»Was willst du denn noch? Die Fahndung läuft doch schon auf Hochtouren.« Christian Röhm, Erster Polizeihauptkommissar und Spezialfreund von Fuchs, trug heute ein blaues Sakko mit Goldknöpfen, womit er Joachim eher an den Kapitän eines Kreuzfahrtschiffs erinnerte als an einen ernst zu nehmenden Polizisten. Röhm hob die Faust in die Luft, aus der nacheinander vier Finger hervorschnellten. »Wir haben das SIS gefüttert. Die Bundespolizei wurde informiert. Dorn steht auf den Fahndungslisten von Interpol, Europol und den Kriminalämtern, und mittlerweile sind auch die Medien eingebunden, womit wir, wie eingangs von dir gewünscht, von der Ziel- zur Öffentlichkeitsfahndung übergegangen wären. Mehr können wir im Moment nicht tun.«
Fuchs’ Hand, die ebenfalls zur Faust geballt war, schlug auf den Tisch, sodass sein Kaffee überschwappte. »Und trotzdem haben wir einen Scheiß!«
»Jetzt mal ganz ruhig, Herr Fuchs.« Hermann Kreiling machte eine beschwichtigende Geste. »Ich verstehe, dass Ihnen das nahegeht, sicher mehr als jedem sonst hier. Trotzdem müssen wir jetzt alle die Nerven bewahren.« Er legte die Arme parallel auf den Tisch, was Fuchs an die Sphinx denken ließ. Allerdings war der Blick seines Chefs alles andere als rätselhaft, sondern zeugte ebenfalls von massiver Anspannung. »Es gibt außerdem noch ein anderes Problem, das ich ansprechen muss.« Kreiling legte nun eine überaus düstere Miene auf. »Dieser Journalist vom Netzwerk , dieser Mahatma, hat einen Artikel über den Mord an Frau Wuest gebracht, bei dem ich mich frage, woher er die Informationen hat. Er veröffentlicht dort Details, die wir eigentlich vor der Presse geheim halten wollten, wie die Sache mit der durchtrennten Kehle und die Anzahl der Messer.«
»Von mir hat er das ganz sicher nicht«, empörte sich Fuchs, dem schon allein beim Gedanken an den Journalisten die Galle hochkam. »Und übrigens heißt er Mahasti.«
»Wie auch immer diese Arschkrampe heißt … Ich möchte, dass allen hier klar ist, dass wir keine Zeit für so einen Scheiß haben. Wer meint, sich als U-Boot sein Taschengeld aufbessern zu müssen, ist hier fehl am Platz. Ist das klar?« Er sah in die Runde. »Wenn ich so was noch mal erlebe, werde ich mit aller Vehemenz die internen Ermittlungen aufnehmen. Und dann gnade demjenigen Gott …«
Als klar war, dass Kreiling das Thema nicht weiter vertiefen würde, stand Fuchs auf und ging unter den immer noch bedröppelten Blicken einiger Kollegen zum Waschbecken, wo er Zellstofftücher aus dem Spender zog, mit denen er die Kaffeelache vom Tisch wischte. Automatisch kamen ihm dabei die Bilder des verkleckerten Kakaos in Rammelts Haus in den Sinn.
Nachdem er den nassen Papierklumpen im Mülleimer entsorgt und wieder Platz genommen hatte, sagte er in ruhigem Ton: »Um bei meiner Aussage von eben anzuknüpfen: Dorn ist einfach zu clever, um ins übliche Fahndungsnetz zu gehen. Deshalb glaube ich, dass unser ganzes Aufgebot für die Katz ist. Selbst die Hunde haben nur wenige Hundert Meter von der Stelle entfernt, wo er aus dem Krankenwagen gehüpft ist, die Fährte verloren. Wie auch immer er das geschafft hat.«
Röhm drehte die Handflächen zur Decke. »Auch dafür wird es eine einfache Erklärung geben. Schließlich kann er nicht zaubern.«
»Ach … was du nicht sagst.« Fuchs ließ den Kopf kreisen. Diese Nackenverspannungen machten ihn wahnsinnig. Röhm machte ihn wahnsinnig.
