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Lara stellte die Rückenlehne des Fahrersitzes flacher und versuchte, eine bequeme Sitzposition zu finden. Selbst wenn sie nicht vorhatte, die Nacht hier zu verbringen – vor allem nicht mit Röhm an der Seite –, konnte es durchaus dauern, bis sie entscheiden würden, wieder zu fahren, weil nichts passierte oder die Observation doch eine überraschende Wendung erfuhr. Lara war sich bewusst, dass die Aktion nur ein Schuss ins Blaue war, doch das Gefühl, dass sich beim Sichten der Aufzeichnungen eingestellt hatte, war nicht mehr von ihr gewichen. Zudem lieferte die Tatsache, dass Schrader in den letzten fünfzehn Minuten bereits zweimal die Gardine beiseitegeschoben hatte, um in den Garten zu spähen, ihrem Argwohn weitere Nahrung.

Die Aufnahmen, die Lara in Aufruhr versetzt hatten, stammten von der Kamera, welche die Bundespolizei für den Einsatz auf die Sitzbank an Steig 8 ausgerichtet hatte. Sooft Lara die entscheidende Szene auch angehalten, zurückgespult und in Zeitlupe wieder abgespielt hatte – das Mienenspiel von Gesche Schrader hatte nicht gepasst. Wie ein einziger falscher Ton im Orchester, den man dennoch zwischen Hunderten anderen heraushörte. Anfangs hatte Gesche bloß schuldbeladen gewirkt, wie Lara schon bei ihrer Unterredung vermutet hatte, so als nage ein schlechtes Gewissen an ihr, weil sie ihren Brieffreund verpfiff. Bei der Sequenz, als Trabert auf sie zumarschiert kam, hatte sich dieser Eindruck noch verstärkt. Doch als Gesche erkannte, dass es sich bei dem Mann, der auf sie zukam, nicht um Dorn handelte, schien sie regelrecht aufzuatmen – was sich auch noch auf verschiedene Weise interpretieren ließ. Entscheidend für Laras Verdacht, dass mit Schrader etwas nicht stimmte und sie womöglich doch ein falsches Spiel spielte, war erst der Wandel in ihrem Gesichtsausdruck gewesen, als sie den Blick von Joachim einfing, nachdem dieser am Gleis angelangt war.

Auch Kreiling gegenüber hatte Lara dies nicht näher erörtern können. Trotzdem hatte er ihr, ungeachtet seiner unverhohlenen Skepsis, grünes Licht für die Überwachung erteilt. Wie er bereits in einer ihrer Besprechungen gesagt hatte, war er mit seinem Latein am Ende und griff daher vermutlich nach jedem Strohhalm. Größter Minuspunkt war der, dass er ihr wieder Barrakuda-Röhm an die Seite gestellt hatte, was genau genommen jedoch auch etwas Positives hatte. Denn neben ihm fiel es ihr leicht, die Klappe zu halten und ihren Gedanken nachzuhängen, da Christian unangenehme Stille ähnlich gut tolerierte wie sie. Zumindest, seitdem er kapiert zu haben schien, dass er niemals bei ihr landen würde, egal, wie sehr er sich auch bemühte, zuvorkommend oder witzig zu sein. Bei Joachim war das immer noch anders, wie sie sich eingestehen musste, selbst wenn sie es inzwischen geschafft hatte, ihn in den platonischen Teil ihres Herzens zu verbannen. Doch vermutlich bräuchte er bloß anzuklopfen, und es wäre wieder um sie geschehen. In dieser Hinsicht war sie wohl wie ein trockener Alki – eben nie ganz über den Berg.

Sie dachte daran, wie ihr bei Joachims Abschied im Büro die Röte ins Gesicht geschossen war, als er angedeutet hatte, über ihren heimlichen Einsatz Bescheid zu wissen. Automatisch fragte sie sich, ob sein Verhalten für eine gesunde Entwicklung seinerseits sprach, da er sich freiwillig rausnahm und anderen das Ruder überließ. Oder war es bloß Zeugnis seiner schwindenden Kräfte; ein Indiz, dass er kapitulierte?

Sie unterdrückte ein genervtes Seufzen, als ihr bewusst wurde, dass sich ihr Verstand mal wieder mit Dingen befasste, die sie im Moment weder beantworten noch lösen konnte. Wäre sie allein zu Hause gewesen, hätte sie sich jetzt einen Joint gedreht, um dem Gedankenkarussell einen Stock ins Getriebe zu werfen. Doch bei Röhm wäre das sicher ähnlich gut angekommen wie ein Stangentanz bei der Sonntagsmesse.

»Da ist sie wieder«, sagte Röhm in die Stille, während er sich das Fernglas gegen die Brillengläser drückte.

