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6 Tage zuvor …

Am Fahrbandrand flammte ein Blitzlicht auf. Der Fahrer ging in die Eisen. Trotzdem dauerte es einen Moment, bis ihm die volle Bedeutung klar wurde. In dieser Situation geblitzt zu werden, war nicht bloß ein Ärgernis, sondern eine ausgewachsene Katastrophe. Ein Super-GAU erster Güte.

Jede Pore seiner Haut schien sich zu öffnen, um Schweiß abzusondern, weshalb er trotz der Hitze, die ihn durchströmte, fröstelte.

Was jetzt? Zurückfahren und den Kasten abfackeln? Unmöglich, ohne gesehen zu werden. Selbst nachts war hier zu viel los, geschweige denn jetzt, im Mittagsverkehr. Doch er musste sich etwas einfallen lassen, wenn er nicht im Gefängnis verrotten wollte. Immerhin war es Claudines Wagen, weil sein eigener in der Werkstatt stand. Er musste unbedingt an diesen Wisch herankommen. Fieberhaft dachte er nach. Dann kam ihm eine Idee. Hektisch tastete er nach seinem Handy, doch seine Hosentaschen waren leer. Scheißdreck! Hatte er es im Haus liegen lassen?

Lothar stieß einen Schrei der Verzweiflung aus, trommelte mit den Fäusten aufs Lenkrad.

Als ihn ein anderes Fahrzeug überholte, aus dem ihn eine Frau angaffte, riss er sich zusammen.

Bleib cool! Du musst jetzt die Nerven bewahren so wie eben im Haus! Wenn dir das nicht gelingt, machst du Fehler, und dann kriegen sie dich. Dann wirst du alles verlieren. ALLES!

Er atmete zwei-, dreimal durch, dachte angestrengt nach. Dann fiel es ihm wieder ein: Das Handy lag im Büro in der Ecke, wo es scheppernd gelandet war, nachdem er Claudines Chat mit diesem Arschloch mitverfolgt hatte. Dort musste es immer noch liegen.

Wieso um Himmels willen hatte er diese App auf ihrem Smartphone installiert? Beschissenes Misstrauen! Elende Eifersucht! Jetzt war die App – hoffentlich spurlos – von ihrem Handy verschwunden.

Zu lesen, was Claudine diesem Wichser schrieb, war so schmerzhaft gewesen … Er hatte sich fast übergeben müssen und dann minutenlang mit sich gerungen, nicht alles kurz und klein zu schlagen. Doch dann, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, war diese kühlere Emotion aufgekommen. Eine Art abgeklärte Wut, die ihn aus dem Büro getrieben hatte – zu diesem Zeitpunkt noch mit der alleinigen Absicht, die Sache mit Worten zu klären. Er hatte Claudine zur Rede stellen und ihr die Chance geben wollen, mit dem anderen Schluss zu machen. So war es wirklich gewesen. Er konnte sich noch genau erinnern. Zum Glück hatte er vorhin beim Verlassen des Büros den Hinterausgang genommen. Zwar eigentlich, damit ihn keiner seiner Mitarbeiter in diesem desolaten Zustand sah – doch jetzt war dies natürlich umso bedeutsamer.

Während der Fahrt zu Claudine war der Klumpen aus Wut in seinem Magen auf ein so überwältigendes Maß angeschwollen, dass es jedes bisher da gewesene Gefühl in den Schatten gestellt hatte. Dennoch war er zu diesem Zeitpunkt weiterhin überzeugt gewesen, dass er sie nur mit ihrem Treuebruch konfrontieren würde.

Die Situation war erst eskaliert, als Claudine ihm vorgeworfen hatte, selbst schuld an ihrem Seitensprung zu sein. Da war sein Hirn in den Autopiloten geswitcht und hatte seine Hand wie ferngesteuert zu dem Messer geführt, mit dem sich Claudine eine Avocado aufschneiden wollte. Es hatte ihn den Holzgriff packen, damit ausholen und ihr die Klinge mit voller Wucht in den Leib rammen lassen.

Jetzt, in der Stille des Wagens, drohte bei dieser Erinnerung eine Welle aus Schmerz und Schuldgefühlen über ihm hereinzubrechen, die er mit aller Kraft abwehrte. Wenn er sich nicht zusammenriss, würde er in den Knast wandern. Claudine war nun mal tot; das ließ sich nicht mehr ändern. Aber er war am Leben! Daher würde es jetzt ausnahmsweise mal nur um ihn gehen. Um niemanden sonst. Von wegen, er war schuld. Hure! Aufgegeben hatte er sich für sie und trug an genau gar nichts die Schuld! Auch nicht an der Attacke. Die war einfach passiert. Klar geworden, was er getan hatte, war ihm erst, als Claudine sich – zunächst noch am Boden krümmend – plötzlich nicht mehr gerührt hatte. Doch da war es schon zu spät gewesen. Sonst hätte er den Notarzt gerufen. Ganz bestimmt! Außerdem hatte sie es provoziert. Gottverdammte Hure!

Es war nicht deine Schuld , es war nicht deine Schuld . Diese Schlampe hat dich hintergangen und dann auch noch die Frechheit besessen, dich zu demütigen. Das hat sie nun davon.