»Sie haben vorhin zwei Rechner erwähnt«, wandte sich Kreiling an Fuchs. »Hat sich darauf etwas Brauchbares befunden?«
»Zwei? Nein. Ein Rechner, ein Handy. Der andere Computer war der von Rammelt. Ob sich auf einem der Geräte etwas Brauchbares befindet, wissen wir aber noch nicht. Herr Bosch hat mir jedoch versprochen, dass er uns die Ergebnisse bis zwölf liefert.«
Kreiling sah auf die Uhr. »Das wäre ja bald. In Ordnung. Was gab es sonst noch im Hause Seiler?«
Fuchs fasste die wichtigsten Punkte aus dem Gespräch mit Gaubatz zusammen.
»Und kein Hinweis auf Dorns Aufenthaltsort?«, hakte Kreiling missmutig nach.
»Nein, nichts, was uns weiterhelfen könnte.«
Der Dezernatsleiter wies zum Smartboard hinüber, das seit Kurzem den Besprechungsraum zierte. »Herr Huber, rufen Sie doch mal die Liste mit den sichergestellten Gegenständen auf.«
Martin öffnete das Dokument mit einigen Mausklicks und begann vorzutragen. »Also, wir hätten da zunächst die Glock aus der JVA, die Dorn dem Vollzugsbeamten entwendet hat und mit der er ihn, den zweiten Beamten und später dann seinen Anwalt erschossen hat. Das Magazin war leer.«
»Ich dachte, er hätte nur drei Kugeln abgefeuert«, unterbrach ihn Olaf Kern. »Wo sind denn die restlichen?«
»Gibt es nicht«, antwortete Huber.
»Hä?« Kern kratzte sich am Kopf. »Da passen doch siebzehn Patronen rein. Bei dem ganz großen Magazin sogar dreiunddreißig.«
»Stimmt. Allerdings ist es in der JVA Frankfurt I üblich, die Magazine nur mit drei Patronen zu bestücken.«
»Wieso das denn?«
»Habe ich mich auch gefragt. Ist aber gar nicht so dumm.« Huber tippte sich an die Schläfe. »Drei Kugeln reichen nämlich aus, um sich in einer Notfallsituation verteidigen und in Sicherheit bringen zu können. Es sind aber zu wenige, als dass sich ein Häftling, der innerhalb der Anstalt in den Besitz einer solchen Waffe gelangt, den Weg bis nach draußen freischießen kann. Und falls das doch mal passieren sollte, kann er draußen keinen allzu großen Schaden mehr anrichten.«
»Okay, das ergibt Sinn. Nur geht die Rechnung natürlich nicht auf, wenn der Häftling, wie in unserem Fall, bloß durch zwei Wachleute und die Flügeltür eines Krankenwagens von der Freiheit getrennt ist.«
»Wohl wahr.« Huber nickte. »Wie uns der Gefängnisdirektor mitteilte, sollen die Bediensteten ihre Magazine bei Außeneinsätzen normalerweise auffüllen, was hier wegen der gebotenen Eile jedoch versäumt wurde. Es ist also wie bei allen größeren Katastrophen wieder mal eine Verkettung mehrerer ungünstiger Umstände.«
»Zum Glück war das Magazin nicht voll«, schaltete Fuchs sich ein. »Stellt euch mal vor, Dorn wäre jetzt noch im Besitz einer Glock mit vierzehn oder neunundzwanzig Patronen. Das wäre ein GAU.«
»Herr Huber, machen Sie mal weiter mit der Liste«, bat Kreiling, sichtlich ungeduldig.
