Zentimeter für Zentimeter eine harte Probe, sich Zentimeter für Zentimeter fortzubewegen. Nicht mehr flott gehen und laufen zu können. Nicht mal mehr das Bein schnell anwinkeln und ausfahren können, um jemanden zu treten.
Ja, Gott ist groß – doch er hilft nicht gern den Beladenen, Verladenen, Verschobenen, den Verraten-und-Verkauften und Verlassenen.
Zentimeter für Zentimeter mit einem Stöhnen und mit einem Blick in eine Zukunft, den man nicht riskieren möchte, ehe man eines Tages dazu gezwungen ist. Und mit einem Blick auf Hände, die sich an genoppten Plastikgriffen verkrampfen und auf Füße, die mit einem schlurfenden Geräusch mitzukommen versuchen.
Gott ist groß und Allah womöglich noch größer, aber mit gesunden Füßen ist leicht groß sein. Falls diese besonders mächtigen und verehrten Warlords nicht nur Geistwesen waren, sondern echte Füße hatten. Das war nicht wahrscheinlich, doch wer wusste das schon so genau?
Nichts war sicher.
Außer dass dieser verfluchte und elende Rollator die Pest und der Verräter und der Alptraum des fortgeschrittenen Fortbewegungszeitalters war. Und egal, wohin man ihn steuerte, er zielte immer auf den nächsten Friedhof. Ließ einen immer an die letzten Meter denken, die man in mühseligem Leid zurücklegen musste – vor allem, wenn man ihn wie Fallner benutzte, ohne ihn zu benötigen.
Er war völlig ausgepumpt, als er sich mit tippelnden Schritten seinem Zielort näherte. Hatte sich schon in einen verzweifelten alten Mann verwandelt und musste nur noch einen Härtetest überstehen, um die Aktion für den Moment als tauglich einzustufen.
Er hatte sich im Büro aufgehalten und Berichte überprüft und korrigiert, ohne sich darauf zu konzentrieren, und dann scheinbar ohne einen Impuls die Idee gehabt. Vermutlich war der Impuls die Lust auf einen Angriff. Rausgehen und machen.
Und dann kam der Rollator aus dem Nebel langsam herangerollt (als hätte ihn einer dieser Warlords angestoßen), und Fallner unterzeichnete den Bericht, stand auf und fuhr in die zweite Kelleretage, ohne sich abzumelden oder jemanden zu informieren, was er plante.
Auf die technische Ausrüstung wurde penibel geachtet, eine Abteilung in der vierten Etage, die mit jedem Tag bedeutender und von Spezialisten geführt wurde. Fallner war der Meinung, dass diese Abteilung a) überbewertet wurde, b) von dort aus schon bald Roboter das Kommando übernehmen und c) sie dann alle ausschalten und d) die Firma in eine Terrorzelle umbauen würden. Außer dem ebenfalls veralteten Ex-Bullen Landmann war niemand seiner Meinung.
Die Abteilung für sogenannte sonstige Ausrüstung steckte jedoch weit unten im Keller, wurde vernachlässigt und war für die Technikverseuchten nur eine Schrott- und Klamottensammlung, durch die man sich eventuell wühlte, wenn man keine Idee hatte.
Fallner fand den Rollator dort, wo er ihn irgendwann gesehen hatte, und zerrte ihn raus ins Neonlicht. Putzte ihn und schoss Öl in die Gelenke und erklärte ihm, dass seine Phase, in der er eine ruhige Kugel schieben konnte, hiermit endete.
Er holte sich aus den Schränken mit den Klamotten einen dunkelbraunen Anzug aus kräftigem Stoff, der ihm zu groß war, und einen schwarzen Mantel, der fast seinen ganzen Körper verunstaltete. Außerdem klobige abgetragene Bergstiefel, mit denen man nicht normal gehen konnte, eine Brille mit absurd dicken Fenstergläsern und eine Fellmütze mit Fellohrenschützern, die vermutlich jemand bei der Schlacht um Stalingrad geklaut hatte und die ihn sich fragen ließ, ob Bruno der Einzige war, der ihn erkennen würde.
Einen Spiegel konnte er nicht entdecken. Er sah an sich runter und fand sich in Ordnung – ein alter Mann, der sich nicht mehr schick machte, wenn er rausmusste, und als Penner endete, wenn er noch ein paar Gramm mehr Pech hatte. Aber rasiert. Daran ließ sich nichts ändern. Nur gut, dass sich die Fellohrenschützer mit einem Knopfdruck unter dem Kinn verbinden ließen.
