Marek saß hinter dem Steuer seines Peugeots. Mit den Augen suchte er die Dunkelheit nach einem Zeichen seines Interviewpartners ab, konnte aber nichts entdecken. Eigentlich hatte er damit gerechnet, dass irgendwann Autoscheinwerfer auftauchen würden. Schließlich war dieser Treffpunkt so weit ab vom Schuss, dass Dorn kaum zu Fuß kommen würde. Nur, woher sollte er ein Auto haben? Geklaut, beantwortete sich Marek die Frage selbst. Allerdings war es heutzutage längst nicht so leicht, einen Wagen zu knacken und kurzzuschließen, wie es einem im Film suggeriert wurde, und die alten Modelle, bei denen das funktioniert haben mochte, gab es kaum noch. Oder hatte Dorn diesen Ort ausgesucht, weil er sich in fußläufiger Entfernung zum Flugplatz versteckt hielt? Auf einem der Resthöfe, die in der Umgebung lagen, oder im nahe gelegenen Industriegebiet vielleicht? Womöglich war er auch bereits hier und beobachtete ihn? Bei diesem Gedanken überlief Marek ein Schauer. Er überlegte, ob er schon mal aussteigen und in den Hangar gehen sollte, denn aus irgendeinem irrationalen Grund war es ihm wichtig, keinen blöden Eindruck zu hinterlassen. Weder indem er zu spät kam, noch indem er Angst signalisierte, weil er wie ein Feigling im Wagen hocken blieb. Doch er fühlte sich hier drin tatsächlich sicherer. Um ehrlich zu sein, hatte er die Hosen nämlich gestrichen voll. Diese Aktion hier war mit Abstand das Verrückteste, was er jemals getan hatte. Doch es war eben eine einmalige Chance, die er am Schopf packen musste, wenn er mit seinem Kanal durchstarten wollte. Und welch krassen Schub würde erst sein Selbstbewusstsein erfahren, wenn er sich diesen Ängsten gestellt hätte. Wie dieser YouTube-Coach sagte, führte der einzige Weg gegen Angst durch die Angst hindurch. Nur so hatte auch dieser Roofer seine Höhenangst überwunden. Indem er in Dubai auf Baukräne geklettert war.
Marek war sich bewusst, dass auch er sich nicht grundlos mit Geistern und Mördern befasste. Die dunkle Seite des Lebens hatte ihn seit jeher gegruselt und fasziniert zugleich. Irgendwas trieb ihn an, diesen Dingen auf den Grund zu gehen. Insofern war das Interview mit einem Serienkiller wahrscheinlich die beste Therapie. Die anderen Typen, die er angeschrieben hatte, waren, verglichen mit Dorn, richtige Schlaftabletten. Einer hatte bei einer Kneipenschlägerei im Affekt einen Typen totgeprügelt. Dem anderen war die Ermordung des Nachbarn angeblich durch eine innere Stimme befohlen worden. Dieser Kerl wäre ja noch ganz interessant gewesen, saß aber im geschlossenen Vollzug für Geisteskranke und starrte sabbernd gegen die Wand. Der Affektmörder hatte zwar geantwortet, zu einem Treffen war es aber nicht gekommen, weil er sich dann in die Sache mit Dorn verbissen hatte; seinem Sechser im Lotto.
Marek sah auf die Uhr. Ein paar Minuten blieben ihm noch. Zeit, um ein letztes Mal alles durchzugehen. Neben ihm auf dem Beifahrersitz lag die Taschenlampe. Ebenso das alte Diktiergerät, das ihm vor Jahren sein Vater geschenkt hatte, als er davon ausgegangen war, sein Sohn wolle seriösen Journalismus betreiben. Ohne das heutige Interview wäre das Teil wahrscheinlich weiter in der Schublade verrottet, bis er es eines Tages – zum Beispiel bei dem hoffentlich bald bevorstehenden Umzug – fortgeworfen hätte, weil man heutzutage eh alles mit dem Handy aufnehmen konnte. Doch er war davon ausgegangen, dass ihn Dorn, spätestens bei Sichtkontakt, dazu nötigen würde, das Telefon auszuschalten. Noch war es an, schließlich könnte Dorn ihn jeden Moment kontaktieren, um ihm neue Anweisungen zu erteilen oder einen anderen Treffpunkt zu nennen. Bisher hatte aber nur Manja angerufen. Gleich zweimal. Was sie wohl gewollt hatte?