»Ja sicher. Als Nächstes haben wir ein Mobiltelefon der Firma HTC, dessen Inhaber Seiler war. Wird, wie Joachim schon sagte, ebenfalls gerade ausgewertet. Genau wie der Laptop der Marke Lenovo. Im Mülleimer wurde eine leere Packung Haarfärbemittel gefunden, Farbe dunkelbraun, die Dorn, dem Kassenbeleg nach, am Vortag in einem Drogeriemarkt in Seckbach gekauft hat. Ebenso wie den elektrischen Kurzhaarschneider der Firma Garment und die grünen Kontaktlinsen, die noch in ihrem Töpfchen im Bad schwammen. Die hat er also bei seiner überstürzten Flucht zurückgelassen.«
»Seiler hatte grüne Augen«, stellte Fuchs fest. »Dorn denkt wirklich an alles. Andererseits musste er ja seine Irisablösung kaschieren, weil er daran sehr leicht zu erkennen ist. Er wird sich daher garantiert neue Linsen zulegen. Zudem sollten wir wachsam bei Personen sein, die eine Brille mit abgedunkelten oder verspiegelten Gläsern tragen, insbesondere wenn das Wetter mal keinen Anlass dafür bietet. Ich weiß nicht, ob Sonnenbrillen eine Art Markenzeichen von ihm sind oder ob er sie trägt, weil seine Augen wirklich so blendempfindlich sind. Jedenfalls sollten wir das Brillenthema bei der Fahndungsmeldung berücksichtigen.«
»In dieser Hinsicht ist es für uns gerade echt beschissen, dass wir so einen schönen Frühling haben«, stellte Kern mit Blick nach draußen fest. »Es rennen nämlich schon etliche Leute mit Sonnenbrille herum.«
»Leider ja.« Fuchs presste die Lippen aufeinander. »Zudem weiß man bei Dorn nie, wie er vorgeht. Er könnte ganz bewusst wie Heino herumlaufen, weil er annimmt, wir glauben, er würde genau das Gegenteil tun. Genauso könnte er umgekehrt denken. Vielleicht läuft er inzwischen auch im Kleidchen mit roter Langhaarperücke herum, was weiß ich. Sicher bin ich mir nur, dass er sich früher oder später neue Kontaktlinsen zulegen wird, diesmal wahrscheinlich in einer anderen Farbe, womöglich in Braun. Wo bekommt man die Dinger überhaupt her?«
Kern machte eine wegwerfende Handbewegung. »Überall. Also in jedem größeren Drogeriemarkt und bei jedem Optiker. Ich trage ja auch welche, wenn auch farblose mit Stärke. Die Dinger, wie Dorn sie benutzt, bekommst du schon für unter zehn Euro. Also keine großen Anschaffungskosten.«
»Geldnot dürfte im Moment ohnehin nicht sein Problem sein«, merkte Fuchs an. »Wir wissen zwar nicht, wie viel Bargeld Seiler im Haus hatte, aber wir nehmen an, dass Dorn zudem ein paar Sachen mitgenommen hat, die sich in klingende Münze verwandeln lassen, wie zum Beispiel Seilers Uhr.« Er tippte sich ans Handgelenk. »Ich kenne mich zwar nicht gut aus, habe aber mal wegen des recht auffälligen blauen Ziffernblatts recherchiert. Wenn ich mich nicht irre, könnte das eine Breitling Navitimer gewesen sein, die, je nach Modell, bei bis zu zwölftausend Euro liegt. Wenn er die versetzt, hat er erst mal genug für seine Flucht.«
»Ich glaube, ich habe mich für den falschen Job entschieden«, murmelte Kern. »Keine Ahnung, wie lange ich sparen müsste, um mir so eine Uhr leisten zu können.«
»Könnte diese Uhr ein Ansatz sein?«, fragte Kreiling.