Fallner trainierte die fünfzig Meter bis zum Aufzug. Kleine Schritte, gebeugter Rücken. Stoppen: Handy rausholen, Handy ausschalten. Der Ring konnte am Finger bleiben, aber seine Hände kamen ihm zu sauber vor. Er kniete sich hin, um sie am Boden dreckig zu machen. Dreck ins Gesicht kam ihm übertrieben vor (aber es war immer schwer zu entscheiden, wann man es den einen Tick übertrieb, der einen verraten würde).
Als sich die Aufzugtüren öffneten, stand Theresa vor ihm. Starrte ihn höchstens eine halbe Sekunde lang geschockt an, in der sie bereit war, sich auf ihn zu stürzen.
Dann atmete sie aus und sagte: »Und ich war schon fast so weit, mich in dich zu verknallen, Fallner.«
»Ist doch nur Spaß«, sagte er.
»Ja, das seh ich«, sagte sie. »Lass wenigstens dein Handy eingeschaltet.«
Er hatte sich von der Firma bis zur U-Bahn am Hauptbahnhof gearbeitet. Es war vier Uhr nachmittags und trotz des Regens aus einem grauen Himmel kamen immer mehr Menschen raus und wollten möglichst schnell wieder irgendwo rein. Für viele war der langsam angeschobene Rollator ebenfalls eine Behinderung. Fallner rammte ihn mehrmals in Hinterteile, wenn er aus allen Richtungen bedrängt wurde.
An einem Kiosk im Untergeschoss kaufte er sich eine 0,2-Flasche Korn und nahm sofort einen Schluck, den er lange im Mund behielt.
Sein neues Ich übernahm die Führung wie automatisch, er musste nur dem Rollator folgen. Man fasste das Ding an und war im Bann des Geräts und ein anderer Mensch. Die einzige Gefahr, aus der Rolle zu fallen, war die Geschwindigkeit. Er musste sich darauf konzentrieren, nicht in sein normales Schritttempo zu verfallen. Gebeugt zu gehen war kein Problem, denn es ging nicht anders.
Die Bahn war sehr voll, er sah keine Möglichkeit, sich in Sicherheit zu bringen. Der Rollator würde den Gebrechlichen hin und her schleudern, die Bremsen an den Handgriffen würden das nicht verhindern. Er überlegte, ob er einen Sturz hinlegen sollte (»Ich dachte, besoffene Penner dürfen nicht mehr in die U-Bahn?«). Was ein Problem werden könnte, wenn ihm jemand Sanitäter auf den Hals hetzte (»Wir rufen einen Arzt, keine Widerrede, zur Sicherheit, jetzt geht es Ihnen wieder gut und in zehn Minuten kippen Sie wieder um, das kann ich nicht verantworten, Sie werden schon nichts verpassen, ich warte mit Ihnen, das ist doch selbstverständlich«).
Eine elegante junge Frau winkte ihm zu und machte ihren Sitzplatz für ihn frei. Sie kam sogar zu ihm und hielt ihn mit beiden Händen am Oberarm fest. Er stotterte ein gerührtes »G-G-Gott schütze Sie, junge Frau«, und hauchte ihr seine Schnapsfahne ins Gesicht, aber sie blieb freundlich nah an ihm dran.
Der Mann rechts von Fallner, noch keine vierzig, Typ Angestellter (ziemlich sicher beim Ordnungsamt, meldete sein Bulleninstinkt) mit einem hellgrünen Büchlein in der Hand, rückte sofort von ihm weg, und er entschloss sich, eine Sprechprobe mit diesem Etepetete-Meister zu machen (der ziemlich sicher Alkohol am Rollator als Ordnungswidrigkeit eingestuft sehen wollte).
In harter Arbeit presste er Wort für Wort in seine Richtung: »Was liest du da, mein Sohn?«
Als er keine Reaktion bekam, rückte er an ihn ran und hielt ihm seine Brille nah ins Gesicht: »Das sieht mir nach Kafka aus, aber keine Angst, mein Sohn, ich verfolge dich nicht.«
Der Mann kippte seinen Oberkörper nach der anderen Seite, so weit von Fallner weg wie möglich: »Wie bitte?«
»Früher war ich Polizist, aber das glaubt mir heute ja niemand mehr.«
Der Idiot sah ihn einfach nur entgeistert an.
