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Als Richard Dorn durch das Wohngebiet schlich, fiel ihm wieder mal auf, dass sich die Menschen in Ballungsräumen wie Schlachtvieh zusammenpferchen ließen. Keine Spur von der Weitläufigkeit seiner Heimat oder der Abgeschiedenheit im Wald, wo das Haus des Försters gestanden hatte. Hier in diesem Viertel berührten sich die Fassaden der Häuser beinah, und die Vorgärten waren kaum größer als Badetücher. Trotzdem wirkte die Gegend wie ausgestorben. Dabei schien die Sonne, und es müsste längst Schulschluss sein. Dennoch sah er kein einziges Kind auf der Straße. Wenn er früher bei sonnigem Wetter aus dem Fenster gesehen hatte, waren meistens die Nachbarskinder draußen beim Spielen gewesen. Wahrscheinlich zockten die Kids heute Konsole statt Gummitwist. Zu seiner Zeit hatten nur die wenigsten einen Computer besessen. Sonst hätte er selbst vermutlich seine ganze Kindheit hindurch gezockt, da er zum Spielen ja nie rausgedurft hatte. Wegen seiner Meningitis, die ihn als Säugling fast umgebracht hatte, war Mutter zu sehr um seine Gesundheit besorgt gewesen. Später, als auch er einen PC sein Eigen nennen durfte – einen gebrauchten und aus heutiger Sicht lächerlich langsamen Pentium der ersten Generation –, bestand seinerseits aber ohnehin kein Interesse mehr, sich mit Gleichaltrigen abzugeben. Er wollte stattdessen verstehen, was dieses Wunderding konnte und welche Möglichkeiten sich einem damit in der digitalen Welt boten. Als sich später mit der Kommerzialisierung des Internets ein Quantensprung ereignete, war es völlig um ihn geschehen. Plötzlich konnte er von zu Hause aus in die Leben anderer Leute eindringen. Anfangs zwar sehr begrenzt, indem er Viren und Trojaner per Mail verschickt hatte, aber mit den wachsenden Möglichkeiten war es ihm eines Tages gelungen, eine Webcam anzuzapfen; auch wenn die äußerst unscharfe Bilder geliefert hatte. Dennoch war das Gefühl, sich in einer fremden Wohnung zu befinden, wenn auch nur virtuell, unbeschreiblich gewesen.

Eine Erfahrung, die er gleich wieder auf analoge Weise erleben durfte. Vorausgesetzt, sie war zu Hause und öffnete ihm die Tür. Aber ihren Briefen zufolge ging sie ja momentan keiner Arbeit nach, weswegen sie auch von ihrem erbärmlichen Macker abhängig war, der bei seinem Idiotenjob hoffentlich gerade Schicht schob. Richard musste sich eingestehen, dass er aufgeregt war, denn sein Herz schlug merklich schneller, als er das Haus endlich sah. Wegen des hässlichen Gelbs war es leicht zu erkennen. Auch bei seiner Streetview-Recherche hatte es sich dadurch klar von den Nachbargebäuden abgesetzt. Nicht dass er Wert auf solche Dinge gelegt hätte, aber diese Farbe war echt kriminell. Statt nach ihm sollten sie lieber nach dem fahnden, der dieser Fassade den Anstrich verpasst hatte. Oder war das am Ende sie selbst gewesen? Hoffentlich nicht! Immerhin würde ihr das eine so üble Geschmacksverirrung bescheinigen, dass man alles, was sie Schmeichelhaftes über ihn geschrieben hatte, infrage stellen müsste. Möglich war es aber, da sie ihm ja dieses Foto von sich mit der pissgelben Bude im Hintergrund geschickt hatte, als sei es ihr ganzer Stolz. Andererseits konnte ihm die Wandfarbe egal sein. Er hatte aktuell andere Probleme.

Zum Beispiel das Einstiegsthema. Schließlich durfte ihr Gespräch nicht gleich zu Beginn ins Stocken geraten. Zumal sie recht überrascht sein dürfte, wenn er plötzlich vor ihrer Tür stand. Da war eine gute Eröffnung von größter Bedeutung. Denn wie Mutter ihm immer eingebläut hatte, gab es für den ersten Eindruck keine zweite Chance. Den durfte er nicht vermasseln. Sollte er daher die Basecap absetzen? Gehörte sich eigentlich so. Andererseits wusste er nicht, wie sie ihn mit Glatze finden würde. Hatte nicht sie in einem ihrer Briefe geschrieben, wie sehr sie seine Frisur mochte, sein goldblondes Haar? Also doch lieber mit Kappe.

Der nächste Gedanke schloss sich an: Was würde er tun, wenn sie ganz anders auf sein Erscheinen reagierte als erhofft?

Dann, so beruhigte sich Richard Dorn, konnte er sie immer noch töten, was nicht das Schlechteste wäre. Bei diesem Einfall setzte das Kribbeln im Bauch wieder ein, das er so liebte. Einfach göttlich …

Egal wie er es zu verdrängen versuchte – der dunkle Teil in ihm blieb aktiv, wie eine Magmakammer aus Lust. Vermutlich waren die Erfahrungen, die er damals mit den jungen Dingern gemacht hatte, einfach zu intensiv gewesen, als dass der Vulkan je erlöschen würde. Dagegen hatten ihm die letzten Morde recht wenig gegeben. Genugtuung ja, aber sonst? Natürlich war es aufregend, jemandem Messer in den Körper zu stechen und zuzusehen, wie das Leben in den Augen erlosch. Aber er würde darauf verzichten – sofern ihm das Leben dafür etwas Besseres schenkte. Und das musste es geben, davon war er zunehmend überzeugt. Wieso sonst sollte sich der Großteil der Menschheit auf feste Beziehungen einlassen? Doch um zu wissen, ob ein solches Leben was für ihn war und sich wirklich besser anfühlte als das alte, musste er es probieren. Bevor er diesen Pfad aber einschlug, hatte eine Sache Priorität: Er brauchte eine Bleibe, denn eine dritte Nacht auf der Straße kam überhaupt nicht infrage.