Der Firmensitz von Safety International Security – Fallners Bruder hatte sich den Namen seiner Firma selbst ausgedacht und fand ihn deshalb brillant – war so unauffällig und für ein Gebäude in der Innenstadt in Bahnhofsnähe so aus der Zeit, dass es fast schon auffällig war. Man konnte die Abrissmaschinen sozusagen langsam näherkommen sehen und die Stimmen von Erste-Liga-Investoren hören, die meckerten, dass man aus diesem Grundstück eine Menge mehr rausholen konnte … wem gehörte denn diese Bude aus besseren Tagen und was wollte der Unterbelichtete dafür haben?
Mit einem detaillierten Gebäudeplan in der Hand hätten sie es verstanden. Die Bude war eine Burg und ein Bunker, und alles funktionierte optimal für eine Firma dieser Art; mit einer Kellerverbindung ins Haus auf der anderen Straßenseite (»falls uns Mister Bond mal besucht«). Eine Halle am Stadtrand wäre billiger gewesen, aber diese Basis war unbezahlbar.
Kein Passant konnte ein imposantes Firmenschild entdecken, an keiner Klingel ein Name. Hier war nichts, und niemand arbeitete hier. Außer ein Passant setzte sich ein paar Stunden ins Café gegenüber, um es sich genauer anzusehen.
In seinem Büro in der vierten Etage legte der Chef ein Foto auf den Tisch, ein schlechtes Foto von einem Mann mit einem Vollbart und einer dicken Brille.
»Der freundliche Herr ist zwei Millionen wert«, sagte er, »und es gibt ernstzunehmende Hinweise, dass er uns besuchen kommt, aber diese Information darf im Moment diesen Raum nicht verlassen.«
Fallner und Kollege Nico Koll sagten nichts dazu und sahen sich das nichtssagende Foto an, das nur einen unscharfen Mann präsentierte, der wie tausende andere Männer mit schwarzem Vollbart und dicker schwarzer Brille aussah.
»Ich spreche im Moment nur mit euch darüber, um eine Entscheidung zu treffen«, sagte der Chef. »Die Amerikaner bezahlen, wenn sie ihn in die Finger kriegen. Ein offizielles Papier gibt’s dafür nicht. Die Angelegenheit existiert nicht, ich kann mich nicht erinnern, wer mir das gesteckt hat. Er organisiert Anschläge, man ist der Meinung, er hat genug gearbeitet und sollte sich zur Ruhe setzen.«
»Dafür gibt’s Beweise«, sagte Nico.
»Dafür gibt’s Beweise, die ich jedoch nicht beweiskräftig vorliegen habe und an die ich nicht rankomme«, sagte der Chef. »Und wenn du nicht rankommst, sollten wir es lassen.«
»Wenn ich nicht rankomme, gibt es keine.«
»Und deine Quelle ist streng vertraulich und du vertraust ihr vollkommen«, sagte Fallner.
»Es gibt außerdem diese vollkommen vertrauliche Information«, sagte sein Bruder mit der Stimme des Chefs und schlug mit der flachen Hand vor ihnen auf den Tisch. Ein gelber Zettel blieb kleben. Fallner nahm ihn, las die Notiz und gab ihn an Nico weiter.
»Die Adresse eines Cousins«, sagte der Chef. »Morgen bitte eure Überlegungen, danke, meine Herren.«
Nico machte mit seinem Rollstuhl eine elegante Drehung und glitt mit leisem Sirren zur Tür, die sich automatisch öffnete. Fallner verfolgte ihn in sein Büro, die Computerzentrale.
Sie durchquerten das Großraumbüro, in dem zu dem Zeitpunkt etwa zehn Leute arbeiteten. Nicht alle von ihnen waren fest angestellt, manche tauchten für spezielle Projekte auf und dann erst wieder in ein paar Wochen oder Monaten oder möglicherweise nie wieder; sicher war jedoch, dass man nicht so leicht einen Platz in dieser Spezialhalle bekam. Fallner hatte keinen Überblick und interessierte sich nicht für dieses komplizierte Beziehungssystem, von dem der Chef behauptete, es sei das eigentliche Rückgrat der Firma und seine Organisation eine Kunst für sich, was garantiert der Wahrheit entsprach. Sein kleiner Bruder sollte also mehr Engagement zeigen, hielt sich aber zunehmend raus – Fallner der Jüngere hatte keine Ahnung, wie viele SIS-Kämpfer im Moment draußen unterwegs waren (es gab Aufträge, für die zwei Tage lang dreißig Leute mit gestählten Körpern gebraucht wurden, die keine zwanzig Euro die Stunde bekamen, und andere Aufträge, bei denen drei Frauen antraten, die außerdem perfekt Russisch sprachen). Er bestand auf seinem Sonderstatus als Chefbruder, der sich seine Einsätze aussuchte, wie es ihm passte. Ausnahmen: Notfälle und Engpässe.
