Aller guten Dinge sind drei, dachte Daniel Guldan, als er sich in Position brachte. Diesmal musste es einfach klappen. Alles, wirklich alles sprach dafür, dass sie Dorn heute schnappen würden, denn falls er sich in dieser Villa versteckte, saß er so was von in der Falle. Und sie hatten auch noch den Schlüssel zum Haus. Besser konnte es ja nicht laufen. Das Jagdfieber bescherte ihm ein Kribbeln unter der Haut, nur, dass es heute stärker war als sonst. Zum einen wegen des möglichen Lohns, selbst wenn es weder einen Pokal noch ein Preisgeld gäbe. Aber welcher Polizist war schon in der Lage, sich mit einem Serienmörder am Trophäenbrett zu rühmen? Umso ärgerlicher, dass ihnen dieser Sauhund schon zweimal entwischt war. Doch heute würden sie ihn kriegen, das hatte er im Urin. Dieser Dorn war ja eher ein Hänfling, aber eben unglaublich clever, und das bereitete Guldan mittlerweile mehr Sorgen als die schiere Kraft eines Gegners. Vor allem, da er seit letztem Jahr bei jedem Blick in den Spiegel schmerzlich daran erinnert wurde, was Bösartigkeit gepaart mit Intelligenz anzurichten vermochten. Blöderweise wollte sich seither auch seine frühere Sorglosigkeit nicht mehr einstellen. Dabei hatte er damals weitaus mehr zu verlieren gehabt. Er war ein gut aussehender Kerl gewesen, dem die Frauen zu Füßen gelegen hatten. Nicht so ein Leatherface, das mit den Narben und Hauttransplantaten im Gesicht eher an eine von Omas Patchworkdecken erinnerte, nur eben nicht so hübsch und kunstvoll gefertigt. Dass ein einst »schmuckes Kerlchen«, wie Oma ihn früher genannt hatte, unter diesen Entstellungen litt, dürfte jedem halbwegs klar denkenden Menschen einleuchten. Dennoch behielt Daniel das für sich. Nicht, weil er das Problem zu verdrängen versuchte oder sich vor seinen Kollegen schämte – denn gerade vor den Jüngeren genoss er deswegen eine Art Heldenstatus. Nein, Daniel sorgte sich, dass ihn die Führungskräfte als labil einstufen und zum Dank für sein Opfer auf einen Schreibtischposten verbannen könnten. Das, so viel war klar, würde ihm das letzte bisschen Lebensmut rauben. Ihm graute ja jetzt schon davor, wenn mit Mitte vierzig Schluss mit dem SEK sein würde, da Beamte wie er dann das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten hatten. Doch bis dahin dauerte es ja noch zehn Jahre. Eine lange Zeit, in der er was erleben wollte. Denn wegen der mickrigen Zulagen machte diesen Job schließlich keiner. Im Gegensatz zu manchen Kameraden hatte er sich auch nicht dafür entschieden, weil er unter einem Retterkomplex litt oder glaubte, die Menschheit vom Bösen befreien zu müssen. Er hatte diesen Job einzig und allein ergriffen, weil er den Nervenkitzel brauchte.
Jedoch hatte sich mit dem Vorfall vergangenes Jahr auch diesbezüglich etwas verändert. Es war, als existierte seither ein Schalter in seinem Kopf, der ohne jede Vorwarnung umswitchen konnte, von einem pushenden Adrenalinkick hin zu lähmender Angst. Dieses Gefühl war bedrohlich und ließ sich kaum steuern. Hoffentlich blieb ihm das heute erspart.
Er gab seinen Hintermännern ein Zeichen und spürte augenblicklich Adrenalin durch seine Adern fließen. Sein ganzer Körper schien zu vibrieren. Mit zitternden Fingern schob er den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn mehrmals, bis der Riegel zurückschnappte. Dann drückte er die Tür ein kleines Stück auf und reckte den Daumen.
Mit der Maschinenpistole im Anschlag betrat er das Haus und fand sich in einer Art Atrium wieder, von dem eine Treppe nach oben führte. Rechts lagen das offene Wohn- und Esszimmer, von denen weitere Räume abzweigten, deren Türen geschlossen waren. Die Kameraden folgten ihm auf leisen Sohlen. Markus Ritter, der heute die Nachhut bildete, nahm mit zwei ihrer Kameraden die Treppe nach oben, während Daniel und der Rest der Truppe die Räume im Erdgeschoss sichern würden.
Huber hatte angegeben, die Bewegung durch ein Fenster im hinteren Teil des Hauses gesehen zu haben. Was auch immer es gewesen war – es musste sich hinter einer dieser Türen befinden. Während Daniel sich weiter heranpirschte, wurde er sich auf unangenehme Weise seiner Atmung bewusst. Er klang wie eine dieser Handpumpen, mit der man Schlauchboote aufblies. Bekam er genügend Luft? Oder hyperventilierte er schon?
Mensch, reiß dich zusammen, Guldan! Sonst sitzt du schneller hinter dem Schreibtisch, als du gucken kannst.
