Wieso hatte er einen Brief in seinem Briefkasten? Er bekam keine Briefe mehr. Nur steinalte Leute, verdrehte Kinder und Psychos schrieben Briefe. Psychos, Anwälte und andere Einrichtungen, mit denen man nichts zu tun haben wollte. Psychos und andere Rechnungen.
Name und Adresse standen handgeschrieben auf dem Kuvert, und jemand hatte beim Schreiben viel Druck gemacht. Jemand, der kaum oder kaum noch schreiben konnte oder die Hand benutzte, mit der er kaum schreiben konnte, weil er immer mit der anderen Hand schrieb. Normales weißes Kuvert, Postkartengröße, nichts auf der Rückseite.
Fallner drehte das Kuvert hin und her, als gäbe es eine geheime dritte Seite. Der Stempel auf der Briefmarke war verwischt, unleserlich. Konnte die Person auch selbst gestempelt haben, um sicherzugehen, dass der Stempel unleserlich war, und dann persönlich in seinen Briefkasten eingeworfen.
Beschwerde eines Rentners, war die erste Assoziation … Wenn Sie diese KGB-Zuhälter-Agentensau aus dem ersten Stock nicht baldigst zur Räsong bringen oder sowas … Aber der einbeinige kriegsversehrte Rentner aus dem zweiten war endlich gestorben. Von ihm hatte Fallner (in seiner Eigenschaft als inoffizieller Hausmeister) alle paar Monate so ein Schreiben bekommen. Der Einbeinige war der Einzige, der ihm noch Briefe geschrieben hatte, und er hatte ihm nie zurückgeschrieben. Aber er hatte ihn, mit seinem Brief in der Hand, immer sofort persönlich aufgesucht, um ihm klarzumachen, dass er sein gehässiges Maul halten solle, egal, ob er es schriftlich oder akustisch aufriss. Einer dieser vielen Nazis, die der Entnazifizierung durch die Amerikaner entkommen waren und die sich besonders freuten, wenn sie ihr pseudo-anständiges Gequatsche einem Polizeibeamten anhängen konnten, von dem sie dachten, er sei verpflichtet, sich ihren Dreck anzuhören.
Er ging mit dem Brief auf die Straße, dachte darüber nach, hatte ihn immer noch nicht geöffnet. Konnte vorkommen, dass jemand mieses Pulver in einem Brief verschickte – wenn du keine Briefe mehr im Kasten hast, bekommst du allenfalls mal einen Brief, den du lieber nicht bekommen hättest.
Er blieb stehen und schlitzte ihn mit dem Fingernagel auf. Ein Blatt, kurzer Text, wieder mit der falschen Hand ins Papier gepresst.
Seine erste Reaktion war, sich nach allen Seiten umzusehen. Als müsste die Person noch in der Nähe sein und eilig verschwinden oder ihn dabei beobachten. Wieder lesen und sich wieder umsehen – denn du hast falsch gelesen und nicht genau hingesehen. Jemand wollte ihn verarschen. Was aber nur Spaß machte, er konnte sich erinnern, wenn man ihn dabei beobachtete. Wie er sich hin- und herdrehte und jemanden in die Finger kriegen wollte. Ein weißer Mann Ende vierzig, dessen Leben mit ein paar Worten einen Riss bekommen hatte.
Irgendwo eine Kamera, möglicherweise.
Es war so, wie er es dem Mädchen erklärt hatte: Die Worte waren ein Virus, der sich in wenigen Sekunden in seinem Kopf festgefressen hatte und den ganzen Körper beeinflusste. Es gab keinen Grund dafür, aber er brachte dieses anonyme Angebot, einen Auftrag auszuführen, sofort mit ihrem dubiosen Zwei-Millionen-Belohnung-Fall in Verbindung.
Alles Unsinn, er wusste, dass es nur Spaß war – wie schreibe ich ein Angebot, das die Wirkung eines Drohbriefs hat? Obwohl es nicht dieses Angebot war, das man auf keinen Fall ablehnen konnte. Er konnte es ablehnen. Er konnte den Brief sofort wegwerfen. Und ihn sofort vergessen. Eine einfache Geschichte, die niemanden interessierte.
Er wusste, dass es kein Spaß war. Der Brief ging in Flammen auf, als er ihn in die Tasche steckte.
Er ging zurück in die Wohnung. Nicht um eine andere Jacke anzuziehen, sondern um seine Waffe aus dem Safe zu holen.
Dann ging er neben sich – ein ruhiger Mann, der über den Mann lachte, der neben ihm ging, weil er Gespenster sah.