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Es dauerte einen Moment, bis sich Fuchs aus der Dunkelheit freigekämpft hatte und seine Umgebung wieder wahrnahm. Gemurmel und das Rascheln von Tyvek-Anzügen. Kameraklicken. Vorn an der Straße heulte ein Motor auf. Eine Autotür fiel ins Schloss.

Kurz darauf die warnende Stimme einer Frau: »Halt, Sie können da nicht rein!«

Fuchs meinte, dass es die nette Kollegin von der Schutzpolizei war, die ihm vorhin Trost gespendet hatte, als er wie benommen aufs Sofa gesunken war und das Gesicht in den Händen vergraben hatte.

Eine Männerstimme: »Ich wohne hier! Mein Sohn hat mich angerufen und gesagt, ich müsse sofort kommen.«

Diese Stimme erkannte Joachim eindeutig. Die Tatsache, dass Lothar Benjamin als Sohn bezeichnete, versetzte ihm einen weiteren Stich in seinen ohnehin malträtierten Magen.

»Würden Sie sich bitte ausweisen«, sagte die Beamtin.

»Ich wohne hier! Sagen Sie mir, was passiert ist.«

»Warten Sie bitte. Ich muss erst Ihre Personalien feststellen«, beharrte sie geduldig.

»Benjamin? Ich bin hier!«, rief Lothar Reus mit wachsender Verzweiflung in der Stimme.

Benommen erhob sich Joachim von seinem Platz. Er würde helfen, die Situation aufzulösen, schließlich konnte er ihn identifizieren. Lothar hatte wohl in Anbetracht der Schreckensnachricht seinen Ausweis vergessen oder war psychisch einfach nicht in der Lage, dieser banalen Aufforderung zu folgen.

»Lasst mich zu ihr!«, zeterte Lothar. »Claudine?«

Fuchs befürchtete, dass Lothar jeden Moment die Beherrschung verlieren würde. Er kannte ihn und wusste um dessen Schmerz, den er selbst gerade fühlte, wenn auch auf leisere Weise.

Wieder die Polizistin: »Warten Sie, habe ich gesagt! Sie dürfen da jetzt nicht rein.«

»Das ist mein Haus!«

Wieder ein Stich in Joachims Magen. Von wegen sein Haus  …

»Sie müssen draußen bleiben, sonst verunreinigen Sie den Tatort. Haben Sie das verstanden?«

Als Fuchs den Flur betrat, hatte Lothar sich bereits bis zum Eingang vorgekämpft; sein Körper füllte den Türrahmen aus.

Joachim nickte ihm zu, angespannt und emotionslos zugleich, wie einem alten Rivalen, mit dem schon ewig Waffenruhe bestand.

Lothars Miene sagte jedoch etwas anderes.

Während Joachim im ersten Moment noch gedacht hatte, sein Gegenüber begänne zu weinen, fühlte er sich nun an einen Bären erinnert, dem man fatalerweise nur einen Streifschuss verpasst hatte.

»Das ist deine Schuld!«, schleuderte ihm Lothar entgegen.

Überrascht sah Fuchs dabei zu, wie Lothars Gesicht zu einer Grimasse verkam, bevor er auf ihn zustürzte. Der ebenfalls überrumpelten Polizistin gelang es noch, den Rumpf dieses wild gewordenen Mannes zu umklammern, doch auch kräftemäßig hatte der einiges mit einem Bären gemein, sodass er die Frau hinter sich herzog wie ein Sprinter einen Gewichtsschlitten. Joachim rechnete damit, dass Lothar ihm an die Gurgel gehen oder ihm einen Haken verpassen würde, doch zu seiner Überraschung beugte dieser sich vor und stürmte mit gesenktem Haupt auf ihn zu wie ein Stier in der Arena. Joachim fiel gerade noch ein, dass Lothar mal bei Frankfurt Galaxy Football gespielt hatte, als ihm eine Schulter in den Bauch gerammt wurde, die ihm sämtliche Luft aus der Lunge presste. Ächzend landete er auf dem Boden, hob schützend die Arme vors Gesicht, doch Lothar war schneller. Schon schnürte der ihm die Blutzufuhr zum Gehirn ab, indem er ihm den Unterarm auf den Hals drückte.

»Hilf mir doch mal jemand!«, rief die Beamtin panisch, die, noch immer die Arme um Lothars Körper geschlungen, mit zu Boden gegangen war.

»Das ist deine Schuld!«, schrie Lothar wieder, die Gesichtsfarbe zwischen Rot und Purpur changierend.

Joachim wollte etwas sagen, das diesen durchgeknallten Mann zur Vernunft bringen könnte, brachte aber durch den Druck auf seiner Kehle keinen Mucks hervor. Daher startete er einen Versuch, sich aus dem Würgegriff zu befreien, was ihm wegen seiner ungünstigen Rückenlage sowie Lothars Kampfgewicht von locker einhundert Kilo nicht gelang. Allmählich verschwamm das Bild vor seinen Augen, während in seinen Ohren ein Pfeifton anschwoll. Blind tastete Joachim nach dem Gesicht seines Rivalen, drückte ihm einen Handballen gegen die Nase, was den Druck auf seinen Hals aber nur verstärkte.

