Joachim klingelte. Drinnen war das Vibrieren der Metallwendeltreppe zu hören. Dann öffnete ihm seine Tochter die Tür. Sie sahen sich einen Moment an und nahmen sich in den Arm. Während sie leise weinten, kam Fuchs der Gedanke, wie verrückt die menschlichen Emotionen doch waren. Wie sehr er Claudine einst geliebt, dann mit ähnlicher Inbrunst gehasst hatte, und wie seine Gefühle in den letzten zwei Jahren in einem Niemandsland zwischen beiden Polen umhergedümpelt waren. Trotzdem war er sich sicher, dass er selbst in den Hochphasen seiner Wut, auf dem Gipfel der verletzten Eitelkeit, also in jenen Momenten, in denen er ihr die Pest an den Hals gewünscht hatte, augenblicklich zusammengebrochen wäre, sobald er von ihrer Ermordung erfahren hätte. Der Tod änderte einfach alles. Dabei gehörte er genauso zum Leben dazu wie die Geburt. Er hatte nur die schlechtere Lobby.
Joachim löste sich aus der Umarmung, legte Lisa die Hände auf die geröteten Wangen und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Schön, dich zu sehen, mein Schatz. Wie geht’s dir?«
Sie rang sich ein Lächeln ab, verheult und doch unverzagt, wie erwartet. »Ging schon mal besser, aber ich komme klar. Und du?«
Er nickte. Sein Lächeln fühlte sich verspannt an, längst nicht so resolut, wie das seiner Tochter auf ihn wirkte. »Muss.« Er sah an ihr vorbei in die Wohnung. »Ist dein Bruder schon da?«
»Nein, kennst ihn doch. Pünktlichkeit gehört nicht gerade zu seinen Stärken.« Sie trat beiseite. »Komm rein. Kaffee? Oder willst du gleich was Richtiges? Ich habe einen guten Gin.«
Fuchs sah auf die Uhr, als wollte er die Entscheidung von der Zeit abhängig machen, schüttelte dann den Kopf. »Nur ein Wasser bitte.« Er war weder Konflikttrinker, dem es gelang, seinen Kummer im Alkohol zu ertränken, noch wollte er später hellwach im Bett liegen, denn Lisas Kaffee war nichts für schwache Nerven.
Sie verschwand in der Küche. »Mit oder ohne?«
»Mit«, rief er ihr hinterher und ging ins Wohnzimmer, wo er sich umsah.
Jedes Mal, wenn er in die Wohnung seiner Tochter kam, glaubte er, neue Facetten an ihr zu entdecken. Entweder weil sich etwas an ihrer Einrichtung geändert hatte, ein Buch über ein ungewöhnliches Thema herumlag oder neue Fotos ihm unbekannter Personen an der Wand hingen. All das bot ihm Einblicke in ihr Leben, die er sonst vermutlich nicht bekommen hätte. Er betrachtete die Schnappschüsse und fragte sich bei den jungen, gut aussehenden Typen, welche Rolle die wohl in Lisas Leben spielten. Hoffte insgeheim, dass er nicht vor einer Trophäenwand stand. Dann fiel sein Blick auf ein Bild von Claudine, das er ebenfalls noch nicht kannte. War es kürzlich dazugekommen oder hatte es schon bei seinem letzten Besuch dort gehangen? Er wusste es nicht, nahm aber an, dass es ihm sonst aufgefallen wäre, da Claudine darauf genau das Lächeln zeigte, in das er sich einst verliebt hatte. Ihm wurde schwer ums Herz. Wahrscheinlich hatte Lisa es nach ihrem Tod aufgehängt, denn es wirkte recht aktuell.
»Ein schönes Bild von ihr, nicht wahr?« Lisa war hinter ihm aufgetaucht und reichte ihm sein Getränk.