Röhm schürzte die Lippen, nickte. »Wir sollten auf jeden Fall die Pfandleiher in der Region abklappern, wo ja bekanntlich gerne mal Diebesgut den Besitzer wechselt. Genauso, wie wir die Gebrauchtwagenmärkte im Auge behalten sollten. Ab kommendem Samstag geht auch der große auf dem Autokinogelände wieder los.«
»Bis dahin sind es aber noch ein paar Tage«, wandte Fuchs ein. »Dorn wird nicht so risikobereit sein, das Auto bis dahin zu behalten. Das ist ein ziemlich auffälliger Jeep. Entweder hat er ihn längst für ein paar Euro in einem Hinterhof verschachert, oder er hat ihn irgendwo am Arsch der Ella versteckt. Aber die Idee mit den Pfandleihern finde ich gut.«
»Da wir aber sonst nicht viel haben, würde ich auch dem Vorschlag mit dem Automarkt stattgeben«, warf Kreiling ein. »Wir müssen einfach nach jedem Strohhalm greifen.«
Röhm, auf dessen Lippen sich durch Kreilings Zuspruch ein Lächeln legte, erschien Joachim damit wie ein Kaiman beim Sonnenbaden. Als Kreiling im nächsten Moment jedoch einlenkte, dass Fuchs vermutlich recht habe und man für diese Verzweiflungstat nur pro forma zwei Leute abstellen solle, bekam das Reptilienlächeln Risse.
»Mich lassen die Kontaktlinsen sowie die Sonnenbrille nicht los«, sagte Kreiling. »Wenn Dorn sich wieder verkleiden will, muss er ja in ein entsprechendes Geschäft hineingehen, wo man diese Dinge bekommt.«
Fuchs brummte. »Da wir nicht genug Leute haben, um jeden Drogeriemarkt zu überwachen, könnten wir höchstens eine Fahndungsmeldung mit einem neuen Phantombild an diese Läden rausgeben, in der Hoffnung, dass sich jemand meldet, wenn er Dorn erkennt.«
Kreiling suchte sich einen Beamten heraus. »Das machen Sie. Der Phantombildzeichner soll das aktuellste Bild, das wir von ihm haben, als Vorlage nehmen und Details wie die neue Frisur mit der Lebensgefährtin des Anwalts ausarbeiten. Dieses Phantombild wird dann mit einer Personenbeschreibung an alle Läden geschickt, wo Dorn aufkreuzen könnte. Bahnhöfe, Flughäfen, Supermärkte, Drogerien, Tankstellen und so weiter.«
Der Beamte nickte und machte sich eine Notiz. »Was ist mit Friseursalons?«, fragte er. »Schließlich könnte er sich die Haare färben, schneiden oder ein Toupet anfertigen lassen.«
»Guter Punkt«, lobte ihn Kreiling.
»Tankstellen wird er aber sicher meiden«, warf Lara ein. »Zu viele Kameras und außerdem die ganzen Zeitungen mit seinem Gesicht auf den Titelseiten.«
»Trotzdem sind Tankstellen wichtig«, erklärte Kreiling. »Dorn könnte sich ein neues Fluchtfahrzeug zulegen, und dann müsste er über kurz oder lang auch mal tanken. Zudem sind Tankstellen immer gut frequentiert, sodass sein Gesicht von vielen Leuten gesehen wird.«
»Macht Sinn«, bestätigte Lara. »Und was ist mit diesen Ramschläden, die es inzwischen überall gibt? Da bekommt man ja auch allerhand Kram wie Mützen und Sonnenbrillen.«
Kreiling nickte. »Gut. Also bitte auch an die Ramschläden schicken.«
Wieder nickte der Beamte und notierte.
