss und wackelte wie verrückt am Fenstergriff, da gab dieser endlich nach. Rasch drehte sie ihn in die horizontale Position, riss das Fenster auf und schrie, so laut sie konnte, in die Nachbarschaft hinaus: »HIIIIIIIILFEEEEEEE!«

Da flog die Tür hinter ihr auf, schlug krachend gegen die Wand und gab den Blick auf die Silhouette des Mannes frei.

Karo hob ein Bein über das Fensterbrett, stieß sich mit dem anderen Fuß ab, wurde aber in der Bewegung gestoppt.

Der Fremde hatte sie an ihrem Blazer gepackt.

Mit einem Urschrei der Angst schlug Karo um sich, traf den Gegner am Kopf, woraufhin der schmerzerfüllt aufstöhnte. Für einen Moment ließ der Zug an ihr nach. Sie streckte die Arme nach hinten und warf sich nach vorn, legte ihr ganzes Gewicht in den Schwung. Spürte, wie ihre Arme aus den Jackenärmeln glitten. Einen Wimpernschlag später schlug sie mit dem Gesicht auf den Waschbetonplatten auf. Kurz wurde ihr schwarz vor Augen, doch sie rappelte sich wieder auf. Da bekam er ihre Haare zu fassen. Erneut schlug sie um sich, diesmal ohne Erfolg. Sie drehte den Kopf und erstarrte beim Anblick seiner Augen.

Ein weiterer Schrei der Panik brach sich Bahn und verlieh ihr neue Kraft. Mit einem heftigen Ruck riss sie sich los. Sie merkte, wie sich ein Haarbüschel von ihrer Kopfhaut löste, ahnte aber, dass dieser Schmerz nichts gegen das sein würde, was sie erwartete, wenn sie diesem Mann nicht entkam.

Irritiert starrte Dorn auf das dunkle Büschel in seiner Faust. Dann auf das Weibsstück, das die Flucht ergriff. Augenblicklich besann er sich. Die Garotte in der Linken, stützte er sich auf dem Fensterbrett ab und war mit einem Satz draußen. Kurz fiel sein Blick auf seine Füße, die nur in Socken steckten, doch als er wieder nach vorn sah, war das elende Weib bereits um die Ecke. Er nahm die Verfolgung auf, sprintete los, doch das Miststück war schnell, obwohl auch sie keine Schuhe trug. Als er ebenfalls ums Eck gebogen war, hatte sie schon fast die Terrasse überquert. Aus vollem Lauf schleuderte sie ihm einen Gartenstuhl entgegen, der sein Ziel jedoch verfehlte, da er einen Satz zur Seite machte. Dabei geriet er mit einem Fuß auf den Rasen, rutschte weg, fing sich aber wieder.

Schon verschwand sie hinter der nächsten Ecke. Wenn ihm dieses Mistweib entkam, war die Kacke am Dampfen. Zum Glück war die Gegend nur mäßig bewohnt und die meisten um diese Zeit vermutlich bei der Arbeit. Mit etwas Glück hatte also niemand die Schreie gehört. Doch er musste dieser Hure das Maul stopfen, und zwar sofort.

Richard Dorn bog ab und registrierte, dass die Platten seinen Socken guten Halt gaben, was ihm einen ungeahnten Energieschub verpasste. Sogleich bemerkte er, wie sich der Abstand verringerte. Nur noch ein paar Meter …

Gleich – hab – ich – dich!

Er machte sich zum Absprung bereit, doch da schlug die Frau einen Haken. Während er zu schwerfällig bremste, musste er mit ansehen, wie sie sich elegant unter einem Bäumchen hindurchduckte und in der Hecke verschwand, die das Grundstück zur Straße begrenzte.

Dorn lief vor zur Einfahrt, legte einen Zahn zu. Hoffte, dass das dumme Weibsstück links abbiegen und ihm somit in die Arme laufen würde. Als er den Gehsteig erreichte, stellte er fest, dass ihm das Glück wenigstens jetzt zugeneigt war.

Als die Frau ihn erblickte, blieb sie stehen, hob ihre zitternden Arme und sank auf die Knie, während sich ihr Mund zu einem neuerlichen Schrei öffnete.

Innerlich wetzte Dorn schon die Messer. Offenbar hatte die blöde Kuh die Aussichtslosigkeit ihrer Lage erkannt und ergab sich nun ihrem Schicksal. Unwillkürlich zupfte ein Lächeln an seinen Mundwinkeln, als er auf sie zuging und feierlich die Garotte spannte.

Doch irgendetwas stimmte nicht. Denn beim nächsten Hilfeschrei, der aus ihrer Kehle drang, ging ihr panischer Blick an ihm vorbei. Es schien, als fixierten ihre Augen einen Punkt hinter ihm.

»Helfen Sie mir!«, kreischte sie. »Er will mich umbringen!«

Dorn wandte den Kopf, sah ein älteres Paar auf dem Gehsteig, das wie versteinert dastand und in ihre Richtung glotzte. Unschlüssig, was er tun sollte, sah er ein, dass er verloren hatte. Diese Runde ging an sie. Und er musste nichts wie weg.