»Ja, sehr sogar.« Er lächelte traurig, hob das Glas und stieß mit seiner Tochter an, die sich, dem Geruch und der Gurkenscheibe nach zu urteilen, für einen Gin Tonic entschieden hatte, was Lara, soweit er wusste, ebenfalls gerne trank. »Auf deine Mutter.«
»Auf Mama.«
Sie nahmen einen Schluck.
»Du wirkst so gehetzt«, stellte Lisa fest.
»Mag sein, ja. Ich muss ja noch zum Haus, und davor möchte ich was mit euch besprechen. Deshalb wäre es toll, wenn auch dein Bruder dabei wäre.« Er sah auf die Uhr, stellte das Glas ab. »Ich rufe ihn mal an.« Fuchs zog sein Handy aus der Tasche und wählte, führte den Hörer ans Ohr. Zuckte irgendwann mit den Schultern. »Geht nicht ran. Aber er hat dir gesagt, dass er kommt?«
»Na ja, so verbindlich wie es die heutige Jugend kann.« Lisa las ihm das Ende des Chatverlaufs mit ihrem Bruder vor.
Fuchs legte auf. »Für mich klingt das schon nach einer Zusage.«
»Du kommst auch aus einer anderen Generation, Papa.«
»Ja schon. Vielleicht könnte ich aber auch die Kollegen vom Personenschutz anrufen, damit die ihm Beine machen.«
»Meinst du nicht, die hätten dich längst informiert, wenn was wäre?«
»Das sind irgendwelche Jungs von der Streife, die nicht mal permanent Blickkontakt zu ihm haben. Schließlich ist es keine Observation, sondern eine reine Schutzmaßnahme. Die behalten zum Beispiel das Gebäude im Blick, in dem er sich aufhält. Wenn Ben aber durch den Hinterausgang verschwindet, bekommen die das gar nicht mit.« Er hob das Telefon wieder hoch.
»Nee, Papa, lass mal. Ernsthaft. Du übertreibst. Du weißt, wie schnell er sich bevormundet fühlt, und am Ende tickt er nur aus. Wahrscheinlich zockt er mit einem Kumpel und hat die Zeit vergessen.« Sie sah ihn ernst an. »Tut ihm vielleicht gut runterzukommen. Nach der Beerdigung brauchte er auch Abstand und wollte niemanden sehen.«
»Ach so? Ich dachte, ihr zwei hättet gemeinsam was unternommen und bloß keinen Bock auf ein Trauergelage mit eurem Vater gehabt.«
»Quatsch! So war das doch nicht. Er hat es sich einfach anders überlegt und wollte dann doch zu Freunden. Also haben wir uns getrennt, und ich bin zu mir gefahren. Um ehrlich zu sein, hat auch mir die Ruhe gutgetan.«
Joachim nickte nachdenklich. Trotz Lisas Worten rumorte es in seinen Eingeweiden, da sich Erinnerungen vom letzten Sommer aufdrängten, als es einen schrecklichen Grund dafür gegeben hatte, dass sein Sohn nicht ans Telefon gegangen war. Auch wenn es für diesen Umstand jetzt sicher eine harmlose Erklärung gab, wie Lisa annahm. Dennoch machte Joachim die heftige Reaktion seines Körpers klar, dass es auch hier noch einiges aufzuarbeiten gab. Automatisch glitt seine Hand in die Tasche, wo er an den Knöpfen seines Stresswürfels herumdrückte.
»Komm, wir setzen uns noch mal kurz«, sagte er. Dann würde er Lisa eben allein einweihen, und sie könnte es ihrem Bruder erzählen, sobald der irgendwann kam. Sie besaß auch das nötige Feingefühl, ihrem sensiblen Bruder diese schwer verdaulichen Neuigkeiten möglichst schonend beizubringen. Hauptsache, sie erfuhren es heute Abend statt morgen vom Getratsche der Leute, die es aus den Nachrichten wüssten, falls der Maulwurf im Präsidium wieder vertrauliche Informationen ausplauderte.
Sie nahmen Platz. Lisa auf dem kleinen Sofa, Joachim auf dem Drehsessel gegenüber.
