Als Fuchs die junge Frau mit dem roten Lockenkopf erblickte, nahm er rasch die Pistole hinter den Rücken.
Das musste also Gesche Schrader sein, die Frau, die, aus welchen Gründen auch immer, einem Serienmörder Liebesbriefe geschrieben hatte. Sie sagte nichts, sah ihn nur stumm aus dem sommersprossigen Gesicht an, was Joachim merkwürdig fand. Also ergriff er das Wort.
»Guten Abend. Fuchs von der Kripo. Ich war zufällig in der Gegend, als ich einen Schrei hörte. Mir war, als wäre er hier aus dem Haus gekommen.« Er ließ seine Aussage stehen, wartete auf eine Reaktion, doch die Frau starrte ihn bloß an.
»Haben Sie eben geschrien?«, hakte er nach.
Schrader schien über seine Frage nachdenken zu müssen und schüttelte dann den Kopf. »War der Fernseher.«
»Mhm«, machte Fuchs und versuchte, an ihr vorbei durch den Türspalt zu spähen. Dem flackernden Licht nach lief die Flimmerkiste wirklich, doch der fehlende Ton strafte Gesche Lügen. Sie schien ihren Fehler zu bemerken, denn rasch fügte sie hinzu: »Ich habe ihn leise gestellt, als ich die Klingel gehört habe.«
Fuchs sah sie durchdringend an. Glaubte, Angst in ihren Zügen zu erkennen. Daher entschied er sich für eine Offensive. »Brauchen Sie Hilfe?«, fragte er so leise, dass sie es fast von seinen Lippen ablesen musste.
Ihre ausbleibende Reaktion war ihm Antwort genug.
»Wegen Ihrem Freund?«
Einen unerträglich langen Moment geschah wieder nichts. Dann schüttelte sie so sachte den Kopf, dass Joachim zweifelte, ob er sich das nicht nur eingebildet hatte. Trotzdem schoss sofort Adrenalin durch seine Adern.
»Ist ein Fremder in Ihrem Haus?«
Wieder keine Antwort. Nur weit aufgerissene graue Augen.
»Ist es Richard Dorn?«, fragte er zwischen zusammengebissenen Zähnen, und als er ihren Gesichtsausdruck sah, wusste er, dass es so war. Sein Herz setzte aus, sein Mund wurde trocken, doch er versuchte, Ruhe zu bewahren. Er deutete auf die Tür, um in Erfahrung zu bringen, ob sich Dorn dahinter verbarg, aber Schrader schüttelte langsam den Kopf. »Ist er … in einem anderen Raum?«
Ein Nicken.
»Bedroht er Ihren Partner?«
Jetzt glaubte Joachim zu sehen, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten. Da machte sie plötzlich Anstalten, die Tür zu schließen, doch Fuchs stellte rasch seinen Fuß in den Spalt. Wie von selbst glitt die Hand mit der Pistole hinter seinem Rücken hervor und entsicherte sie, während er der Frau mit seiner Linken bedeutete, aus dem Weg zu gehen, was sie überraschenderweise tat.
Mit dem Pistolenlauf schob er die Tür weiter auf, erwartete jeden Moment, dass Dorn in sein Blickfeld geriet. Falls er dort stand, wäre er sicher bewaffnet und hätte den Vorteil eines konkreten Ziels, das zudem Stück für Stück entblößt wurde, während Joachim, mit jedem Zentimeter, den sich die Tür öffnete, immer mehr potenzielle Verstecke ausloten musste. Genau wie bei der Übung neulich …
Das Erste, was er sah, war ein grellbuntes Spraybild, das einen Strand auf einem fernen Planeten zeigte. Daneben hingen drei Wandspiegel in Wellenform nebeneinander, über die er von seiner Position aus nur drei schmale Abschnitte der rechts neben ihm stehenden Schrankwand einsehen konnte. Mittig im Raum befand sich eine grasgrüne Wohnlandschaft, unter der für einen Menschen aber ebenso wenig Platz zum Verstecken war wie unter dem zerknautschten Bettzeug darauf. Weiter links kam eine Sitzgruppe in sein Blickfeld. Um in die Nische darunter spähen zu können, musste Fuchs in die Hocke gehen, da ihm die herabhängende Wachstischdecke die Sicht versperrte. Doch auch dort war Dorn nicht.
