Scheiße, Scheiße, Scheiße! Was war er nur für ein Idiot? Wieso hatte er sich ausgerechnet auf diese Frau einlassen müssen. Verdammte Hormone! Beschissene Midlife-Crisis! Hätte er doch nur seinen Schwanz unter Kontrolle gehabt … Dann wären seine Hände jetzt nicht voller Blut, und er würde nicht bis zum Hals in der Scheiße stecken. Selbst an der Hose war Blut, weil er sich im Reflex die Hände abgewischt hatte. Idiot!
Seine Atmung ging stoßweise. Hör auf zu hyperventilieren! Und konzentrier dich auf die Straße! Ein Unfall würde ihm gerade noch fehlen. Wenn er doch nur die Zeit zurückdrehen könnte … Aber würde er sich dann wirklich anders entscheiden? Natürlich! Nun, da er wusste, was passieren würde … Selbst wenn er wieder so blöd wäre, sich auf sie einzulassen – spätestens vorhin, als er auf die Uhr gesehen und das Knurren seines Magens vernommen hatte, würde er eine andere Abzweigung nehmen, statt wie ein Teenie dem hysterischen Drang nach sofortiger Klärung nachzugeben. Er würde auf seinen Hunger hören, wie er es jeden Mittag tat, nach Hause fahren, etwas essen und das andere Gefühl ignorieren. Genau wie er auf all die Gedanken pfeifen würde, die schuld an seiner überzogenen Reaktion und der ganzen Misere waren. Doch seitdem sie gestern aus der Praxis gegangen war, tickte er nicht mehr richtig. Er hatte jede Minute an sie gedacht. Wie ein Besessener! Und alles nur wegen ihrer verdammten Reserviertheit. Es hatte ihn einfach kirre gemacht, weil er sich diesen plötzlichen Wandel nicht erklären konnte. Selbst als er ihr den Rekorder umgehängt hatte und mit der Hand wie beiläufig an ihrer Brust entlanggestreift war – nicht die kleinste Reaktion. Nichts. Nicht mal ihr Nippel war hart geworden. Sie hatte während der ganzen Aktion so unbeteiligt gewirkt, als wären ihr die Elektroden von einer der Sprechstundenhilfen aufgeklebt worden und nicht von ihm, dem Doktor persönlich. Sonst hatte er ihr in seinem weißen Kittel nur zuzwinkern müssen, damit sie feucht wurde.
Wenn er doch nur die Zeit zurückdrehen könnte!
Dann würde er sich gut zureden und sich sagen, dass jeder mal einen schlechten Tag hatte. Dass auch sie nicht immer wie auf Knopfdruck geil werden konnte. Selbst für ihr zölibatäres, fast abweisendes Verhalten, als er zudringlicher geworden war, würde er eine Erklärung finden. Zum Beispiel dass man eben nicht immer den Mut aufbrachte, es miteinander zu treiben, wenn draußen am Empfang die Sprechstundenhilfen saßen und das Wartezimmer aus allen Nähten platzte. Er würde pünktlich zu Beginn seiner Pause nach Hause fahren, das Essen in der Mikrowelle erwärmen, das ihm Simone kalt gestellt hatte, und nach einer kleinen Siesta zurück in die Praxis fahren. Wie immer. Damit war er jahrelang gut gefahren. Und jetzt? War er falsch abgebogen. Und entgleist. Eine gottverdammte Scheiße war das!
Er hatte damit seine Ehe aufs Spiel gesetzt. Die Familie. Und was noch alles, falls die Sache aus dem Ruder lief?
Okay, du musst jetzt cool bleiben! Ruhe bewahren. Nachdenken. Keinesfalls noch mal so kopflos handeln wie eben, als du aus dem Haus gestürzt bist.
Fieberhaft überlegte er, ob es ein Fehler gewesen war, den Rekorder an ihrem Körper zu lassen. Doch nachdem er die Tür hinter sich zugezogen hatte, war es zu spät gewesen, es sich noch mal anders zu überlegen. Und Zurückfahren war keine Option. Siedend heiß fiel ihm die Türklinke ein.
O mein Gott, ich habe sie angefasst! Okay, bleib ruhig. Du hast einen Fehler gemacht. Vielleicht sogar mehrere. Alles klar. Kann passieren. Aber jetzt brauchst du einen Plan! Du musst schrittweise vorgehen. Denke zuallererst an das Essen. Nicht dass du das vor lauter Blutabwaschen vergisst. Die Waschmaschine! Wäre es nicht verdächtig, wenn die noch läuft oder gerade durchgelaufen ist, wenn Simone nach Hause kommt? Na klar! Mit welcher Begründung hättest ausgerechnet du das Gerät anstellen sollen? Definitiv würde das ihren Argwohn wecken, schließlich wäre es das erste Mal. Doch er musste das Blut aus den Sachen kriegen!