Als Marek mit den Fingern sein Hosenbein entlangfuhr und die Kabelbinder in den Socken spürte, die er als Handschellenersatz eingesteckt hatte, begann sein Herz zu rasen. Die Angst verstärkte sich, als er mit einer unauffälligen Geste den Sitz des Elektroschockers prüfte, der hinten in seiner Hose steckte. Das Gerät hatte ihm schon die ganze Zeit gegen das Steißbein gedrückt, und zwischendurch war ihm der Gedanke gekommen, was wohl wäre, wenn das Teil plötzlich losging, weil er gegen den Auslöser kam. Doch er hatte sich nicht getraut, es neu zu positionieren, falls Dorn da draußen im Dunkel hockte und ihn beobachtete.
Während die Angst in seinen Eingeweiden wühlte, geisterte ihm wieder diese Frage durch den Kopf: Sollte er es doch bei dem Interview belassen? Natürlich hätte das nicht mal im Ansatz dieselbe Wirkung wie das Schnappen des Mörders und würde ihm daher nicht dasselbe Ansehen verschaffen, doch das Interview war auch nicht halb so gefährlich. Und was sollte er Manja erzählen, wenn er zwar mit der ersehnten Aufzeichnung nach Hause käme, dafür aber ein Frauenmörder weiterhin auf freiem Fuß wäre, obwohl er das hätte verhindern können. Erst recht, nachdem ihm Manja genau das aufgetragen hatte; wenn auch nicht im Alleingang, sondern indem er die Bullen verständigte. Zudem könnte er sich gleich eine neue Freundin suchen, wenn die Sache mit dem Fake-Anruf aufflog. Wobei das, für den Fall, dass er die ersehnte Berühmtheit erlangte, wiederum kein allzu großes Problem darstellen dürfte. Wahrscheinlich würden ihm seine Followerinnen die Tür einrennen, unter denen ein paar heiße Mädels waren, wie er wusste. Andererseits liebte er Manja und hatte gar keine Lust auf eine andere. Wieder fielen ihm ihre unbeantworteten Anrufe ein. Doch dafür hatte er eine Ausrede. Er würde ihr einfach erzählen, die Bullen hätten ihn angewiesen, die Leitung freizuhalten, damit sie ihn jederzeit erreichen könnten. Das würde sie schon schlucken. Ein anderer Gedanke drängte sich auf. Könnte es rechtliche Konsequenzen haben, wenn er sich mit dem entflohenen Mörder traf, ohne die Behörden zu informieren? Wieso kam ihm dieser Einfall erst jetzt? Was, wenn man ihn wegen Behinderung einer Ermittlung oder Strafvereitelung drankriegte? So gesehen blieb ihm gar nichts anderes übrig, als Dorn nach dem Interview zu überwältigen und der Polizei auszuliefern. Um jetzt noch Meldung zu machen, war es zu spät. Das hätte er sich vorher überlegen sollen. Oder gab es auch für Blogger eine Art Quellenschutz, auf den er sich berufen könnte, so wie bei richtigen Journalisten? Solange die einem Täter nicht aktiv halfen, war das ja erlaubt.
Fauchend stieß er die Luft aus der Lunge. Scheiß drauf, du ziehst das jetzt durch! Er schloss die Augen, machte zwei weitere gepresste Atemstöße und öffnete dann die Tür. Blieb noch einen Moment sitzen und lauschte in die feuchtkühle Nacht. Über dem Gelände lag eine gespenstische Ruhe. Friedhofsstille. Mit hämmerndem Herzen steckte er das Diktiergerät in die Tasche, bevor er sich die Taschenlampe vom Sitz schnappte und sie einschaltete. Dann stieg er aus. Hektisch ließ er den Lichtstrahl durch die Dunkelheit gleiten, was seine Furcht aber nur anfachte, da sich überall Schatten regten. Dürre Kreaturen, die sich als ärmliche Bäumchen entpuppten, die es trotz der widrigen Bedingungen geschafft hatten, sich durch die Ritzen im Beton zu graben. Er sah kauernde Schemen im Gestrüpp, Reflexionen von Augen, die er erst auf den zweiten Blick als Trugbilder erkannte. Vereinzelt türmten sich Haufen aus Betonbrocken, die von den Abrissarbeiten des Rollfelds stammten.
Langsam ging Marek weiter, überlegte, ob er auf sich aufmerksam machen und nach Dorn rufen sollte. Andererseits würde ihn der schon sehen, sofern er da war. Und falls nicht, würden seine Rufe erst recht nichts bringen. Außerdem wusste er nicht, wie er ihn ansprechen sollte. Herr Dorn? Zu förmlich. Richard ? Respektlos. Einfach nur: Hallo? Bescheuert.