Während Joachim sich schrittweise vorwagte und dabei versuchte, die Hausbewohnerin im Auge zu behalten, nahm er die abgestandene Luft im Wohnzimmer wahr, in der etwas lag, das ihm augenblicklich den Atem raubte. Ein Gestank nach Ammoniak wie von Mäuseurin. Oder wie vom Extrakt des gefleckten Schierlings … Unwillkürlich schnürte sich sein Hals zu, und sein Blickfeld verschwamm.
Keine Panikattacke! Nicht jetzt!
Er begann zu keuchen. In der Hoffnung, dies könne den Nebel vor seinen Augen vertreiben, kniff er diese kurz zu. Als er sie wieder öffnete, sah er tatsächlich etwas schärfer und blickte in ein Augenpaar. Sofort hob er die Waffe, erkannte aber in letzter Sekunde, dass es nur das Spiegelbild des Fernsehers war, in dem eine Doku-Soap lief.
Er wirbelte herum, sah die komplette Wohnwand samt Nische vor sich, doch auch auf dieser Seite des Raums war niemand.
Flugs drehte er sich wieder um. Steuerte nun auf den schwach beleuchteten Durchgang zu, der zum hinteren Teil des Bungalows führte. Warf einen flüchtigen Blick über die Schulter, ob die Frau noch an Ort und Stelle war oder ob sie ihm vielleicht ein Zeichen gab, dass er sich auf dem richtigen Weg befand. Doch sie stand nur da wie eine Wachsfigur und beobachtete mit starrem Blick das Geschehen. Da kam ihm wieder die Prophezeiung des Weissagers in den Sinn: Dorn in einem Haus, in dem sich Schreckliches zugetragen hatte … Zudem eine weitere Person, die sich den Polizeikräften in den Weg stellen würde …
Fuchs überwand sich, den Blick von ihr abzuwenden, behielt aber dafür den akustischen Fokus nach hinten gerichtet. Als er weiterging, nahm er ein Brummen wahr, das aber von draußen zu kommen schien. In der nächsten Sekunde wurde seine Aufmerksamkeit von einem Klicken angezogen. Blitzartig schnellte die Pistolenmündung in Richtung des Geräuschs, wo er hinter der Couch einen Käfig erblickte, in dem eine Ratte an einer Trinkflasche nuckelte.
Stoßweise atmend, ging er weiter. Betrat den Durchgang, von dem zwei Räume abzweigten. Die linke Tür stand offen, jene geradeaus war angelehnt. Auf leisen Sohlen wagte Joachim sich vor, sah gekachelten Boden, der sich in sein Blickfeld schob. Eine Duschkabine. Einen Badvorleger. Einen Fuß. Sein Finger krümmte sich um den Abzug. Ein weiterer Fuß kam ins Sichtfeld. Reglos. Sofort durchzuckte ihn ein Erinnerungsblitz. Fliesenboden und rosafarbene Socken. Doch diese Füße hier waren groß und gehörten zu einem Mann, der in einem blutgetränkten Unterhemd, mit heruntergelassener Jeans auf dem Klo saß. Sein zur Seite hängender Kopf mit der klaffenden Wunde am Hals ließ erahnen, was hier passiert war. Das kleine Fenster über dem Spülkasten stand offen. Dem Fäkaliengeruch nach war der Mann entweder während seines Toilettengangs ermordet worden, oder sein Darm hatte sich post mortem entleert.
Fuchs spähte ums Eck, um sicherzugehen, dass sich niemand in der Dusche verbarg, und ging dann geradeaus weiter. Vorsichtig schob er die zweite Tür auf. Das Schlafzimmer. Durch das hinter ihm brennende Licht konnte er links im Halbdunkel einen Kleiderschrank sehen, rechts die Fußleiste eines Betts. Ein Wandtattoo, um das Schmetterlinge kreisten, riet ihm auf Latein, den Tag zu nutzen.
