Fallner hatte Bruno seit Monaten nicht mehr auf der Straße gesehen, vielleicht ein Jahr. Jetzt stand er da am Tag nach dem Brief, nur zwei Häuser weiter, spielte Akkordeon und sang ein Lied dazu. Auf dem Asphalt vor ihm ein Plastikschälchen für das Geld. Neben ihm eine braune Ledertasche und eine Plastiktüte voller Plastikflaschen. Bruno war ein Mann mit mehreren Jobs. Wahrscheinlich hatte er die letzten Monate in einer Geschlossenen gearbeitet, wo Männer mit Erfahrung immer gesucht waren; ein sicherer Job, man verdiente zwar nicht viel, konnte es aber auch nicht aus dem Fenster werfen.
Fallner grüßte ihn, Bruno schien ihn jedoch nicht mehr zu kennen. Sein Blick ging in die Weite, die von keiner Häuserfront begrenzt werden konnte. Oder er war einfach nur vollkommen auf seinen Vortrag konzentriert.
Er sang vorsichtig, doch mit großer Hingabe: »Nach der Heimat möcht ich geh’n, in der Heimat gibt’s ein Wiedersehn.«
Es waren schlechte Zeiten für Straßensänger, die an einem verregneten grauen frühen Abend dick angezogen von einer Heimat träumten, die sie irgendwann irgendwo verloren oder nie gehabt hatten und bis ans Ende ihrer Tage vermissten. Die paar dunklen Münzen in seinem Plastikschälchen hatte er selbst reingelegt. Er stand an einer schlechten Stelle, abseits der belebten Plätze, und es waren keine guten Zeiten für Straßensänger, die Angst vor Straßen und Plätzen hatten, wo viele Menschen unterwegs waren.
»Lange nicht gesehn, ich hab dich schon vermisst, Bruno«, sagte Fallner, als er sein Lied beendet hatte. »Wo warst du denn immer?«
»Der Bruno ist dort gewesen, wo es zu den festen Tageszeiten was zu essen gibt. Das Haar wird gekämmt, und das Licht wird gelöscht, wenn die Nacht kommen tut. Dagegen gibt es auch nichts zu sagen.«
»Klingt ja fast wie Urlaub. Und warum bist du wieder ausgezogen?«
»Der Bruno hat keinen Alkohol getrunken. Weil der Teufel den Schnaps gemacht hat.«
»Ich weiß«, sagte Fallner, »ich kenne den Teufel. Und ich kenn auch seine Frau, seine Mutter und seine Freunde.«
Bruno rieb sich die Hände und rückte seine Kappe mit den Ohrenschützern zurecht, die noch nicht in den Herbst passte, die er jedoch immer trug, im Bett nicht ablegte und nicht beim Essen, und die ihn, wenn die Zeit gekommen war, in seine Heimat ausfliegen würde – letzte Ehre für einen Frontsoldaten, den sie, so sah er aus, im November 1918 vergessen hatten.
Fallner hatte nie herausgefunden, wo genau Bruno unterkam, wenn er hier in der Gegend war. Wo sein Zimmer war, die Ecke, das Loch, der Unterschlupf, der Unterstand. Irgendwo zwischen Bahnhof und Westend jedenfalls, irgendwo in der Nähe der Theresienwiese, wo im November 1918 Tausende Menschen eine Revolution entbrannt hatten. Da lagerte der Bruno noch einen Koffer und eine Tüte und vielleicht ein Fahrrad. Es musste hier irgendwo sein, denn wenn Fallner ihn sah, nachdem er ihn länger nicht gesehen hatte, dann sah er ihn öfter.
»Wohnst du jetzt wieder hier?«, fragte er ihn und versuchte, nicht nach Polizei klingen, und Bruno machte einen Laut, als hätte ihn ein Witz amüsiert. »Ich frag nur, weil ich hätte ein paar gute Sachen bei mir rumliegen, die du vielleicht gebrauchen kannst, also die sind noch gut in Schuss, die könnte ich dir vorbeibringen.«
»Der Bruno hat alles, was der Mensch gebrauchen kann«, sagte er und verzog eine Schulter, um das Akkordeon abzulegen und dann auf den Rücken zu nehmen.
Wenn der Straßensänger von den Passanten vollgelabert wurde, war es Zeit, einzupacken und weiterzuziehen. Wenn sie dachten, er könnte sich an jeden Arsch erinnern, der ihm mal zugehört hatte, waren sie auf dem falschen Dampfer. Wenn sie wissen wollten, wo er wohnte, waren sie Diebe oder Bullen.
»Jetzt mach doch mal langsam, Bruno, ich will dich doch nicht vertreiben. Ich wollte dich nur was fragen, ich zahle zwanzig für eine ordentliche Auskunft nach bestem Wissen und Gewissen, du weißt, dass ich ein ehrlicher Mann bin.«
Bruno ging einen Schritt zurück an die Wand. »Du warst bei den tätowierten Zuhältern und ihren Weibern und hast gesagt, der Bruno soll die Schnauze halten.«
Seine Personenbeschreibung war etwas übertrieben, aber seine Erinnerung täuschte ihn nicht. Bruno hatte spätnachts (in einer Café-Bar am Bahnhof) am falschen Ort die falschen Männer auf seine Bruno-Art angequatscht, und Fallner hatte ihn vehement am Weiterquatschen gehindert, damit er keine aufs Maul bekam (und ihm bei einer Ermittlung nicht weiter in die Quere kam).