Lisa deutete auf den Tisch. »Da liegt übrigens mein Schlüssel vom Haus.«
Er steckte ihn ein, damit er ihn später nicht vergaß. Dann saßen sie eine Weile da und schwiegen, während Lisa mit dem Strohhalm kleine Löcher in die Gurkenscheibe stanzte.
Schließlich durchbrach sie die Stille. »Mama fehlt mir.«
»Ja, mir auch.« Joachim begriff diesen Umstand immer noch nicht, denn seit ihrer Scheidung hatte sich ihr Kontakt auf das Nötigste reduziert und war, bis auf die letzten Wochen, durchgehend angespannt gewesen. Diskussionen, Gezanke und gegenseitige Vorwürfe. Eigentlich nichts, was man vermisste. Und dennoch schmerzte ihr Verlust unheimlich.
»Sag mal …«, er sah Lisa an, zögerte, hoffte, dass sie wirklich so abgeklärt war, wie er annahm, »… wusstest du eigentlich, dass deine Mutter polyamor war?«
Lisa schien einen Moment zu brauchen, um die Bedeutung des Begriffs zu erfassen. »Du meinst, sie hat mehrere Männer geliebt?«
»Ja, so in der Art.«
»Was?« Sie verzog das Gesicht. »Quatsch.«
»Doch.«
»Wie kommst du darauf?«
»Lothar hat es mir erzählt.«
»Echt jetzt?«
Fuchs zuckte die Schultern, nickte. Ihm graute schon vor der zweiten Nachricht.
»Aber … wieso hat Mama mir das nie erzählt? Ich meine …« Lisa brach ab, schüttelte den Kopf.
»Lothar und Claudine waren sich wohl einig, euch so lange nichts zu sagen, bis Ben sein Abi hat, weil sie nicht wollten, dass ihn das Gerede der Leute verunsichert und ihn im schlimmsten Fall aus der Bahn wirft.«
»Aber mir hätte sie es doch sagen können.«
»Sie hatten Sorge, du würdest nicht dichthalten.«
»Ich?«
»Ja.«
»Aber ich kann doch wohl die Klappe halten.« Sie sah ihren Vater um Bestätigung heischend an, doch Joachim war mit dem nächsten Gedanken beschäftigt. Lisa winkte ab. »Egal. Trotzdem muss ich das erst mal verdauen. Nicht dass ich das schlimm fände, aber … ich weiß nicht … Mama?«
Er überlegte, seine Tochter auf den Treuebruch ihrer Mutter hinzuweisen, der das Ende ihrer Ehe bedeutet hatte, ließ es aber bleiben. Schließlich hatte auch er seinen Anteil an deren Scheitern gehabt. Selbst wenn dieser eher aus Kleingeistigkeit sowie falschem Stolz bestanden haben mochte. Er setzte an, um die zweite Neuigkeit loszuwerden, doch Lisa kam ihm zuvor.
»Und Lothar hat da mitgemacht?«
Joachim nickte. »Anfänglich hatte er auch seine Schwierigkeiten damit, konnte diesem neuen Beziehungsmodell aber mit der Zeit immer mehr abgewinnen. Hat aber ein paar Monate gedauert, wie er mir sagte.« Er räusperte sich. »Da ist aber noch was, das ich dir erzählen muss.«
»Noch mehr?«
»Ja. Keine Ahnung, wie du das aufnehmen wirst, aber bei mir war es eine Mischung aus Schock und Erleichterung.«
»Nun sag schon.«
»Wie es aussieht …« Er blickte zu Boden, probte den Satz im Kopf und konnte es immer noch nicht glauben. »Wie es aussieht, war nicht Dorn der Mörder deiner Mutter.«
»Was?« Lisa riss die Augen auf. »Wer denn sonst?«
»Einer ihrer … Kerle.«
»Was denn für ein Kerl?«
»Man hat ihn heute verhaftet.«
»Aber … wen denn?«
»Ihren Arzt.«
Lisa wurde blass. »Welcher Arzt?«
»Der, bei dem sie wegen ihres Herzstolperns war.«
»Was denn für ein Herzstolpern?«
»Ach, sie hatte da irgendwelche Beschwerden, die aber wohl harmlos waren«, erklärte Joachim und registrierte, dass Claudine dieses Wissen also auch nicht mit Lisa geteilt hatte. Womöglich aus Angst, sie würde sich Sorgen machen oder es weitertratschen. »Jedenfalls wollte ich es dir lieber selbst erzählen, bevor du es morgen von irgendwem sonst hörst. Und deinem Bruder eigentlich auch.« Er sah auf sein Handy, wo aber kein verpasster Anruf eingegangen war.
