Als Richard Dorn von einem Geräusch erwachte, war es helllichter Tag. Er schätzte, dass es neun oder zehn war, konnte es jedoch nicht prüfen, da er die Uhr am Vortag versetzt hatte. Es wunderte ihn selbst, dass er hier, in diesem klammen, modrigen Schlafsack, so lange gepennt hatte. Aber offenbar hatte der Stress der vergangenen Tage seinen Tribut gefordert. Wenigstens fühlte er sich etwas besser als am Abend zuvor. Bis in die späte Nacht hinein hatte er wach gelegen und trotz des erbeuteten Schlafsacks gezittert wie Espenlaub. Aber er war noch da. Auch wenn das im Moment sein einziger Trost zu sein schien.
Wieder dieses Geräusch. Abrupt richtete er sich auf und sah zu der Quelle des metallischen Schepperns. Ein flachsblonder Junge um die acht Jahre war durch eine Lücke im Bauzaun geschlüpft. Direkt hinter ihm folgte eine Frau, bei der es sich der Haarfarbe sowie dem Alter nach wohl um die Mutter handelte. Wie der gequälte Gesichtsausdruck des Jungen und die im Schritt verkrallte Hand verrieten, musste er dringend aufs Klo. Vermutlich hatte ihn die Mutter deshalb auf dieses brachliegende Grundstück gelotst, welches am Abend zuvor von Dorn als Schlafplatz auserkoren worden war, da laut der bedruckten Banner am Zaun erst übernächsten Monat mit den Abrissarbeiten begonnen werden sollte.
Als sich auch die Frau zwischen den Zaunelementen hindurchgezwängt hatte und sie Dorn im Schlafsack erblickte, verharrte sie. Unentschlossen schien sie abzuwägen, ob sie eher ihrem Jungen zumuten konnte, nach einem anderen Klo zu suchen, oder dem Obdachlosen, dass ihr Balg ihm ins Wohnzimmer pisste. Jetzt hatte ihn auch der Junge entdeckt, der ihn neugierig betrachtete, als läge dort ein verwundetes Tier. Schließlich zerrte ihn die Mutter in Richtung Ausgang, als müsse sie ihren Sohn vor einer Gefahr beschützen. Wahrscheinlich fürchtete sie, ihre piekfeine Brut könnte sich ein Beispiel an dieser verkrachten Existenz auf dem Boden nehmen oder sich gar eine ansteckende Krankheit einfangen. War er in den Augen dieser Frau wirklich so verabscheuungswürdig, dass sie ihren Sohn lieber in die Hose machen ließ?
Wut und Scham erfassten Dorn. Nicht zuletzt, da ihn die Situation an ein Kindheitserlebnis erinnerte, als er bei einem Spaziergang hatte austreten müssen, obwohl weit und breit keine Toilette in Sicht gewesen war, was Mutter so wütend gemacht hatte, dass sie sich in einer fortwährenden Schimpftirade erging, während er verzweifelt am Reißverschluss seiner Hose herumnestelte, da ihm vor lauter Angst einzunässen, die Finger nicht mehr gehorchten. Seine Mutter hatte ihm doch ernsthaft vorgeworfen, das mit Absicht zu tun, weil er Kontrolle über sie ausüben wolle. So wie er es schon sein ganzes Leben lang täte; begonnen mit seiner Meningitis, die sie zu dieser überängstlichen Frau gemacht habe. Sie hatte ihm sogar mal an den Kopf geworfen, noch vor seiner Geburt, als Fötus im Mutterleib, die Weichen für ihr verkorkstes Leben gestellt zu haben, da sie sich ohne ihn längst von Vater getrennt hätte.
Schlagartig war Richards Kopf voll von Ideen, wie er diese Frau dort hinten umbringen könnte. Auch ihren kleinen Scheißer würde er nicht verschonen, der ihn während seines auferzwungenen Rückzugs angaffte wie das Prunkstück eines Kuriositätenkabinetts. Aber nein, das war nicht der Moment für solch unbedachte Handlungen.
Verpisst euch endlich! , schrie Dorn in Gedanken.
Als sie weg waren, streckte er sich. Sein Rücken schmerzte, als hätte man ihn im Schlaf mit Knüppeln traktiert. Bestimmt hatte er sich verlegen. Dieser Schlafsack war eine Katastrophe, hielt nur mäßig warm und stank zudem wie die Hölle.