Fallner zog seine Flasche und hielt sie ihm hin und sagte: »Du darfst Kafka nicht so ernst nehmen, mein Sohn.«
Der Mann stand auf und ging davon. Wie konnte man solchen Leuten helfen?
Zurück auf der Erdoberfläche mit dem Gefühl, dass er mit dem Rollator nach drei Stationen im Untergrund (im Gedränge und auf Rolltreppen, deren Schwierigkeitsgrad er unterschätzt hatte) auf einem guten Weg war, was die Tarnung betraf, überquerte er dann die nächste Straße besonders langsam, um sich in eine Kampfsituation zu begeben. Er hatte die Mitte der ersten beiden Spuren der vierspurigen Straße erreicht, als die Autos grün bekamen, und er blieb so stehen, dass er eine Fahrtrichtung komplett blockierte.
Ein schwarzes Sport Utility Vehicle beschützte ihn, blieb so nah vor ihm stehen, dass er fast die Motorhaube küssen konnte. Die Maschine war so massiv, dass die kleinen Kisten hinter ihm Sprengstoff gebraucht hätten, um freie Bahn zu schaffen. Ein Hupkonzert fing an, das im Verbund mit den zischenden Reifen auf der nassen freien Gegenfahrbahn einen herzkranken Rollatorgänger umgehauen hätte. Heavy Metal Westfront 1918 Endphase Overdrive … Ausschaltung des gegnerischen Soldaten durch ihn komplett umgebendes Stahlgewitter … Der Soldat hat die Hände an den Kopf gepresst und ist zu keiner Bewegung fähig … Nur der schwarze Panzer vor ihm blieb ruhig.
Fallner konnte hinter der SUV-Frontscheibe nichts erkennen. Neben ihm gab der rote Kleinwagen Vollgas im Leerlauf, die Frau am Steuer tobte auf der Hupe herum, hatte die Schnauze voll und riss die Tür auf, eine Dreißigjährige mit kurzen schwarzen Haaren stürmte auf ihn zu, Unverständliches brüllend und mit bunter Freizeitkleidung alle Klischees der friedfertigen Ökofrau erfüllend. Ein Mann sprang aus dem SUV, sportlicher Fuffziger mit Militärfrisur und blauem Anzug alle Klischees des eiskalten Managers erfüllend, nahm ihn in Schutz und brüllte die Frau an, die er um viele Köpfe überragte und mit einer Hand aufs Dach ihres Spielzeugautos werfen konnte.
Fallner nutzte die Gelegenheit, weiter ins Gelände reinzugehen. Alle hatten wieder rot. Er war sich sicher, dass er sich eines Tages lieber erschießen würde, als mit einem Rollator in den Kampf zu ziehen. Ein starker Arm legte sich um seine Schultern. Der SUV-Manager gab ihm Begleitschutz, ließ sein eigenes Gerät einfach stehen. Wenn ihm einer drauffuhr, würde er eine Armee von Anwälten auf ihn hetzen.
»Keine Angst, ich bring Sie rüber«, sagte er. »Aber diese blöde Fickmaus hat natürlich recht, dass Sie hier nicht alleine die Straße überqueren sollten. Können Sie mich verstehen? Wissen Sie, wo Sie sind? Brauchen Sie einen Arzt?«
Auf der sicheren Seite angekommen, schob der Panzerfahrer ihm was in die Tasche und befahl ihm, für den Rückweg ein Taxi zu nehmen.
Fallner sah ihm nach, als er zu seinem Superjeep zurücklief. Ein guter Mensch! Aber auch ein Arsch, der sein Weltbild verwirrt hatte: Der Jeepkiller hatte ihm geholfen, die Ökofrau (die er Fickmaus nannte!), hatte ihn killen wollen. War das nicht verrückt?
Der verfluchte Rollator brachte alles durcheinander. Er musste die Höllenmaschine vorsichtig einsetzen. Und er sollte den Hunderter in seiner Tasche natürlich nicht sofort versaufen.