»Aber wieso soll ihr Arzt sie denn getötet haben?«
»Da sind die Kollegen dran. Sie gehen von einem Eifersuchtsmotiv aus.«
»Eifersucht?«
»Ja.« Fuchs zuckte die Schultern. »Vielleicht wollte er sie für sich allein haben. Eifersucht ist einer der häufigsten Gründe für Beziehungstaten.«
Lisa fuhr sich mit der Hand durchs Haar, verkrallte die Finger darin. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Du musst gar nichts sagen, mein Schatz. Gar nichts.« Er erhob sich vom Sessel und setzte sich neben seine Tochter aufs Sofa, nahm sie in den Arm. Diesmal weinten sie nicht. Offenbar waren ihre Tränen aufgebraucht. Dennoch glaubte Joachim, allmählich an die Grenze von Lisas psychischer Belastbarkeit gestoßen zu sein.
Nachdem sie sich wieder voneinander gelöst hatten, sagte sie: »Jetzt wird mir auch so einiges klar.«
»Was meinst du?«
»Dass ich letztes Jahr das Gefühl hatte, dass es bei Mama und Lothar kriselt und da irgendwas im Busch ist.«
»Stimmt, hast du mir erzählt, als ich im Krankenhaus lag.«
Sie sah ihn an, überlegte, konnte sich aber offenbar nicht an diesen Teil ihres Gesprächs erinnern. »Ich dachte damals nur, dass es bei den beiden schlecht lief und Mama eifersüchtig auf dein Glück mit Sophia war«, fuhr sie fort. »Aber dann habe ich das wohl falsch interpretiert und die beiden haben sich in der Zeit nur … neu arrangiert.«
»Ja.« Fuchs nickte, sah auf die Uhr. Er sollte bald los. »Musst du eigentlich noch mal ins Haus?«
»Nein, ganz bestimmt nicht.« Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Ich bin froh, wenn die Bude so schnell wie möglich wegkommt.«
»Ich auch …«, sagte Joachim, »… ich auch.« Ein letztes Mal sah er auf sein Handy. Das üble Bauchgefühl war inzwischen angewachsen wie ein Rudel Ratten, das sich um einen Kadaver scharte. Wenn die ganze Chose vorbei war, würde er was mit Lisa und Ben unternehmen. Vielleicht sogar für sich und seinen Sohn eine Art Vater-Kind-Kur beantragen, falls das mit einem Volljährigen überhaupt ging. Doch wahrscheinlich würde Benjamin ihm einen Vogel zeigen, wenn er ihm eröffnete, dass er drei Wochen mit seinem Vater in einer Kurstätte auf Borkum verbringen sollte, wo allein schon der Name der Insel pures Abenteuer versprach. Nein, das konnte er sich abschminken. Sein Sohn war aus diesem Alter heraus. Sie könnten natürlich auch etwas anderes machen. Eine Ayurveda-Kur auf Sri Lanka oder Wildcampen in Kanada. Er könnte Lisa fragen, ob sie mitwollte. Doch wahrscheinlich fuhren die beiden lieber mit ihren Freunden weg, was auch okay war. Gott, dachte Fuchs, wie sehr die beiden ihm entwachsen waren. Und wie sehr er selbst eine Auszeit brauchte.