Sein eiserner Plan war nach einem Jahr immer noch, in diesem Großraumbüro nicht mehr Zeit als nötig zu verbringen; es fühlte sich zu sehr nach Polizei an, und von diesem Gefühl hatte er schon eine Überdosis gehabt und nur knapp überlebt. Obwohl das Arbeitsklima hier nicht schlecht war: Jetzt beobachteten alle, in welcher Verfassung Nico und er aus dem Chefbüro kamen, und das war nicht nur teilnehmende Beobachtung, sondern hatte auch einen Schuss Mitgefühl, natürlich überlagert von Neugier.
Fallner blieb stehen, hob beide Arme und verkündete mit Politiker-tritt-mit-klarer-Haltung-vor-die-Presse-Stimme: »Wir dürfen nichts sagen, Kollegen, aber so viel steht fest, eure Arbeitsplätze sind bombensicher, die Firma wird nicht an einen Konzern verkauft, der die Verfassung beschützen soll. Danke für Ihre Aufmerksamkeit.«
Die Reaktion hatte er nicht erwartet: Niemand lachte, kein dummer Spruch. Alle starrten ihn an, als hätte er das Gegenteil verkündet. Oder war er inzwischen so selten im Büro, dass sie sich fragten, wer dieser dämliche Angeber war, der zu ihnen mit dieser lächerlichen Ich-hätte-das-Zeug-zum-Führungspolitiker-Stimme gesprochen hatte?
Dass er die Glastür von Nico Kolls Büro zuwarf, machte es nicht besser. Er hatte nicht daran gedacht, dass seine Tür immer offen war. Und dass sie jetzt geschlossen blieb, gefiel den Kolleginnen und Kollegen noch weniger. Auch das erinnerte Fallner an sein Polizeileben – kein Wunder, denn die meisten hier waren Ex-Bullen.
»Was für ein Quatsch«, sagte der Behinderte, »mein Geld fliegt ja nicht zum Fenster raus, aber wir sollten den Chef vor diesem Quatsch beschützen. Es wird so gut wie keine belastbaren Informationen zu dieser Ami-Scheiße geben, das garantiere ich dir. Man muss ihm das ausreden.«
»Könnten wir versuchen«, sagte Fallner.
»Du weißt, wie sehr ich deinen Bruder schätze«, sagte Nico. »Ich würde für den Sack bis ans Tor zur Hölle fahren.« Ein Ausdruck, den er noch nie von ihm gehört hatte. »Sogar bis in die Hölle rein, wenn’s sein muss. Aber er hat manchmal nicht alle Tassen im Schrank.«
Damit hatte er nicht übertrieben – oder war der Mann, dessen spezielle Kenntnisse zu einer eigenen, von ihm geleiteten Abteilung geführt hatten, die inzwischen wichtiger war als die Fähigkeiten von Ex-Polizisten wie Fallner, nur so sauer, weil er nicht zu dieser Gartenparty eingeladen worden war und nicht wusste, dass nur Familienmitglieder dort waren? Aber dann hätte er sich kaum zu diesen Höllen-Bekenntnissen aufgeschwungen. Oder doch? Um dem Chef durch den Bruder zu übermitteln, dass man ihn zur nächsten Gartenparty besser wieder einladen sollte?
»Du hast vollkommen recht«, sagte Fallner. »Wir werden nichts überstürzen und wir lassen uns auf nichts ein.«
»Du hast doch keine Ahnung, Mann, du bist doch kaum hier. Lass die Tür offen, wenn du rausgehst.«
Fallner beschloss, die Klappe zu halten und die Diskussion irgendwann später fortzusetzen, ehe er sich in der geöffneten Tür nochmal umdrehte.
»Fast hätte ich’s vergessen«, sagte er, »also naja, diese Adresse.«
»Was ist mit der verdammten Adresse?«
»Ich kenne die Adresse.«
»Du kennst die Adresse, die er uns gegeben hat? Du hast doch selber nicht mehr alle Tassen im Schrank.«
Als wäre das ein Widerspruch.