Erstaunlich, dass er zumindest im Anschluss die Nerven behalten hatte und ihm trotz des immensen Drucks dieser Einfall gekommen war, der ihn nun vor dem Knast retten würde. So grausam es auch gewesen war …

Doch so wusste er seit heute, dass er für seine Freiheit bereit war, alles zu tun. Wirklich alles. Selbst wenn dies bedeutete, der Frau, die er bis dato geliebt hatte, die Kehle aufzuschlitzen und ihr im Anschluss mehrere Messer in den Körper zu stecken, um es nach der Tat eines anderen aussehen zu lassen. Im ersten Moment hatte er überlegt, die Tat diesem Arschloch von Arzt anzuhängen, doch was, wenn der ein wasserdichtes Alibi hätte? Dann war ihm die wesentlich naheliegendere Idee gekommen. Ein Glücksfall, dass dieses Onlinemagazin so detailliert von dem Messermord an der Psychologenfrau berichtet hatte …

Lothar prüfte die Tachonadel. Obwohl sein Bein auf dem Gaspedal zitterte, fuhr er strikt fünfzig. Er durfte sich keinen Fehler erlauben. Bei diesem Gedanken spürte er das in einen Gefrierbeutel gewickelte und in der Innentasche seiner Jacke steckende Messer, welches der Sicherheitsgurt gegen seine Brust drückte. Er musste es irgendwie loswerden. Es aber kopflos in einen Fluss oder See zu werfen, wie man es oft in Filmen sah, war keine Option, da man die Mittel der Polizei nicht unterschätzen durfte. Bis ihm ein Versteck für die Ewigkeit einfiel, musste er es an einem Ort aufbewahren, wo so schnell niemand danach suchen würde. Die blutige Jacke neben ihm auf dem Beifahrersitz, die in einer Einkaufstüte steckte, bekäme er hoffentlich gewaschen und dadurch alle Spuren beseitigt. Zur Not musste er auch sie verschwinden lassen.

Als er einen Blick in den Rückspiegel warf, fiel ihm mit Schrecken eine Blessur an seiner Stirn auf. Vor lauter Adrenalin hatte er gar nichts gespürt. Doch jetzt, da er sie sah und die Erinnerung daran zurückkehrte, wie Claudine ihm wegen seiner unflätigen Beschimpfung einen Löffel an den Kopf geworfen hatte, begann die Stelle zu pochen. Der Löffel war später beim Präparieren des Tatorts frisch poliert im Besteckkasten verschwunden, trotzdem brauchte er gleich im Büro eine plausible Ausrede für diesen Bluterguss. Aber zuallererst musste er einen Schlenker zu einer Telefonzelle machen, um einen anonymen Anruf zu tätigen. Zum Glück gab es in der Stadt noch eine Handvoll davon, und er wusste, wo eine stand.

Nachdem ihm der Herr vom Ordnungsamt am Telefon mitgeteilt hatte, dass nur der Fahrzeughalter die Adresse ändern lassen konnte, an die ein Bußgeldbescheid erging, war Lothar mit wachsender Verzweiflung zurück in die Firma gefahren. Erst als er den Wagen in der Tiefgarage geparkt hatte, waren ihm auf einen Schlag drei Ideen gekommen: Die erste war, das Messer zunächst in einem der Leitungsschächte unter der Decke der Tiefgarage zu verstecken. Die zweite, wie er einen Grund für seine Blessur und zugleich eine glaubhafte Zeugin für sein Alibi finden konnte. Die dritte, wie er das Problem mit dem Knöllchen in den Griff bekommen würde.

Lothar betrat sein Büro, wobei er wieder den Hintereingang nahm. Blitzschnell zog er die Sachen aus, die er mitsamt der blutigen Jacke in einen Rucksack stopfte, den er im Schrank verstaute. Dann sprang er in einen Trainingsanzug und spritzte sich Wasser über Haar und Gesicht, obwohl er schon vom Stress nassgeschwitzt war. Er sah sich um, entdeckte sein Handy auf dem Boden, das er aufhob und in der Hand wiegte. Überlegte, ob er wirklich alles bedacht hatte. Aber auch nach dem dritten Durchgang erschien sein Plan lückenlos. Die größte Unwägbarkeit bestand immer noch darin, ob seine Abwesenheit bisher unbemerkt geblieben war. Doch da seine Sekretärin die Einzige war, die hin und wieder in sein Büro kam, und dies kurz vor seinem Aufbruch getan hatte, standen die Chancen gut. Im schlimmsten Fall musste er zu Plan B übergehen, sofern ihm ein solcher einfiel. Jetzt ging ihm auch auf, was für ein Glücksfall es war, dass er sein Handy in die Ecke geschmissen und es dort liegen gelassen hatte. Denn falls die Polizei ein Bewegungsprofil davon anforderte, würde dieses belegen, dass er die ganze Zeit über hier gewesen war. Genau wie es hoffentlich Walli bestätigen würde. Somit blieb nur noch die Sache mit dem Bußgeldbescheid. Doch auch die würde er schaukeln. Wichtig war jetzt nur, dass er bis zu dessen Zustellung im Besitz des Hausschlüssels blieb.

Lothar Reus legte das Handy mit dem Display nach unten auf den Tisch. Dann versetzte er dem Rennrad samt Rollentrainer einen kräftigen Stoß. Das Poltern, als es umfiel, war lauter als erwartet. Zu seiner Überraschung hörte er fast im selben Moment draußen auf dem Flur Schritte. Wie zum Teufel konnte die Brettschneider so schnell reagieren? Die schnaufte doch schon, wenn sie sich vom Stuhl erheben musste. Rasch legte Lothar sich neben das Rad und hielt sich den Kopf.

»Herr Reus? Alles in Ordnung bei Ihnen?«