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Sie musste verrückt sein! Völlig durchgeknallt! Stand in Flammen wegen eines Mannes, den man wegen mehrfachen Mordes suchte. Doch das Krasse war: Es fühlte sich dermaßen geil an! Endlich war ihr Leben mal aufregend!

Gesche Schrader nahm eine Hand vom Lenker und zog ihr Handy aus der Tasche, um einen Blick auf die Karte zu werfen. Laut Google Maps war sie richtig und nur noch drei Kilometer vom Zielort entfernt. Sobald sie die Bahngleise überquerte und das Gebäude der Freikirche sah, würde sie wieder nachschauen. Nicht dass sie sich noch verfuhr. Sie steckte das Telefon wieder ein, sah sich um. Vereinzelte Autos und Fußgänger oder diese Spackos auf E-Scootern. Doch niemand schien ihr zu folgen. Vorhin war sie der Meinung gewesen, dass sich ein Fahrzeug an sie rangehängt hätte, doch dann war ihr der Wagen auf der Brücke begegnet und sie hatte einen flüchtigen Blick hineinwerfen können. Weder war es das Auto gewesen, das man vor ihrem Haus abgestellt hatte, noch konnte es sich bei dem Lauch auf dem Beifahrersitz um einen Bullen gehandelt haben. Der hatte eher ausgesehen wie der Sparkassenfuzzi, der ihr damals ein Depot hatte andrehen wollen. Bei diesem Gedanken erwog sie, einen Abstecher am Geldautomaten zu machen, um ihre restliche Kohle abzuheben. Schließlich wollte sie nicht mit leeren Taschen dastehen. Doch erstens war da eh nicht viel drauf, und zweitens hatte Richard gesagt, dass für alles gesorgt sei und sie nur das Nötigste mitnehmen brauchte. Also waren bloß Portemonnaie mit Papieren, Zahnbürste sowie ein paar Wechselklamotten in ihrer Tasche gelandet. Wenn schon ein neues Leben, dann richtig. Wie recht Richard damit hatte!

Dennoch regten sich zwischendurch Zweifel. Was würde sie tun, wenn er sie hängen ließ und plötzlich doch nicht mehr mit ihr durchbrennen wollte? Dann sollte er ihr wenigstens das Auto wiedergeben, das er irgendwo versteckt hielt. Sie selbst konnte sich kein Neues leisten. Sie würde ja nicht mal die Miete fürs Haus zahlen können, jetzt, da Anthonys Lohn wegfiel. Und das war allein Richards Schuld. Er trug also die Verantwortung für sie. Doch er hatte ihr ja versichert, genug Kohle zu haben, da er sein Elternhaus verkauft hatte, was locker für ein gemeinsames Leben in Südamerika reichen würde. Hoffentlich auch für so eine Finca, wie sie dieses Auswandererpärchen aus dem Fernsehen besaß. Bei diesem Gedanken spürte Gesche den nächsten Schwarm Schmetterlinge durch ihren Bauch jagen. Allein dass Richard Südamerika als Ziel vorgeschlagen hatte, war der Hammer. Sie konnte zwar nicht ausschließen, dass sie ihm in einem ihrer Briefe erzählt hatte, dass dies ihr absoluter Traum war, doch selbst wenn, schien er ihr wenigstens zuzuhören und ihre Begeisterung zu teilen. Ganz im Gegensatz zu Anthony, der grundsätzlich gegen alles gewesen war, was sie gut fand. Als sie einmal vorgeschlagen hatte, nach Costa Rica auszuwandern, war er total ausgeflippt und hatte sie angeschnauzt, was für eine naive Tussi sie wäre, dass sie keine Ahnung von der Welt hätte und überhaupt nicht wüsste, wie gut es ihr bei ihm ging. Dass kein Mensch mit Grips in der Birne aus Deutschland auswandern würde. In Wahrheit hatte er keine Ahnung gehabt. Nur weil sein Vater aus Venezuela stammte, hatte er sich für den großen Südamerikaexperten gehalten. So ein Spast! Dabei hatte sie doch all die Dokus gesehen. Dieses Land war das Paradies. Nicht so ein zerbombtes Drecksloch wie Syrien, wohin diese deutschen Mädels abgehauen waren, um IS-Kämpfer zu heiraten. Das war verrückt! Aber Costa Rica … Vielleicht würde sie sogar einen Job in dem Faultier-Waisenhaus kriegen. Die Viecher waren so was von süß. Wehmütig dachte sie an Bonny und Clyde, ihre Sphynx-Ratten, die sie hatte zurücklassen müssen. Hoffentlich kümmerte sich Jaqueline um die beiden und gab sie nicht aus Verärgerung weg, sobald ihr klar wurde, dass ihre beste Freundin nicht bloß für ein paar Tage bei ihren Eltern abgestiegen war, wie sie ihr weisgemacht hatte, sondern vermutlich nie wiederkommen würde. Aber Jaqui konnte sie ja mal besuchen, sofern das für Richard okay wäre. Vielleicht, wenn etwas Zeit vergangen war und man die Suche nach ihm eingestellt hatte. Südamerika war sicher ein Land, das auch Jaqui gerne bereisen würde, erst recht, wenn man sie dahin einlud.