Fuchs machte einen Satz nach vorn und stand nun mitten im Raum. Starrte mit Entsetzen auf eine Gardine, die sich vor dem geöffneten Fenster im Wind blähte. Mit der Waffe im Anschlag warf er einen Blick unter das Bett, dann in den Kleiderschrank, bevor er zurück ins Bad lief, um bei dem Mann den Puls zu tasten. Doch der war genauso tot, wie er aussah. Also hechtete Joachim zurück ins Wohnzimmer, wo er die Hausbewohnerin an der Schulter packte und schüttelte.
»Wo ist er hin?«
»Ich weiß es nicht.«
Ihm fiel das Brummen wieder ein, das von einem angelassenen Motor gestammt haben könnte. »Haben Sie ein Auto?«
»Kein eigenes.«
»Und Ihr Freund?«
»Ja.«
»Wo ist der Schlüssel?«
»Hat er.«
»Wer? Dorn?«
Sie nickte.
»Scheiße! Wieso haben Sie das nicht gleich gesagt? Was ist das für ein Auto?«
»Ein Fiat.«
»Farbe?«
»Dunkelgrau.«
»Kennzeichen?«
»Ich … weiß nicht genau … F für Frankfurt und dann … ich glaube seine Initialen AG . Die Zahlen kenne ich nicht.«
»Wie sah Dorn aus? Was hatte er an?«
Sie sah sich hilfesuchend um.
Fuchs packte sie erneut an der Schulter. »Los, sagen Sie schon.«
»Er … hat keine Haare mehr, und er trägt eine dunkle Jacke.«
»Okay«, Fuchs hob einen Finger, »Sie rühren sich nicht von der Stelle, verstanden?«
Ein Nicken.
»Gleich werden Kollegen von mir eintreffen. Sie bleiben so lange hier.« Er deutete vor sich auf den Boden, wartete ihre Bestätigung ab und verließ im Laufschritt das Haus. Davor blieb er stehen, um zu lauschen, konnte aber kein Fahrzeuggeräusch ausmachen. Daher lief er zu seinem Wagen, wählte Kreilings Nummer. Als der nach dem ersten Klingeln abhob, schilderte Fuchs ihm die Lage und forderte das vollständige Kennzeichen des Wagens an. Dann bat er seinen Chef um die Errichtung von Straßensperren, was dieser so gehorsam bestätigte, dass man meinen konnte, sie hätten die Rollen getauscht. Doch spätestens Kreilings lautstarker Protest auf Joachims Aussage, er würde jetzt die Verfolgung aufnehmen, stellte die Hierarchie wieder klar. Fuchs hörte ihn noch etwas von Helikoptern sagen, bevor er auflegte. Kreiling würde schon wissen, was zu tun war. Genau wie er selbst.
Er startete den Motor und fuhr mit quietschenden Reifen los. Die Kollegen konnten seinen Standort ja über sein Handy orten. An der ersten Gabelung blieb er stehen, überlegte kurz und entschied sich für links, da die Straße dort vom Zentrum wegführte, und er nicht glaubte, dass Dorn sich ins Getümmel der Stadt wagen würde. Das Risiko, erwischt zu werden, wäre zu groß. Oder dachte dieser Mistkerl umgekehrt und mied die weniger frequentierten Landstraßen, wo ein einzelnes Fahrzeug schneller auffiel? Andererseits musste er da nicht mit Staus rechnen und könnte das Auto unbemerkt am Feldrand oder im Wald abstellen, um zu Fuß weiterzuflüchten.
Fuchs blieb bei seiner Entscheidung, trat das Gaspedal durch und donnerte kurz darauf über einen Speedbump, den er nicht hatte kommen sehen, was ihn so aus dem Sitz hob, dass er sich den Kopf am Wagendach stieß. Dennoch behielt er die Geschwindigkeit bei. Da blitzte es am Fahrbahnrand auf.
Er schielte auf den Tacho. Neunzig in der dreißiger Zone … Na, klasse … Dieses Knöllchen annullieren zu lassen, würde selbst für ihn schwierig werden. Doch das war im Moment egal. Um Dorn zu schnappen, würde er selbst für den Rest seines Lebens mit dem Zug fahren, sosehr er Bahnhöfe seit dem Einsatz 96 auch hasste.