Er war ausgepumpt und wollte eigentlich genervt abbrechen, als er sich endlich dem Ziel näherte. Aber sie hatten ihn jahrelang trainiert, auf keinen Fall aus derartigen Gründen eine Aktion abzubrechen. Es gab nur zwei Entwicklungen, die eine Aktion beenden konnten: a) Das Ziel war ausgeschaltet, oder b) man selbst war vor die Hunde gegangen. Das hatten ihre Ausbilder nicht so deutlich gesagt, um keine Gesetze zu brechen, aber man musste dumpf und taub sein, wenn man’s nicht raushörte.
Jaqueline sagt, dass du immer alles furchtbar übertreiben musst, damit du gut dastehst, stimmt das? Pass lieber auf, dass ich dir nicht den Hals umdrehe.
Er hielt vor der Accessoires-Boutique des Griechen, um sich noch einem Test zu unterziehen. Steckte sich eine Zigarette in den Mund und schlug mit der Faust an die Tür.
Es war der Boxer, der nicht im Meer ertrunken war, der die Tür öffnete und zuerst einen Gruß an Gott äußerte.
Fallner deutete nur auf seine nicht angezündete Zigarette.
»Mann Feuer!«, rief der Boxer in den Laden.
Jorgos Stathakos tauchte neben ihm auf, musterte Mann und Rollator und sagte: »Kriegst du an Schnaps, komm rein, Opa, ist kalt, Mann, in deine Deutschland ist sogar in Herbst so scheißkalt wie in Winter, kein Wunder, dass ihr so durchgeknallt seid.«
Das war zu gefährlich, und Fallner machte nur N-n und zeigte auf die Zigarette.
»Aber fackel mir meinen Laden nicht ab, das bringt nicht, schlechte Versicherung, verstehst du?«
Er gab ihm Feuer, Fallner hielt den Kopf nach unten. »Der Laden ist klein, aber ich habe in der richtigen Zeit Programm umgestellt, früher Plattenladen, jetzt schöne Sachen, verstehst du? Altersvorsorge. Wie alt bist du, Kamerad? Ich denke, noch nicht so alt, du kannst wieder gesund sein, bleib dran, Mann.«
Fallner ging weiter, ehe er in Versuchung geriet, ihn zu fragen, was er mit diesem Unsinn meinte, oder sich sein Weltbild schon wieder verwirren zu lassen. Mit einem Rollator musste man mit allem rechnen: Dass man nächste Woche aufwachte und Rollatoren waren der neue Trend für kreative Twens, oder dass der Boxer ein islamistischer Attentäter war, der Grüß Gott sagte, oder dass der ehemalige Plattenhändler Millionär wurde, weil er sich auf Rollatoren mit vorgebautem Plattenspieler verlegte, oder dass er selbst sich in kurzer Zeit so an das Gehgerät gewöhnte, dass er ohne nicht mehr leben konnte.
»Nichts zu danken«, rief ihm Jorgos nach, und Fallner hob ein wenig die Hand, die ihn vielleicht verdächtig jung gemacht hatte. Er blieb stehen, als müsste er Luft holen. Hatte bemerkt, dass er zu schnell geworden war.
Das Problem war, dass es immer ein Detail gab, an das man nicht gedacht hatte. Und das größere Problem war, dass ein Testlauf nichts daran änderte.
Der Geruch in Aymen’s Imbiss & Delikatessen war überwältigend, es roch nach einem Zuhause, in dem man sich vor der ganzen Welt gut behütet fühlte, es roch nach dampfenden Töpfen und Frauen, die umrührten und wussten, was man essen musste, wenn man sich krank fühlte.
Es war warm, weil der Gemüseladen auch eine Küche war. Für die die Bezeichnung Restaurant viel zu groß gewesen wäre. An vier kleinen Holztischen waren Sitzplätze für nicht mehr als zehn Personen, die beim Essen einen guten Ausblick auf die Straße hatten, und drei weitere konnten sich an ein in Brusthöhe angebrachtes Brett neben der Tür stellen. An der linken Wand des schmalen, etwa zehn Meter langen Raums standen Kisten mit Gemüse und Obst auf und unter Blechgestellen. Als Raumteiler in der Mitte dienten schmale Holztische, die mit Flaschen, Dosen und Schalen vollgestellt waren und an einer kleinen Theke endeten, auf der eine bescheidene Kasse stand.