Er könnte die Mittagspause verlängern, um Zeit zu gewinnen. Was aber den Sprechstundenhilfen auffallen würde und zu unangenehmen Nachfragen führen könnte. Nein, alles musste laufen wie immer. Punkt Viertel vor drei musste er zurück in der Praxis sein, die Mädels mit seinem charmanten Lächeln begrüßen, sich den obligatorischen Kaffee ziehen und sich damit bis zum nächsten Termin im Büro verkrümeln. Wie immer.
An einer roten Ampel blieb er stehen, bemerkte das Zittern seiner Hände, die das Lenkrad umklammerten. Neben ihm hielt ein Wagen. Er sah nicht rüber, glaubte aber, einen Blick auf sich zu spüren. Unauffällig linste er auf seine Ärmel, dann hinunter auf die Hose. Vielleicht bekam er die Flecken auch im Waschbecken raus. Kalt musste das Wasser nur sein, damit das Eiweiß nicht denaturierte. Danach könnte er die Sachen zur Schmutzwäsche legen. Aber was würde Simone denken, wenn sie die Kleidung aus dem Wäschepuff zog und diese feucht war? Besser, er trocknete die Sachen zuvor mit dem Fön. Oder sollte er sie wieder anziehen? Das wäre wahrscheinlich am besten, schließlich könnte es Simone auffallen, wenn er abends mit anderen Klamotten heimkam, als er morgens beim Verlassen des Hauses getragen hatte. Für so was hatten Frauen ein Auge. Und was sollte er ihr dann erzählen? Natürlich – dass er gekleckert hatte. Damit hätte er zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, da er dadurch gleichzeitig ans Essen denken würde. Was gab es heute überhaupt? Nicht dass er auch nur einen Bissen hinunterbekäme, aber bei einem Reisgericht ohne Soße wäre seine Geschichte womöglich unglaubwürdig. Doch dann könnte er immer noch behaupten, sich Ketchup ins Essen gerührt zu haben. Das war die Lösung und würde auch eventuell verbleibende rote Flecken im Stoff erklären. Obendrein wäre es völlig plausibel, da er zum Ärger von Simone öfter Ketchup aufs Essen machte. Das Gericht selbst, was auch immer es sein mochte, würde er einfach im Klo runterspülen. Wichtig war nur, dass es so aussah, als hätte er es gegessen.
Und stell bloß das Mikrowellengefäß ins Waschbecken, nicht in den Geschirrspüler. Simone soll sich kurz über deine Faulheit ärgern. Wie immer.
Er merkte, dass er sich etwas beruhigte, da er allmählich die Kontrolle zurückerlangte. Eben noch hatte er sich gefühlt, als schwebe er über einem Abgrund, doch jetzt schien da wieder fester Boden zu sein. Jedenfalls halbwegs.
Der Verkehr setzte sich in Bewegung. Er fuhr in den Kreisel, durch den er schon vorhin gefahren war, nahm aber nun die Ausfahrt nach Hause. Die richtige. Was auch immer ihn vorhin geritten hatte, die andere zu wählen … Er wusste es natürlich. Es war die Angst gewesen. Angst, dass sie Schluss machte und ihr wildes Abenteuer beendete. Dass nicht er es war, der ihrer Beziehung einen Riegel vorschob. Urplötzlich hatte er vor sich gesehen, dass sie das Gerät nach Beendigung der Aufzeichnung nicht bei ihm, sondern vorn am Empfang abgab, nur um ihm aus dem Weg zu gehen. In seiner Vorstellung hatte sie sogar sämtliche Befunde per Mail angefordert. Wegen seiner wachsenden Panik hatte er fast seine Helferinnen instruiert, keine Befunde an diese Patientin herauszugeben, angeblich, da er wegen einer Auffälligkeit im EKG unbedingt persönlich mit ihr sprechen müsse. Zum Glück hatte er das unterlassen. Er hätte sich nur verdächtig gemacht.
Dennoch hatte er die falsche Abfahrt genommen, da biss die Maus keinen Faden ab. Wäre er lieber der Angst vor Enttäuschung gefolgt. Oder der Moral. Dann hätte er die Sache auslaufen lassen können wie ein angestoßenes Rad, das sich den Reibungskräften der Vernunft beugte.
Doch das Verlangen nach ihr war zu groß gewesen, geradezu übermächtig. Nie zuvor hatte er eine Frau auf diese Weise begehrt. Und deshalb hatte er auf die anderen Ängste gehört. Auf jene vor Herzschmerz und dem Zusammenbruch seines Egos. Und nicht zuletzt auf die Angst vor den Entzugserscheinungen, wenn der berauschende Hormoncocktail in seinem Hirn versiegte.
Automatisch dachte er wieder an das ganze Blut und registrierte, dass von der angeblichen Verliebtheit in diesem Moment nichts mehr übrig war. Offensichtlich hatte die Stunde der Stresshormone geschlagen, von denen er vollgepumpt war bis in die Haarspitzen.
Hätte er sich nicht auf diese Frau eingelassen … Doch es war zu spät.
Jetzt hieß es Ruhe bewahren, die Füße stillhalten. Abwarten. Früher oder später würden sie kommen, um ihn zu befragen. Dann musste er gewappnet sein. Und mit ganz viel Glück könnte er sein altes Leben behalten.