Er leuchtete in ein riesiges Rohr auf dem Boden. Ein Aschehaufen sowie Rußspuren darin zeugten von Lagerfeuern, die dort gebrannt hatten. Solche abgelegenen Orte zogen eben nicht nur ihn, sondern auch andere junge Leute an, wie die herumliegenden Bierflaschen, zertretenen Getränkedosen sowie abgebrannten Kippenstummel bezeugten.
Nachdem Marek die Umgebung ein allerletztes Mal gescannt hatte, ging er auf den Hangar zu. Das halb aufgeschobene Tor entblößte ein tiefschwarzes Loch, das selbst den Taschenlampenstrahl verschluckte. Erst als er den Eingang der Halle erreichte, erkannte Marek weshalb: Die Oberlichtfenster der Hallenrückwand fehlten, sodass das Licht im Nachthimmel entschwand. Er ließ den zittrigen Lichtschein umherwandern. Sah mit Graffitis vollgesprühte Wände, herabgestürzte Bretter sowie einen einsamen Feuerlöscher auf dem Boden, der ihn mit dem Druckhebel und dem trichterförmigen Schneerohr an die marschierenden Klauenhämmer aus dem alten Pink-Floyd-Video erinnerte. Seltsamerweise hatte er dennoch auf einmal die Melodie eines Kinderliedes im Ohr.
Ein Männlein steht im Walde ganz still und stumm. Es hat vor lauter Purpur ein Mäntlein um. Sagt, wer mag das Männlein sein, das da steht im Wald allein …
»Hallo? Ist da jemand?« Jetzt hatte er es doch getan. Wie dämlich. Egal. »Hallo?«
Er blieb stehen, spitzte die Ohren.
Hatte er da ein Motorengeräusch gehört, oder bildete er sich das ein? Vielleicht war bloß der Lärm von der Autobahn vom Wind herübergetragen worden?
»Hallo? Herr Dorn?«
Auf einmal fröstelte es Marek am ganzen Körper. Dieser Ort war ja schon bei seinem ersten Besuch gruselig gewesen, obwohl er da am helllichten Tage und in Begleitung gekommen war, nicht in der kranken Absicht, ganz allein einen Killer zu treffen. Manja hatte recht. Er war völlig verrückt! Besser, er machte sich schnell wieder vom Acker. Scheiß auf das Interview! Scheiß auf Berühmtheit! Scheiß auf den bekackten Kanal! So schlimm war ihre Wohnung gar nicht, und ihr Leben erst recht nicht. Er hatte doch Manja, und sie hatte ihn. Was also sollte das hier?
Marek traf eine Entscheidung. Er würde jetzt zum Auto zurückgehen, losfahren und von unterwegs die Bullen anrufen. Vielleicht wären die etwas angefressen, weil er sich erst jetzt meldete, aber am Ende konnten sie ihm gar nichts, weil er letztlich doch das Richtige getan hätte. Und allem voran würde ihm so wenigstens Manja keinen Vorwurf machen können. Er spürte, dass sich der Entschluss richtig anfühlte. Nichts wie weg hier! Er könnte aus dieser Aktion immer noch eine spannende Story stricken und vielleicht bei Tageslicht zurückkehren, um ein paar Aufnahmen zu machen. Eventuell sogar bei Nacht – dann aber in Begleitung. Irgendwer musste ihn schließlich filmen. Und wer von seinen Mitbewerbern konnte schon von sich behaupten, von einem Serienmörder kontaktiert worden zu sein, um sich mit ihm auf einem stillgelegten Flugplatz zu treffen? Wenn er diese Story gut aufzog, würde sie sicher die gewünschte Wirkung erzeugen und für haufenweise neue Follower sorgen.
Strammen Schrittes verließ er den Hangar und steuerte auf seinen Wagen zu. Hielt inne, da er das Geräusch wieder hörte und ihm zugleich ein Gedanke durch den Kopf schoss: Was, wenn sich Dorn in der Zwischenzeit auf der Rückbank versteckt hat? Bevor er einstieg, musste er unbedingt nachsehen. Nur was würde er tun, wenn der Kerl wirklich dort saß? Wegrennen oder die Sache doch durchziehen?
Bevor Marek dazu kam, sich diese Frage zu beantworten oder das Innere des Wagens zu checken, trafen ihn die Lichtkegel zweier Scheinwerfer.
Das Auto steuerte direkt auf ihn zu.