»Vielleicht teilen wir die Meldung auch auf Facebook?«, schlug Huber vor. »Gerade die jüngeren Leute gucken ja heutzutage kaum noch Nachrichten. Meine Töchter jedenfalls nicht.«
Bei dieser Aussage dachte Joachim an seine eigene Tochter, Lisa, die nicht nur die gängigen, sondern auch die sozialen Medien mied, da diese ihrer Meinung nach überwiegend Missstände breittraten, was ihr bloß die Stimmung vermieste. Psychohygiene nannte sie ihre Medienabstinenz. Lisa war überzeugt, dass manche Medien die Menschen sogar bewusst manipulierten, wodurch Regierungen oder einzelne Machthaber bestimmte Ziele verfolgten. Auch wenn sich das für Joachim ein wenig nach Verschwörungstheorie anhörte, wusste er aus eigener Erfahrung, dass die Medien tatsächlich nicht immer die Wahrheit berichteten. Entweder weil sie es nicht besser wussten – wie damals mit ihren Artikeln über die Ergreifung des Aderlass-Mörders –, oder weil sie wegen übergeordneter Instanzen nichts anderes schreiben durften. Er fragte sich, wie sein Sohn dazu stand, da die von Lisa propagierte Psychohygiene vor allem für ihn nach einem guten Konzept klang. Immerhin war Ben recht labil. Fuchs nahm sich vor, ihn direkt nach der Teambesprechung anzurufen, damit das jüngst wieder fein gesponnene Fädchen zwischen ihnen nicht aufs Neue zerriss. Außerdem fühlte er sich latent unwohl, was Dorn betraf, der da draußen frei herumstromerte. Es war zwar unwahrscheinlich, dass der den Bogen zu seiner getrennt lebenden Familie spannte, aber eben nicht ausgeschlossen. Er würde Ben also bitten, vorsichtig zu sein und auch ein Auge auf seine Mutter zu haben. Selbst anrufen würde er Claudine nämlich nicht, da ihr gestriges Telefonat eine unschöne Wendung genommen hatte, was Joachim ihr immer noch nachtrug. Anfänglich war sie noch bester Laune gewesen, da ihre bisherigen Untersuchungen ohne Auffälligkeiten verlaufen waren und der Arzt zur Sicherheit nur noch eine letzte durchführen wollte, bevor er ihr ein völlig gesundes Herz attestieren könne. Doch als Joachim ihr angeboten hatte, Personenschutz für sie anzufordern, war sie urplötzlich aus der Haut gefahren, sein Job solle sich nie wieder auf ihr Privatleben auswirken und dass diese Zeiten ein für alle Mal der Vergangenheit angehörten. Wenigstens wusste er Lisa in Sicherheit, die zurzeit ein Auslandssemester in Madrid einlegte.
Das Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken.
Sein bester Freund, Andreas Bosch, trat ein, unter dem Arm seinen mit Dutzenden Stickern beklebten Laptop sowie ein paar lose Blätter.
»Herr Bosch«, rief Kreiling jovial, »Sie werden schon sehnsüchtig erwartet.«
»Das macht mich ja ganz verlegen, Chef«, konterte Bosch in Berliner Mundart. »So viel Aufsehen um meine Person bin ich gar nicht gewöhnt.«
»Setzen Sie sich und erzählen Sie uns, was Sie gefunden haben.«
Bosch nahm Platz und deutete auf das Smartboard. »Darf ich?«
Kreiling nickte. »Natürlich.«
Bosch klappte den Rechner auf, rieb sich die Hände und ließ seine Finger über die Tastatur fliegen, woraufhin der Bildschirm seines Laptops mit unzähligen vorbeirauschenden Zeichen auf das Board übertragen wurde. »Fangen wir mal mit Doktor Rammelts Computer an. Darauf finden sich an die zweihundert Cookies von Seiten, die mit Dorn zu tun haben. Man könnte glauben, er sei regelrecht besessen von ihm gewesen. Hat gefühlt jeden noch so unbedeutenden Eintrag über ihn aufgerufen, selbst auf Seiten wie dieser, wo sich Flat-Earther und Chemtrail-Spinner tummeln, die behaupten, Dorn sei ein Außerirdischer.« Er klickte auf einen Link und rief die entsprechende Seite auf. Nach einigen Lachern im Kollegium fuhr er fort. »Ich konnte aber auch das Bild finden, das er einem seiner Briefe beigelegt hat.« Er drehte das oberste Blatt des Papierstapels um, den Fotoausdruck einer jungen Frau mit glattem braunem Haar.