Kurz bevor ihn die Schwärze verschluckte, hörte er jemanden brüllen: »Aufhören! Hört sofort auf!«

Abrupt ließ der Druck nach. Blut strömte zurück in den Kopf, woraufhin sich sein Sichtfeld wieder ausdehnte und allmählich das Pfeifen erlosch.

»Hört auf!« Die Stimme klang jetzt kraftlos, verzweifelt. Doch nun erkannte Joachim, wem sie gehörte.

Sein Sohn, der offenbar mit seiner Befragung durch war, stand über ihnen, den Kopf zwischen die Hände geklemmt, als drohte dieser zu platzen.

Endlich eilte auch Hilfe herbei. Ein kräftiger Polizist zerrte Lothar von Fuchs runter, bog ihm einen Arm auf den Rücken, bevor er ihn zu Boden warf und das Knie zwischen die Schulterblätter stemmte.

Benjamin schluchzte, woraufhin Joachim sich aufrappelte und ihn in die Arme nahm, während der Polizist Lothar zu beruhigen versuchte.

»Versprechen Sie mir, dass Sie ruhig bleiben, wenn ich Sie loslasse?« Als er keine Antwort erhielt, wiederholte er seine Frage, diesmal lauter.

Lothar, dessen Venen am Hals bedrohlich hervortraten, nickte.

»Gut, dann lasse ich Sie jetzt los. Wehe, Sie machen auch nur die geringsten Anstalten, sich nicht zu benehmen. Dann lasse ich Sie sofort verhaften, verstanden?«

»Ja … ist gut«, presste Lothar hervor, der offenbar keine Luft bekam.

Langsam und kontrolliert entließ ihn der Beamte aus seinem Griff.

Schwer atmend, erhob sich Lothar, und obwohl er Joachim dabei vernichtende Blicke zuwarf, hielt er Wort und sah von weiteren Angriffen ab.

Als sich der erste Schrecken gelegt hatte, musste Joachim seine Wut zügeln, denn am liebsten hätte nun er sich auf Lothar gestürzt. Wie kam dieses Arschloch dazu, ihm die Schuld an Claudines Tod zu geben? Wenn Benjamin das gehört hatte, war der Brunnen vielleicht schon vergiftet.

»Was ist denn das für ein Aufstand hier?«, ertönte nun eine weitere Stimme, die Joachim ebenfalls kannte.

Synchron drehten sich alle Köpfe zu Christian Röhm, der mit einer in die Stirn gewehten Haarsträhne in der Tür stand und durch seine regenbesprenkelte Brille in die Runde sah.

Die Beamtin schilderte ihm kurz die Lage, was Röhm dazu veranlasste, mit einem Daumen über seine Schulter zu weisen.

»In Ordnung. Alle, bis auf Sie beide, verschwinden jetzt hier.« Er deutete auf die beiden Streifenpolizisten. »Das ist ein Tatort und kein Irrenhaus.«

Benjamin war als Erster draußen und hockte sich dort auf die Stufen.

Röhm wandte sich Lothar zu. »Ich nehme an, Sie sind der Lebensgefährte der Ermordeten?«

Lothar nickte.

»Dann würde ich mich als Nächstes gerne mit Ihnen unterhalten. Gehen Sie bitte raus zu meinen Kollegen in den Kastenwagen. Ich komme gleich nach.«

Obwohl Erster Hauptkommissar Röhm eher an einen Buchhalter erinnerte und somit alles andere als einschüchternd wirkte, gehorchte Lothar der Anweisung.

Fuchs sah ihm nach. Beobachtete, wie er neben Benjamin stehen blieb und ihm väterlich die Schulter drückte. Sah, wie sein Sohn aufsprang und Lothar in eine Umarmung zog, die so fest und innig wirkte, dass es Joachim den nächsten Stich versetzte.

»Auch du, Joachim«, zerrte Röhm ihn ins Hier und Jetzt zurück, schaffte es aber nicht, den Blickkontakt zu halten. Stattdessen sah er zu Boden und senkte die Stimme. »Eigentlich solltest du jetzt befragt werden, aber das können wir auch später noch machen. Von mir aus im Präsidium.«

Fuchs nickte, wartete aber dennoch eine halbe Minute, nachdem Lothar aus seinem Dunstkreis verschwunden war, um ihm nicht am Ende vor der Tür zu begegnen. Denn inzwischen hatte sich dermaßen viel Wut in ihm aufgestaut, dass er nicht dafür garantieren konnte, dass es zu keiner Fortsetzung der Prügelei kommen würde. Dabei war ihm das Ganze ohnehin schon peinlich genug, selbst wenn er den Streit nicht vom Zaun gebrochen hatte.

»Ähm …« Röhm schien nach den richtigen Worten zu suchen und brachte ein knappes »Mein Beileid« hervor.

Fuchs nickte. »Danke.«

»Dann sehen wir uns später«, sagte Röhm und streifte seinen Blick. »Du sollst dich auch beim Chef melden.«

»Ja natürlich.« Joachim trat hinaus in den Regen, wo sein Sohn auf der untersten der drei Stufen saß und, die Arme um die Knie geschlungen, vor und zurück wippte.