In dieser Nacht hatte er von knackenden Schädeln geträumt, von Füßen, die in Matsch aus Blut und Hirnmasse stampften, und von Messern in Bäuchen, aus denen Blut hervorquoll. Auch jetzt, nachdem er eine weitere Nacht darüber geschlafen hatte, fühlte er sich bei den Erinnerungen an seine letzten Taten seltsam.
Er sah sich um, zog Bilanz. Es ließ sich nicht schönreden. Er war ganz unten angelangt. Im wahrsten Sinne des Wortes am Boden. Nein, in der Gosse. Und zum ersten Mal seit Langem hatte er keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Obwohl ihm Gerechtigkeit am Arsch vorbeiging und er die Existenz eines Gottes bestritt – es schien, als hätte er genau das hier verdient. Da war sogar der Knast besser gewesen. Stressfreier. Fließend Wasser, ein überdachter Raum nur für sich, und selbst die harte Matratze war gegen diesen Schlafsack ein Traum. Geregelte Mahlzeiten, auch wenn diese eher gastronomischen Höllenfahrten statt kulinarischen Traumreisen glichen. Trotzdem – besser als das hier.
Einen Moment lang erwog er tatsächlich, alles hinzuschmeißen, in die nächste Polizeiwache zu stiefeln, die Hände zu heben und zu sagen: »Hey, Leute, hier bin ich. Ich gebe auf.« Doch als er weiter darüber nachdachte, fiel ihm wieder ein, was Larissa früher gesungen hatte, wenn er traurig gewesen war. Immer wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her . Und sie hatte ihm versprochen, dass auf Regen stets Sonne folgte.
Bei näherer Betrachtung wurde ihm klar, dass sein schönes Kindermädchen recht gehabt hatte. Selbst nach dem Tiefpunkt in Görmin damals waren glorreiche Jahre gefolgt, wenn nicht die besten seines Lebens. Nur leider hatten die ein jähes Ende gefunden, als dieser gottverdammte Hurensohn Fuchs aufgetaucht war.
Dorns Atem ging schneller, seine Fäuste ballten sich.
Nein, so schnell bekamen die ihn nicht klein. Er würde nicht aufgeben. Nicht er. Niemals! Schließlich war er kein dahergelaufener Penner, selbst wenn er gerade so aussah. Er war Richard Dorn, der wahrscheinlich meistgesuchte Mann des Landes, wenn nicht sogar ganz Europas. Das sollte ihm erst mal einer nachmachen!
Er schälte sich aus dem Schlafsack wie eine Raupe aus dem Kokon, erhob sich und fand einen stabilen Stand. Als er sicher war, unbeobachtet zu sein, begann er, sich mit den Fäusten aufs Brustbein zu trommeln. Er hatte mal gelesen, dass dies die Thymusdrüse stimulierte, was Immunsystem sowie Psyche stärken sollte. Falls dem so war, konnte er nach dieser Nacht gar nicht genug davon haben. Er klopfte fester. Und tatsächlich – nach einer halben Minute entspannte er sich. Also machte er weiter, dachte nach, bis tatsächlich eine Idee in seinem Kopf aufpoppte. Und mit dieser kehrte seine Zuversicht zurück. Am liebsten hätte er das Trommeln mit Gebrüll untermalt, wie es Gorillas taten, doch nach wie vor lautete die wichtigste Regel: unsichtbar bleiben.
Nachdem er das Ritual beendet hatte, blieb er noch eine Weile mit in den Nacken gelegtem Kopf stehen und sah in den Himmel. Als er sich bückte, um den Schlafsack zusammenzurollen, spürte er etwas in seiner linken Gesäßtasche. Mit gerunzelten Brauen fingerte er den gefalteten Zettel hervor. Beim Anblick des lilafarbenen Papiers wurde seine Neugier von aufsteigender Wut übermannt. Am liebsten hätte er das Blatt in Fetzen gerissen, die Stücke zerkaut und runtergeschluckt. Doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund faltete er den Brief auseinander und las. Als er das Ende des Textes auf der Rückseite erreicht hatte, verrauchte sein Zorn so schnell, wie er gekommen war. Sein Blick richtete sich nun auf etwas, das er selbst dort notiert, in Anbetracht seiner nervenaufreibenden Flucht aber vergessen hatte. War dies das Zeichen, auf das er gewartet hatte? Ein Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln, doch er bremste den Eifer. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Doch er wusste, dass es nun aufwärtsgehen würde.
Nach Regen folgt Sonne.