»Ich wollte dir nur helfen, du warst nämlich nah dran, mit einem der Typen Ärger zu bekommen, und weil du das selber nicht bemerkt hast, dachte ich, dass ich besser mal dazwischengehe.«
»Der Zuhälter verkauft die Frau, der Bruno hält die Schnauze, weil du ein Polizist bist. Das ist die Auskunft, die aus meinem besten Gewissen kommen tut, Grüß Gott.«
»Ich bin aber schon lange kein Polizist mehr, nehmen Sie das bitte zur Kenntnis, Herr Liedermacher«, sagte Fallner und holte den Brief raus. »Ich möchte nur, dass du da kurz einen Blick drauf wirfst. Jemand hat mir das in den Briefkasten geworfen, aber es war nicht die Postbotin, die hier unterwegs ist. Erste Frage, hast du hier jemanden gesehn, der dir aufgefallen ist? Jemand, der mit einem Brief in der Hand bei uns an der Tür war?«
Bruno starrte ängstlich den Brief an, als wäre er an ihn gerichtet und würde ihm Unheil verkünden, und schüttelte den Kopf.
»Zweite Frage: Hast du diese Handschrift schon mal gesehn?«
Er hielt ihm den Brief verkehrt herum hin, damit er ihn nicht lesen konnte, und erklärte ihm, dass man das so machte, wenn man die Schrift identifizieren wollte, denn wenn man sie lesen konnte, wurde man vom Inhalt abgelenkt. Bruno betrachtete die Schriftzeichen, aber sein Misstrauen wurde dadurch gesteigert. Fallner spürte, dass er ihn weiterhin als Polizist einsortierte, vermutlich als Mitglied einer Spezialtruppe, die mit verschlüsselten Zeichen operierte. Es war nicht normal, dass man den Bruno in solchen Angelegenheiten konsultierte, es war ein Sozialarbeiter-oder-Bullen-Scheißtrick, um ihn von der Straße zu verjagen.
»Ich habe diese verkehrte Schrift noch nicht gesehn«, sagte er. »Das ist die Auskunft, die ich geben tun kann.«
»Wie versprochen«, sagte Fallner und gab ihm den Zwanziger in die Hand.
»Das sieht nicht gut aus«, sagte Bruno.
»Was meinst du damit?«
»Das ist mit einer großen Wut geschrieben. Das sieht der Bruno. Er hat selber schon viele Briefe geschrieben. Was tut der Brief sagen? Das ist meine Frage an die Polizei.«
»Ich sehe hier keine Polizei. Oder hat jemand gesagt, du darfst hier nicht spielen? Ich habe damals nur deshalb gesagt, du sollst die Schnauze halten, weil sie dich sonst verprügelt hätten, kapier das endlich. Es kann manchmal verdammt wichtig sein, zu erkennen, dass man in diesem Moment besser die Klappe hält, ist dir das vielleicht noch nie passiert? Mann – ich bin kein Polizist, ich bin ein Freund.«
»Der Bruno stellt eine Frage und bekommt von dem Freund keine Antwort.«
»Jesus, Mensch. In dem Brief bietet mir jemand an, einen Job zu erledigen. Ich würde gerne wissen, wer mir den Job anbietet.«
»Einen Job erledigen tut heißen Geld.«
»Das heißt es. Aber das ist nicht der springende Punkt.«
Was ist denn ein springender Punkt? Dass es auf zu viele Fragen keine befriedigenden Antworten gibt, das ist ein verdammter springender Punkt.
»Der Bruno hat in seinem Leben die Erfahrung gemacht, dass das Geld immer ein springender Punkt sein tut.«
»Wenn ich dir nur einen Cent gebe, dann tut das doch kein springender Punkt sein.«
»Wenn ein Cent zu einer Flasche Wasser fehlt, heißt es, die Augen offen halten.«
»Ich habe dir zwanzig gegeben.«
»Das ist richtig, und es ist ein wichtiger Brief, das sieht der Bruno. Könnte sein, ein Brief auf Leben und Tod.«
»Pass mal auf, mein Freund, es ist einfach nur ein Auftrag, den ich, falls ich Zeit und Lust dazu habe, übernehmen könnte.«
»Weil du die Polizei bist.«
»Nein, im Gegenteil, jemand will mir den Job geben, gerade weil ich nicht die Polizei bin.«
Bruno sah ihn mit großen Augen an.
Seine Augen waren so groß, dass Fallner den Weg zur Hölle genau erkennen konnte.
Der Weg war lang.
Und mit guten Absichten gepflastert.
Und das Pflaster war voller Geldscheine.