Die Straße kündigte einen Rechtsknick an. Als er diesen passierte, erblickte er an der Mündung eines Feldwegs in einiger Entfernung Rücklichter eines Wagens. Er ging in die Eisen, bis sein BMW stotternd zum Stehen kam, legte den Rückwärtsgang ein und setzte zurück, bis er wieder durch die Häuserlücke spähen konnte. Doch da waren die Lichter schon weg. Er schaltete die Scheinwerfer aus, bog in den Weg ein, und während er im Schritttempo weiterfuhr, ließ er den Blick über die Felder schweifen, die dalagen wie verkohltes Ödland. Einen guten Kilometer dahinter zog sich wie ein rot-weißes Leuchtband der Verkehr auf der A5 durchs Bild. Fuchs glaubte, die Raststätte Taunusblick zu erkennen. Er fixierte den dunklen Bereich vor der Schnellstraße, und plötzlich sah er sie wieder. Nun ein Stück weiter rechts, unweit der Autobahn. Er musste sich beeilen, damit ihm der Mistkerl nicht entkam. Allerdings konnte er schlecht ohne Licht weiterfahren, da er sonst sicher im Graben landen würde. Daher schaltete er die Scheinwerfer wieder ein und gab Gas. Folgte dem Sträßchen, bog rechts ab, als es geradeaus nur auf einem ungeteerten Weg weiterging. Hoffte, als er bei der nächsten Gelegenheit wieder links abbog, dass auch diese Feldwege in einem Raster angelegt waren und er sich nicht in eine Sackgasse manövrierte. Da kam ihm eine Idee. Wenn er sich nicht irrte, lag in einer Flucht mit ihm und dem Ziel die Stadt Steinbach. Er gab Google Maps per Sprachsteuerung den Befehl, ihn dorthin zu navigieren. Automatisch öffnete sich die Karte, und die Strecke wurde als blaue Zickzacklinie angezeigt. So konnte er sicher sein, keinen Stichweg zu erwischen. Jetzt würde er sich das Schwein schnappen.
Steinchen prasselten wie ein Sperrfeuer gegen den Unterboden des Wagens, während sein Ziel unentwegt näher rückte. Bei den raschen Wechseln zwischen Abbremsen, Abbiegen und Gasgeben kam Fuchs sich vor wie ein Rallyefahrer, der um die Führung kämpft. Bei der nächsten Kreuzung geriet er ins Schlingern, da die Reifen die Bodenhaftung verloren. Das Heck schlitterte über den Grünstreifen, und als Fuchs das Gaspedal durchtrat, um die Spur zu halten, hörte er das Sirren der durchdrehenden Räder. Daher ging er vom Gas, um die Kontrolle zurückzuerlangen. Als er wieder aufsah, bekam er einen Schreck. Das Auto war verschwunden, als hätte die Nacht es verschluckt.
Fuchs beschleunigte, raste das letzte Stück bis zur Böschung, bog direkt davor ab und fuhr neben der Autobahn her, bis er links eine Unterführung entdeckte. Hier musste er langgefahren sein. Als auch er die Durchfahrt passiert hatte, kreuzte er einen weiteren Weg, der ebenfalls parallel zur Schnellstraße verlief. Vor ihm tat sich ein Wäldchen auf. Fuchs sah sich um, doch von den Lichtern des Wagens keine Spur.
»Scheiße!« Er rüttelte am Lenkrad. Wie sollte dieser Mistkerl es in der kurzen Zeit so weit geschafft haben? Oder hatte er nur das Abblendlicht ausgeschaltet, sodass er ihn bei der Finsternis nicht sehen konnte? Fuchs machte die Scheinwerfer aus, kniff die Augen zusammen und spähte erneut in beide Richtungen, wo sich der Weg im Dunkel verlor. Doch er sah nichts als Bäume, die sich wie Scherenschnitte vor dem nachtblauen Himmel abzeichneten. Er schaltete die Scheinwerfer wieder ein, die einen unbefestigten Pfad vor ihm beleuchteten, der nach etwa siebzig Metern in dem Wäldchen verschwand. Könnte er dort entlanggefahren sein? Für jeden, der nicht mit einem Traktor unterwegs war, wirkte der Untergrund wenig verlockend. Doch wo sollte er sonst hin sein? Joachim wog ab, wie hoch das Risiko wäre, stecken zu bleiben. Dann traf er die nächste Entscheidung.