Lara kniff die Augen zusammen, erkannte aber lediglich, dass sich die Gardine bewegte. Von ihrem Standort aus konnten sie ohnehin nur einen Teil der Hausrückseite einsehen, da ihnen die Bepflanzung des Nachbargrundstücks die Sicht versperrte. Zudem war es dunkel, nur der Mond spendete Licht.

»Sie öffnet das Fenster«, raunte Röhm und rutschte automatisch tiefer in den Sitz.

Jetzt sah auch Lara, wie sich Schrader über die Fensterbank lehnte und den Blick von links nach rechts wandern ließ.

»Was hat sie vor?«, flüsterte sie.

»Woher soll ich das wissen? Sieht aus, als würde sie die Umgebung absuchen. Vielleicht hat sie Angst, dass Dorn wieder bei ihr aufschlägt?«

»Sie weiß aber doch, dass vorn eine Zivilstreife zu ihrem Schutz steht, oder?«

»Soweit ich weiß schon, aber …« Er stockte.

»Was?« Lara kniff die Augen zusammen, sah nun selbst, was Röhm die Sprache verschlagen hatte.

Gesche Schrader stieg aus dem Fenster, das sie notdürftig hinter sich schloss. Um ihren Hals baumelte eine Umhängetasche. Sie sah sich um, schlich durch den Garten und verschwand in einem Metallschuppen. Kurz darauf ging dessen Tür wieder auf.

Als sie das Mountainbike erblickten, das Schrader aus dem Verschlag schob, nahm Röhm das Fernglas runter und sah Lara mit großen Augen an. »Was jetzt?«

Zur Antwort griff Lara zum Handy und wählte Olafs Nummer, der direkt abhob.

»Lara, was gibt’s?«

»Hat sich Gesche Schrader bei euch gemeldet?«

»Nein. Wieso?«

»Weil sie gerade die Biege macht.«

»Wie?«

»Sie ist eben auf der Hausrückseite aus dem Fenster gestiegen und hat sich ein Fahrrad aus dem Schuppen geholt, mit dem sie anscheinend irgendwo hinfahren will.«

»Ach du Scheiße. Meinst du, sie hat uns doch nur was vorgemacht?«

»Weiß ich nicht. Vielleicht will sie auch nur Zigaretten holen und hat keine Lust, sich bei der Zivilstreife vor dem Haus zu rechtfertigen. Aber genauso könnte auch was anderes dahinterstecken.«

Olaf fluchte. »Hätten wir doch mal eine Wanze in ihrem Haus versteckt.«

»Schwierig, so ohne Erlaubnis«, gab Lara zurück. »Sie galt ja bisher offiziell nicht als Verdächtige.«

»Ja, ich weiß, aber …«

»Du, Olaf, sie hebt gerade das Rad über den Zaun. Wir müssen uns jetzt schleunigst was einfallen lassen.«

»Könnt ihr sie denn verfolgen?«

»Können schon. Die Frage ist nur, ob uns das gelingt, ohne dass sie uns bemerkt. Wird jedenfalls nicht so leicht, schätze ich. Erst recht nicht, wenn sie wenig frequentierte Wald- oder Feldwege nimmt.«

»Sollen wir Verstärkung schicken?«

»Ja, die Reiterstaffel bitte«, scherzte Lara, wurde aber sofort wieder ernst. »Nein. Ich schlage vor, wir folgen ihr erst mal, bis wir abschätzen können, was sie überhaupt vorhat. Vielleicht sind ihr ja wirklich nur die Kippen ausgegangen oder sie holt sich ein Bier an der Tanke. Damit sie uns nicht entdeckt, sollten wir erst mal den Ball flach halten. Wird schon auffällig genug, wenn ein einzelnes Auto in Radfahrgeschwindigkeit hinter ihr her dümpelt. Versucht ihr lieber mal rauszufinden, ob sich der Sachverhalt bezüglich eines Lauschangriffs nun zu unseren Gunsten gedreht hat. Vielleicht hat Dorn sie ja kontaktiert, wer weiß. Und wenn er ihr eine E-Mail oder Kurznachricht zukommen lassen hat, könnten wir mit etwas Glück nicht nur den Inhalt, sondern sogar den Absendeort in Erfahrung bringen.«

»Gut, ich kümmere mich darum. Wird aber etwas dauern.«

»Alles klar. Wenn es bei uns etwas Neues gibt, melden wir uns. Es geht los.« Lara legte das Handy in die Mittelkonsole, stellte die Rückenlehne aufrecht und wartete, bis Schrader sich aufs Rad geschwungen, einige Male in die Pedale getreten hatte und ums Eck gebogen war. Dann erst startete sie den Motor.