Gesche sah die Bahngleise und erschrak, da ihr etwas einfiel. Abrupt blieb sie stehen und beklopfte ihre Hosentaschen. Leer. Gut. Dann hatte sie den Schlüssel fürs Haus also doch im Schuppen hinterlegt. Klar! Jetzt fiel es ihr wieder ein. Sie war so was von durch den Wind … Aber konnte man ihr das verübeln? Sie war einfach aufgeregt, so unglaublich nervös.

Bevor sie weiterfuhr, warf sie einen Blick auf ihr Handy. Jetzt musste sie nur noch da vorn rechts, dann die zweite links abbiegen und bis zum Ende der Straße durchfahren. Dann wäre sie da. Am Startpunkt ihres neuen Lebens. Hoffentlich würde alles klappen. Aber eigentlich hatte sie keine Zweifel. Richard schien in jeder Hinsicht besser zu ihr zu passen als jeder Mann je zuvor. Ihre Gemeinsamkeiten waren fast schon unheimlich. Und hatte Jaqui nicht immer gesagt, dass es für jeden auf der Welt einen Seelenverwandten gab? Vielleicht war Richard ja ihrer. Bestimmt sogar, wenn sie überlegte, was sie für ihn aufs Spiel setzte. Außerdem wollte sie endlich raus aus Deutschland. In ihren achtundzwanzig Jahren hatte sie es bisher nur ein einziges Mal über die Grenze geschafft, und das nur für ein verlängertes Wochenende in Prag. Jaquis Junggesellinnenabschied. Nicht mal geflogen war sie bisher. Wobei daraus auch diesmal nichts werden würde, da sie Schiff und Bahn nehmen mussten, bis Richard sich neue Papiere besorgt hatte, da er meinte, an Flughäfen würde man zu streng kontrollieren. Er war wirklich klug und schien an alles gedacht zu haben. So einen Mann hatte sie noch nie kennengelernt. Er musste der Richtige sein! Kurz überkam sie ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn tatsächlich fast an die Bullen verpfiffen hätte. Doch diese Polizistin hatte genau gewusst, welche Knöpfe sie bei ihr drücken musste. Inzwischen war Gesche klar, dass die dumme Bitch bloß versucht hatte, sie zu manipulieren, weil sie ihn um jeden Preis schnappen wollte. Sie war ja anfänglich selbst verunsichert gewesen, weil er Anthony direkt umgelegt hatte. Dabei hätte sie das ahnen können. Immerhin hatte er ihr in einem der Briefe geschrieben, dass er ihr helfen würde, Anthony loszuwerden. Was also hatte sie von einem Mann erwartet, der nicht bloß laberte, sondern handelte? Ein Glück, dass Richard nicht am Bahnhof erschienen war und somit auch nichts von der Falle mitbekommen hatte. Wieder eine Fügung des Schicksals. Sonst hätte sie sich ihre Auswandererpläne und ihr neues Leben sonst wohin schieben können.

Voller Vorfreude trat Gesche in die Pedale, fuhr vorbei an großen Grundstücken mit Hoftoren und immer luxuriöseren Häusern, bis sie am Ende der Straße vor einer hohen Baumhecke stand, hinter der ein würfelförmiger Gebäudeteil aufragte. Hier musste es sein. Ein letztes Mal prüfte sie ihren Standort bei Google Maps. Sie war richtig. Das war die Adresse, die Richard ihr genannt hatte. Hier wollte er sie treffen. Doch wem gehörte dieses Haus?

Sie lehnte ihr Rad gegen die Hecke und betrat mit pochendem Herzen das Grundstück. Im nächsten Moment vergaß sie ihre Aufregung für einen Augenblick, da sie das ganze Gebäude vor sich sah. Wow! Das war ja riesig. Eine richtige Bonzenhütte. Hier würde sie sofort einziehen. Doch das konnte sie sich natürlich abschminken, schließlich mussten sie ja weg. Sie war gespannt, gleich Richards Masterplan zu erfahren. Doch jetzt würde sie erst mal das Gartenhaus suchen, von dem er in seiner Nachricht geschrieben hatte.