Während er den Wagen durch den Matsch manövrierte, entdeckte er am Himmel die Blitzleuchten eines Hubschraubers. Er beobachtete, ob dieser nur vorbeiflog, doch er schien über der Gegend zu kreisen. Da Kreiling nach dem abrupten Ende des Telefonats nicht mehr angerufen hatte, schien ihm also doch mehr an einer pragmatischen Lösung der Situation gelegen gewesen zu sein als an einer Durchsetzung seiner Autorität. Und falls seine Annahme stimmte, könnten ihn die Kollegen aus der Luft dirigieren.
Der Gedanke war kaum zu Ende gedacht, da klingelte sein Handy. Rufnummer unbekannt. Er nahm ab.
»Ja?«
»Herr Fuchs?« Eine verrauscht klingende Männerstimme.
»Am Apparat.«
»Hier ist Matthes, Co-Pilot von der Fliegerstaffel Egelsbach. Können Sie mich verstehen?«
»Ich höre Sie gut.«
»Wunderbar. Fahren Sie gerade nordwestlich der A5 auf ein Waldstück zu?«
»Ja, das bin ich.«
»In Ordnung, dann passen Sie jetzt bitte auf. Wir befinden uns dreihundert Meter über Ihnen im Ibis.«
»Ich sehe Sie.«
»Gut. Sehen Sie auch den anderen PKW?«
»Nein. Wo?« Sofort beschleunigte sich sein Puls.
»Er steht circa einhundert Meter von Ihnen entfernt hinter einer Baumgruppe. Den Aufnahmen der Infrarotkamera nach ist der Motor noch warm, man kann aber nicht erkennen, ob sich der Fahrer noch darin befindet. Andererseits sehen wir keine menschlichen Bewegungen in der Nähe.«
Fuchs kam ein Gedanke. Im Rahmen seiner Recherche über den Blogger hatte er gesehen, dass Marek Mazur selbst gedrehte Videos von Lost-Place-Besichtigungen sowie einem Streifzug durch einen Abwasserkanal hochgeladen hatte. Vielleicht spielte er in Wahrheit eine wichtigere Rolle für Dorn, als sie bislang angenommen hatten.
»Können Sie erkennen, ob es dort einen Einstieg zu einer unterirdischen Fluchtmöglichkeit gibt?«, fragte er daher. »Einen Stollen oder Eingang zur Kanalisation vielleicht?«
»Warten Sie.« Man konnte hören, dass er sich mit seinem Nebenmann unterhielt.
Joachim wusste, dass der Ibis-Pilot eine Nachtsichtbrille trug, die ihm ein anderes Bild von der Umgebung vermittelte als die Infrarotkamera, deren Aufzeichnung der Co-Pilot über einen Bildschirm verfolgte.
»Nein, können wir nicht«, antwortete Matthes. »Möglich wäre es aber, immerhin befinden wir uns hier zwischen drei Frankfurter Stadtteilen sowie Oberursel und Steinbach im Taunus. Zudem liegt in der Nähe die Raststätte, die auch ans Abwassersystem angeschlossen ist. Aber in ein paar Minuten werden weitere Einsatzfahrzeuge eintreffen, um Sie am Boden zu unterstützen.«
Bei all der Hightechausstattung des Helis wusste Joachim um die eingeschränkten Möglichkeiten der Besatzung. Denn erstens konnten die das Teil nicht überall landen, und zweitens waren sie für Bodeneinsätze nicht ausgerüstet. Also waren die Kollegen in der Luft nicht mehr für ihn als ein Fast-Allsehendes-Auge, das ihm bei Bedarf noch mit einem Suchscheinwerfer den Weg leuchten konnte.
»Ich kann nicht riskieren, dass er wieder entkommt«, sagte Fuchs, stellte den Motor ab, klemmte sich das Handy zwischen Schulter und Ohr und entsicherte zum zweiten Mal an diesem Abend die Waffe.