Seine Kiefer mahlten, während sein Blick dem Leuchtpunkt seiner Zielvorrichtung folgte, der über Möbel und Wände glitt. Vier Türen, ergo vier Räume, die es zu prüfen galt. Drei lagen direkt vor ihm, eine links neben dem Treppenaufgang. Er machte seinen Kameraden ein Zeichen, woraufhin sich vor jeder der Türen ein Teammitglied postierte, je eine Hand an der Waffe, die andere auf der Klinke. Mit drei Fingern zählte er einen Countdown. Als auch sein Daumen in der Hohlhand verschwand, flogen unter dem üblichen Gebrüll synchron drei Türen auf. Nur seine gab nicht nach. Wieso musste ausgerechnet die abgesperrt sein?
Daniel ging ein paar Schritte zurück, nahm Anlauf und sprang mit dem Fuß dagegen. Das Schloss splitterte aus dem Rahmen, als auch seine Tür endlich aufflog. Sogleich fiel sein Blick auf einen menschlichen Umriss am Boden.
»Polizei! Hände hoch!«
Die Gestalt regte sich nicht, dafür aber ein Schatten, der sich von der Person löste und wie von Geisterhand teilte. Automatisch schreckte Guldan zurück, und sein Finger zuckte am Abzug, woraufhin seine Maschinenpistole eine Salve verschoss. Im nächsten Moment hörte er das Getrampel seiner Kollegen, die zu ihm in den Raum stürmten. Hektisch sah er sich um und versuchte, die beiden Schatten zu finden. Doch sie waren verschwunden.
Als Ritter dazustieß und fragte, was zum Teufel hier los sei, stand Guldan noch immer wie zur Salzsäule erstarrt mit der Waffe im Anschlag da. Doch er antwortete nicht. Niemand antwortete. Alle standen nur da und gafften. Jeder versuchte zu verstehen, was er dort sah, und fragte sich, was Guldan zum Schießen veranlasst hatte. Denn von der Person am Boden ging offenkundig keine Gefahr aus. Wäre diese nicht schon tot gewesen, hätten jedoch Guldans Kugeln dafür gesorgt, da sich drei davon in den reglosen Körper gebohrt hatten.
Soweit man an Haaren und Kleidung erkennen konnte, handelte es sich um eine Frau, vermutlich um die Hausbesitzerin. Hose und Slip waren ihr bis zu den Knöcheln hinuntergezogen, Bauch und Brüste entblößt. Die Haut war auffällig blass. Weniger zur Identifizierung geeignet war ihr Gesicht, von dem relevante Teile fehlten. Von der Nase war nur noch das knorpelige Gerüst übrig, und die Lippen wirkten wie abgenagt. In der linken Wange klaffte ein Loch, so groß, dass man auf beide Zahnreihen blickte.
»Porco dio …«, entfuhr es einem der Beamten.
Ein anderer riss sich vom Anblick der Leiche los und musterte stattdessen Guldan.
Als der den Seitenblick bemerkte, bildete sich eine steile Falte auf seiner Stirn. »Jetzt guck mich nicht so an! Irgendwas ist hier im Zimmer.«
Niemand sagte etwas, was Guldan nur wütender machte.
»Denkt ihr, ich bin bescheuert und habe mir das nur eingebildet, oder was?«
Er wagte sich vor, sah unter den Schreibtisch. Nichts. Blickte links und rechts davon in die Nischen. Leer. Drehte sich dann mit einem Ausdruck wachsender Hilflosigkeit zu seinen Kollegen um. Als er schon an seiner mentalen Gesundheit zweifeln wollte, rief einer der Kameraden: »Hier bewegt sich was! Hinter dem Schrank … Ist nur ein Frettchen.«
Die Gruppe atmete auf. Obwohl auch Guldan einerseits erleichtert war, kam er sich nun endgültig vor wie ein Trottel. Hatte sich vor einem Frettchen erschreckt und daher die ohnehin schon geschändete Leiche dieser armen Frau durchsiebt.
»Hier unter dem Sessel ist noch eins«, kam es aus einer anderen Ecke des Raums. Der Kollege schnüffelte hörbar. »Boah, ich wusste gar nicht, dass die Viecher so stinken.«
»Und ich nicht, dass die Menschenfleisch fressen«, sagte ein Dritter, den Blick noch immer wie gebannt auf das abgenagte Gesicht der Leiche geheftet.
»Doch«, kam es vom Ersten. »Meine Tante hatte auch mal welche. Die fressen zu achtzig Prozent rohes Fleisch. Zur Not offenbar auch das eigene Frauchen.«
»Hunger ist eben der beste Koch«, kam es lapidar zurück.
Ritter legte Guldan eine Hand auf die Schulter und murmelte eine Beschwichtigung. Doch Daniel schüttelte ihn ab, machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum. Draußen im Flur schrie er sich den Frust von der Seele, ein lang gezogenes: »Fuuuuuuuuuuck! Wir sind schon wieder zu spät!«