»Respekt«, sagte Huber. »Ich würde mal behaupten, Rammelt hat Dorns Geschmack perfekt getroffen.«
»Nicht nur das.« Lara deutete auf das Bild. »Sie könnte glatt eine Doppelgängerin seiner ermordeten Tochter sein.«
»Stimmt.« Kern verzog das Gesicht. »Ganz schön makaber.«
Fuchs meldete sich zu Wort. »Wie wir ja inzwischen wissen, war Rammelt zu einigen Grenzüberschreitungen bereit, solange er Dorn dadurch zusetzen konnte.« Fuchs fasste Rammelts Erklärung für dessen Verhalten zusammen, wie er und Lara sie am Vorabend von ihm erhalten hatten.
Kern schüttelte den Kopf. »Das ist so was von schräg.«
»Aber irgendwie auch nachvollziehbar«, entgegnete Huber. »Ist jedenfalls die originellste Form von Selbstjustiz, die mir je untergekommen ist.«
Kern spitzte die Lippen. »Mhm. Schön durch die Hintertür, sodass Dorn gar nicht bemerkt hat, wie er manipuliert wird. Im Grunde genial, da hast du recht.«
Bei Fuchs hielt sich die Begeisterung in Grenzen. »Hat nur nicht geklappt wie erhofft. Bevor wir Rammelt also bejubeln, sollten wir nicht vergessen, dass er den ganzen Scheiß damit erst losgetreten hat. Ohne ihn würden wir nämlich nicht hier sitzen und uns die Köpfe zerbrechen, wie wir Dorn wieder einbuchten.«
»Das weißt du nicht, Joachim«, wandte Kern ein. »Bestimmt wäre er auch ohne Rammelt auf die Idee gekommen auszubrechen, meinst du nicht? Und mit Absicht gemacht hat Rammelt das wohl kaum.«
»Nein, natürlich nicht«, gab Fuchs knurrend zu. »Ist mir auch klar. Aber Camper, die im Sommer ein Lagerfeuer im Wald machen, wollen in der Regel auch nicht den Forst abfackeln. Trotzdem sollte man sich die möglichen Folgen seines Handelns vorher überlegen.«
»Aber das meine ich doch«, sagte Kern. »In Rammelts Fall war das unmöglich vorherzusehen. Viel zu abstrakt. Glaubst du denn, er hätte je im Leben mit dem brutalen Mord an seiner Lebensgefährtin gerechnet? Was wir haben, ist ein Paradebeispiel für den berühmten Flügelschlag eines Schmetterlings, der einen Orkan auslöst.«
»Ja, mag sein«, lenkte Fuchs widerwillig ein. Er wusste, dass Olaf recht hatte. Dennoch hatte sich ein Teil von ihm an dieser Schuldzuweisung festgesaugt wie ein Blutegel an seinem Wirt. Vielleicht auch, um sich nicht mit der eigenen Schuldfrage auseinandersetzen zu müssen, die ihm seit Dorns Flucht durch den Kopf spukte. »Egal, lassen wir das.« Er nickte Andreas zu. »Tut mir leid, wir haben dich unterbrochen.«
»Och, kein Ding«, Bosch winkte ab, »bin ich von zu Hause gewöhnt.« Er tippte auf das Bild. »Bei der Frau handelt es sich um eine dänische Lokalpolitikerin aus Aarhus.«
»Aarhus«, sagte Kern, »soll ja die zweitglücklichste Stadt der Welt sein.«
»Jetzt lass Andreas doch bitte mal ausreden, Olaf«, sagte Fuchs.
Kern duckte sich weg, hob die Hand. »Sorry.«
»Die Stadt liegt achthundertdreißig Kilometer von Frankfurt entfernt«, fuhr Andreas fort, »ist also gut mit dem Auto erreichbar. Zudem ohne Passkontrollen.«
»Dann sollten wir schnell mal eine Meldung an die dänischen Kollegen rausgeben«, sagte Röhm.
