Olaf Kerns Herz hämmerte gegen die Rippen, als er seinen Wagen einhundert Meter von der Adresse entfernt parkte, die Bosch ihm auf seine Anfrage durchgegeben hatte. Der von Huber über WhatsApp geschickte Livestandort zeigte, dass sich Martin bereits auf dem Grundstück befand. Die kleine Blase mit seinem Foto bewegte sich in unmittelbarer Nähe um das u-förmige Haus. Von seinem Standpunkt aus konnte Kern nur das Attikageschoss erkennen, das der Bauhausvilla aufsaß wie ein kleines Penthouse. Der Rest des Gebäudes verbarg sich hinter einer Wand aus akkurat geschnittenen Thujen. Generell schien den Bewohnern dieser Gegend an ihrer Privatsphäre gelegen zu sein, wie die blickdichten Zäune sowie meterhohen Mauern verrieten. Vor seinem Aufbruch hatte Olaf noch schnell ein paar Informationen über die Bewohnerin der Villa gesammelt und bei Google Earth das am Waldrand gelegene Grundstück studiert. Allein die Doppelgarage sowie der Gartenpavillon hätten in manchen Teilen der Welt als Villa durchgehen können. Doch in dieser Straße gehörte das Anwesen höchstens zum Mittelfeld.
Als Bosch ihm mitgeteilt hatte, dass Schrader tatsächlich per SMS kontaktiert worden war und das Handy, von dem diese Nachricht verschickt worden war, einer gewissen Dr. Sybille Heydeck gehörte, die bis vor einem Jahr im Uniklinikum gearbeitet hatte, waren bei Kern sämtliche Alarmglocken losgeschrillt. Sofort hatte er auf der ehemaligen Station angerufen und von einer Schwester erfahren, dass Heydeck tatsächlich die behandelnde Ärztin jenes Serienmörders gewesen war, von dem sie gerade erst wieder in den Nachrichten gehört hatte. Mehr war aus der Dame am Telefon nicht herauszubekommen gewesen, aber mehr hatte Kern auch nicht gebraucht. Für ihn war die Sache damit klar gewesen, und der Fakt, dass die Nachricht von Heydecks Handy über einen Sendemast in dieser Gegend verschickt worden war, ließ, was die Ärztin betraf, nichts Gutes erahnen.
Laut Homepage besaß die in Olafs Augen recht attraktive Ärztin eine Privatpraxis für Refraktäre Chirurgie, wo Patienten mittels Laser von Brillen oder Kontaktlinsen befreit wurden. Er hatte daraufhin die dort angegebene Notfallnummer gewählt, in der Hoffnung, Heydeck persönlich zu erreichen, stattdessen aber eine Mitarbeiterin an der Strippe gehabt, von der ihm mitgeteilt worden war, dass sich Heydeck vor einigen Tagen per WhatsApp krankgemeldet habe, da sie sich von einer Grippe erhole. Wegen dieser unübersehbaren Parallele zu Seiler sowie der Tatsache, dass es sich bei Heydeck um eine attraktive, braunhaarige und alleinstehende Frau handelte, die zudem noch Dorns Ärztin gewesen war, hatte Olaf sofort gewusst, was dies bedeuten musste. Die Chancen, dass Dorn sich dort auf dem Grundstück versteckte, waren groß. Die Chancen, dass Heydeck noch lebte, eher gering.
Noch auf dem Weg zum Parkplatz hatte Olaf seinen Partner Martin angerufen, der nur ein paar Straßen von Heydeck entfernt wohnte, wenn auch in einer deutlich bescheideneren Behausung. Ohne Zögern war Martin vom Esstisch aufgesprungen und aus der Wohnung gestürmt.
Olaf fragte sich, ob Martin bei seinem Aufbruch insgeheim auch daran gedacht hatte, ob heute vielleicht die Zeit für ihre fünfzehn Minuten Ruhm gekommen sei? Wobei Martin eigentlich ein ähnlich geringes Maß an Geltungsbedürfnis besaß wie er. Sie beide verstanden sich als hervorragende Teamplayer, die sich pudelwohl in der Mitte des Rudels fühlten. Anlagen zum Leitwolf fehlten ihnen gänzlich. Trotzdem musste Olaf sich eingestehen, dass sich der Gedanke, wenigstens einmal im Rampenlicht zu stehen, wie zum Beispiel Lara und Joachim bei ihren letzten großen Fällen, verlockend anfühlte. Offenbar war er doch nicht ganz frei von Ehrgeiz. Vielleicht lag auch hier der Grund dafür, dass er Kreiling erst nach seinem Gespräch mit Martin über die Neuigkeiten informiert hatte, und das vor allem erst, nachdem er schon in Heydecks Wohngebiet abgebogen war. Er hatte befürchtet, Kreiling würde ihm den Alleingang verbieten und befehlen, auf das SEK zu warten. Also war er der befürchteten Order seines Chefs zuvorgekommen, indem er ihm versichert hatte, weder allein noch lebensmüde zu sein und bloß mit Huber das Grundstück im Auge behalten zu wollen, bis die Jungs vom SEK einträfen. Kreiling hatte dies mit einem Knurren quittiert, das in Olafs Ohren wie eine Zustimmung wider Willen geklungen hatte. Doch offenbar war auch Kreiling zu Kompromissen bereit, da niemand mehr riskieren wollte, dass Dorn schon wieder die Flucht gelang.
Olaf sendete seinen Livestandort an Martin, steckte das Telefon ein und prüfte im einfallenden Licht einer Straßenlaterne seine Pistole, obwohl er dies bereits vor seiner Abfahrt getan hatte. Sogar zweimal. Doch heute, wo ein einziger Fehler den Tod bedeuten könnte, wollte er lieber auf Nummer sicher gehen. Er schob das Magazin zurück, steckte die Waffe ins Holster und stieß die verbrauchte Luft aus der Lunge. Dann stieg er mit weichen Knien aus dem Wagen.