»In Ordnung, ich lotse Sie«, gab Matthes zurück, der weder der Typ für Widerworte zu sein schien noch sich selbst in der Position dafür sah. »Geben Sie uns Bescheid, wenn wir den Spot anmachen sollen. Und schauen Sie dann lieber nicht nach oben, sonst sind Sie für eine Weile geblendet.«
»Verstanden«, gab Fuchs zurück und stieg aus.
Während er sich in der Dunkelheit bemühte, in den tiefen Traktorspuren weder umzuknicken noch in Pfützen zu treten, teilte ihm Matthes immer wieder die Entfernung zum Ziel mit.
Noch siebzig Meter … Noch sechzig … Fünfzig.
Kurz bevor Fuchs die Biegung erreichte, konnte er durch das Gestrüpp die Umrisse eines Wagens erahnen. Die Front wies in seine Richtung. Der Fahrer war also entweder rückwärts in den Weg eingebogen oder hatte – wieso auch immer – gewendet. Der Motor war abgestellt worden oder bei dem Helikopterlärm nicht zu hören.
Joachim ging in die Hocke, beobachtete die Szenerie noch einen Moment, bevor er Matthes die Order gab, den Scheinwerfer in genau dreißig Sekunden einzuschalten. Dann begann er in Gedanken zu zählen und steckte das Handy ein. Ab sofort würde er beide Hände brauchen. Er entschied sich, durchs Unterholz zu schleichen, auch wenn das eher Geräusche verursachen würde. Doch besser, als Dorn die Chance zu geben, ihn über den Haufen zu fahren.
Vierundzwanzig … dreiundzwanzig …
Wie erwartet, war er alles andere als geräuschlos. Laub raschelte unter seinen Schuhen, und hin und wieder knackte ein Zweig. Aber falls Dorn nicht gerade neben ihm stand, würde er ihn unter dem Flappen der Rotoren höchstwahrscheinlich nicht hören. Joachim schlug sich weiter durchs Dickicht, ließ das Ziel dabei aber nicht aus den Augen. Der Wagen stand nach wie vor da, stoisch und reglos wie ein Krokodil in einem Tümpel, das nur darauf wartet, dass die Beute sich nähert.
Sechzehn … fünfzehn … vierzehn …
Joachim schlich weiter, entschied sich spontan für einen Bogen, damit er sich von hinten an das Fahrzeug heranpirschen konnte, denn noch bestand die Chance, nicht entdeckt worden zu sein.
Zwölf … elf …
Er war nur noch wenige Meter von dem Wagen entfernt, konnte aber noch immer nicht sehen, ob jemand hinter dem Steuer saß. Es war einfach zu dunkel.
Neun … acht … sieben … sechs … fünf …
Fuchs sprang auf, steuerte in geduckter Haltung im Laufschritt auf den Wagen zu, die Mündung der Pistole auf die Seitenscheibe gerichtet.
Drei … zwei …
In diesem Moment wurde es hell. Taghell. Als stünde mit einem Schlag die Mittagssonne am Himmel, nur dass außenrum alles in Schwärze lag. Joachims Pupillen, von der Dunkelheit und dem Adrenalin geweitet, zogen sich schmerzhaft zusammen. Es dauerte einen Moment, bis sich seine Augen umgestellt hatten und er den Wagen klar vor sich sah. Genau wie die halb von der B-Säule verdeckte Person auf dem Fahrersitz. Dunkle Jacke, eine Hand vor dem Gesicht, um die Augen gegen das gleißende Licht abzuschirmen.
Die Mündung der Waffe auf die Brust der Person gerichtet, stand Joachim direkt vor der Scheibe und schrie gegen den Fluglärm des Hubschraubers an: »Keine Bewegung, Polizei! Ich will die Hände sehen.«
In dem Moment, als sich die Hand der Person senkte und den Blick auf das schmale, von halblangem Haar gerahmte Gesicht freigab, auf die schreckgeweiteten Augen, die ihn anstarrten, als sei er ein Alien, das im Transportstrahl eines UFOs auf die Erde geschickt worden war – in diesem Moment wusste Joachim, dass sie es wieder einmal verbockt hatten.