»Und die automatische Kennzeichenerfassung auf dieser Route prüfen«, ergänzte Fuchs. »Falls Dorn doch mit Seilers Wagen unterwegs ist und nicht weiß, dass es diese Möglichkeit gibt, könnten wir ihn mit etwas Glück tracken.«
»Und falls er es doch weiß, nimmt er einfach die Landstraße«, entgegnete Röhm, »womit er wieder unter dem Radar fliegen würde und wir erneut das Nachsehen hätten.«
»Ja, mag sein.« Fuchs seufzte. Er wurde von Minute zu Minute genervter. »Was hast du sonst noch auf dem PC gefunden, Andreas?«
»Nichts, was für uns von Interesse wäre.«
»Und auf Seilers Laptop oder dem Handy?«
»Da gab es zumindest ein paar Dinge, die uns dabei helfen können, die Ereignisse zu rekonstruieren. Der Browserverlauf zeigt zum Beispiel, dass Dorn die Homepage der Kanzlei besucht und den Menüpunkt Team aufgerufen hat. Kurz darauf dürfte er die Chatverläufe im Handy durchgegangen und auf jene von einer gewissen Karolina Bonin gestoßen sein, eine Arbeitskollegin Seilers, mit der er offenbar ein Verhältnis pflegte.«
»Wissen wir schon und haben wir bereits besprochen«, sagte Lara. »Bonin hat uns den relevanten Teil dieses Chats gezeigt.«
»Okay, wenn ich euch damit nicht überraschen kann, dann vielleicht hiermit: Dorn hat die Homepage der Klinik besucht, in der Rammelt arbeitet.«
»Haben wir uns auch schon gedacht«, sagte Lara.
»Ja, warte – ich bin noch nicht fertig. Wusstet ihr auch, dass er am nächsten Morgen Seilers Handy benutzt hat, um sich per Google Maps dorthin navigieren zu lassen?«
Jetzt war es still im Raum.
Fuchs war der Erste, der die Sprache wiederfand. »Er war dort?«
»Mhm.« Andreas nickte.
»Wann?«
Bosch suchte die gewünschte Information heraus. »Gegen neun Uhr dreißig am Morgen. Spannend ist, dass das Handy noch bis zum späten Nachmittag in dieser Funkzelle eingewählt war.«
Jetzt fiel Fuchs alles aus dem Gesicht. »Du verarschst mich?«
»Nein, wieso?«
»Weil Lara und ich zu exakt dieser Zeit dort waren. Sogar ein Observationsteam war vor Ort, das angeblich den ganzen Tag den Klinikeingang im Auge behalten hat. Wo soll Dorn sich denn aufgehalten haben?«
Andreas rief eine Karte mit einem rot eingefärbten Kreis auf, den er mit dem Cursor umfuhr. »Irgendwo da. Diese Funkzelle hat einen Durchmesser von circa zweihundert Metern. Die Klinik befindet sich hier oben am Rand.«
»Ich fasse es nicht.« Fuchs fuhr sich frustriert durchs Haar. »Wir müssen unbedingt herausfinden, ob es da irgendwelche Überwachungskameras gibt. Auf dem Klinikgelände, an den Straßenkreuzungen, egal, wo.«
»Ich kümmere mich darum«, bot Kern an.
»Damit haben wir doch ein paar neue Ansätze«, stellte Kreiling zufrieden fest. »Weitere Ideen?«
»Ja, vielleicht«, sagte Fuchs. »Wir alle kennen ja Dorns Affinität zu Computern. Ich bin mir sicher, dass er sich schon bald Zugang zum Internet verschaffen wird. Allein schon, weil das die einzige Quelle ist, wo er sich anonym Informationen über unseren Ermittlungsstand einholen kann.«
»Nicht nur das«, meldete sich Lara. »Bei seiner Persönlichkeitsstruktur könnte ich mir gut vorstellen, dass er die Fahndungsseiten der Kriminalämter aufruft, um nachzusehen, ob er dort auftaucht oder wie er in der Riege der gemeinsten Verbrecher gerankt ist.«
Bosch richtete sich auf. »Wenn du damit recht hast …«, er stieß seinen Zeigefinger in die Luft, »… gäbe es eine Möglichkeit, wie wir ihn aufstöbern könnten.«
»Schieß los«, forderte Fuchs ihn auf.
»Dafür muss ich aber kurz ausholen.«
Joachim unterdrückte ein Stöhnen, da er ahnte, wie weit dieses kurze Ausholen gehen würde.
»Also …«, Andreas verschränkte die Hände, »… ich habe neulich eine Doku über den Krüger-Nationalpark in Südafrika gesehen, wo die Tourguides die Touristen stets darauf hinweisen, keine Fotos der Nashörner sowie anderen Tiere in den sozialen Medien zu posten, weil Wilderer deren Metadaten auslesen können. Was die meisten nämlich nicht wissen, ist, dass so ein Foto neben dem eigentlichen Bild noch jede Menge Hintergrundinformationen liefert, wie Datum und Uhrzeit der Aufnahme, Blende, ISO-Wert und so weiter. Vor allem aber das Geotagging, also die exakten Koordinaten, wo das Bild gemacht wurde.«
An Kreilings auf die Tischplatte trommelnden Fingern bemerkte Fuchs, dass auch sein Chef, der bekannt für seine Ungeduld war, langsam nervös wurde. Dagegen gewann Joachim den Eindruck, dass Andreas, den man sonst eher in seiner abgedunkelten Computerhöhle antraf, es regelrecht genoss, im Rampenlicht zu stehen. Wie eine Pflanze, die sich wider die Natur für einen Schattenplatz entschieden hatte, aber nun, da sie das benötigte Licht empfing, aufblühte.
»Worauf ich eigentlich hinauswollte …«, kam Bosch, dem Kreilings Getrommel ebenfalls nicht entgangen war, endlich zum Punkt. »Wenn man keine der zuvor genannten Möglichkeiten hat – sprich kein Geotagging und auch keine Idee, wo oder wie man einen Köder auslegen könnte –, ist es das Beste zu wissen, wo sich die Wasserlöcher befinden.«
»Die Wasserlöcher«, wiederholte Kreiling mit süffisantem Unterton.
»Jepp. Denn irgendwann müssen die Tiere ja trinken. Und wenn Dorn sich aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur tatsächlich selbst googelt und dann auf entsprechenden Seiten aufhält, wie Lara vermutet, könnte ich daraus ein Muster ableiten. Er wird zwar nicht der Einzige sein, der das tut, aber so hätten wir bei jeder intensiveren Internetsuche nach seiner Person einen Anhaltspunkt. Erst recht, wenn jemand direkt nacheinander verschiedene Seiten mit Einträgen über ihn aufruft.«
»Meinst du, er ist so fahrlässig?«, fragte Fuchs.
»Wieso?«
»Du weißt doch, wie gut er sich mit Computern auskennt.«
»Na und ob ich das weiß. Ich weiß aber nicht, ob er all unsere Möglichkeiten kennt. Immerhin ist er kein professioneller Hacker, sondern bloß ein Autodidakt.«
»Aber ein verdammt guter«, wandte Joachim ein.
»Ja, mag sein. Aber wenn er sich über irgendeinen Rechner in einer Bibliothek oder einem Internetcafé einwählt, könnte er sich anonym genug fühlen, um mal ein bisschen im Netz zu stöbern. Wahrscheinlich würde selbst ich mich an seiner Stelle dazu verleiten lassen. Ich wüsste dann allerdings auch, dass ich selbst gerade nicht auf der anderen Seite sitze und lauere.« Er lachte.
Einen Moment lang sah ihn Kreiling mit regloser Miene an, dann bildete sich so etwas wie ein Lächeln in seinen Mundwinkeln. »Für mich klingt das nach einem Plan, Herr Bosch. Vielversprechend. Ich baue auf Sie. Dann haben wir jetzt erst mal genügend Ansätze, würde ich sagen.« Er sah in die Runde und begann an den Fingern einer Hand aufzuzählen: »Phantombilder an diverse Geschäfte. Pfandleiher und Autohändler abklappern. Kennzeichenauswertung. Verkehrsüberwachung. Eventuell sogar Kameras auf dem Klinikgelände. Und last, but not least: Herr Bosch mit einem Fernglas auf der Veranda seiner Lodge, der das Wasserloch im Auge behält. Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mir macht das gerade Mut.«