Fallner blieb vor der mittleren Tischreihe stehen, hatte kaum Platz für sich und den Rollator, beachtete die Leute nicht, die an den Tischen rechts saßen (registrierte nur, dass alle Tische besetzt waren), und startete seinen Rundgang an der Gemüsewand. Der Gang war exakt so bemessen, dass er mit seinem Wagen durchkam, den er zum ersten Mal auch als Nutzfahrzeug einsetzte, als er in den Drahtkorb eine Tomate legte. Ein Mann wie er aß nicht mehr viel (stellte er sich vor), er durfte nur in Kleinstmengen denken.
Zentimeter für Zentimeter schlich er sich vorwärts, musterte das Gemüse links und den hübschen Kleinkram auf den Tischen der Mittelreihe, Essig, Öl, Wein, Würste in Schalen, gefüllte Weinblätter in Dosen. Dabei konzentrierte er sich vor allem auf das, was in den Augenwinkeln zu erkennen war, und ermahnte sich selbst permanent, sich nicht aufzurichten und nichts und niemanden anzustarren.
Wenn er geradeaus weitersteuerte, würde er durch eine Tür gehen und auf einen Mann treffen, der an einem weißen Klapptisch saß und telefonierte. Dunkelgrauer Anzug, weißes Hemd, rote Wollmütze, etwa fünfzig, klein, breite Schultern, stattlicher Bauch. Er sprach sachlich ins Telefon, es klang nach einer Bestellung, Fallner erkannte die Sprache nicht. Der Mann sah ihm zu, wie er sich mühsam vorarbeitete, oder er sah die Tomate an, die von ihm geschoben wurde, das konnte er nicht genau erkennen.
Als er endlich ans Ende des Gangs kam, erhob sich die Frau hinter der Kasse und kam zu ihm. Er dachte zuerst, sie wollte ihn daran hindern, aus Versehen in das Büro weiterzugehen, in dem der Mann telefonierte, aber sie wollte ihm helfen. Sie war ebenso klein und rundlich, trug eine bunte Schürze über einem weißen Umhang, ein leuchtend blaues Kopftuch, Pantoffeln. Als sie ihre Hände auf den Rollatorkorb legte, sah er viele Ringe, sogar an jedem Daumen trug sie einen Ring.
Sie lächelte ihn an und sagte: »Sie setzen sich an Tisch, ich bringe alle Sachen, gut?«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte er, und sie lenkte ihn zu dem einzigen jetzt freien Tisch neben dem Kassenbereich, stützte ihn, als er sich auf den Stuhl setzte (und spürte, dass es für jeden, der einen Rollator benötigte, ein Kraftakt wäre).
»Meine Vater auch Rollator«, sagte sie.
»Ich muss mich etwas ausruhen«, sagte er und hätte fast seine bescheuerte Kappe abgenommen.
Er bestellte Kaffee und »irgendeinen« Kuchen und betonte, dass er Geld hatte. Eine Kaffeemaschine fing zu kreischen an. Als er den Kaffee bekam, waren alle Leute an den Tischen vor ihm gegangen, keine Minute später waren alle Tische wieder besetzt. Ein Mann von Mitte dreißig mit rot-braunen Haaren und auffallend dicken Koteletten nickte ihm freundlich zu.
»Ich bin aus Versehen zu weit gegangen«, erklärte Fallner der freundlichen Chefin. »Kenne mich hier nicht so gut aus.«
»Kein Problem, ausruhen«, sagte sie und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, als sich vor ihrer unmodernen Kasse eine dreiköpfige Schlange bildete. Die Stimmung hier war gemächlich, obwohl die Leute schnell einkauften oder schnell aßen und schnell wieder draußen waren: Deutsche Einkaufsmaßarbeit – anders als in den vielen Gemüseläden zwei U-Bahnstationen weiter in den Straßen am Bahnhof, in denen die Deutschen schon lange nicht mehr das Bild bestimmten.
Die Speisekarte stand handgeschrieben auf einem kleinen weißen Blatt. Von den vier Gerichten war eines durchgestrichen, und als die Frau wieder vorbeikam, strich sie das nächste aus, von jedem Blatt an jedem Tisch.
»Alle Töpfe bald leer«, sagte sie zu ihm im Vorbeigehen und blieb einen Moment stehen.
»Sie haben einen sehr schönen Laden«, sagte er. Und widerstand der Versuchung, nach dem Mann im Büro zu fragen und ihr tausend andere Fragen zu stellen, und nahm stattdessen die Frage, die ihr immer gestellt wurde. »Woher kommen Sie?«
»Irak«, sagte sie. »Aber Deutschland ist schon besser. Aber viel Arbeit.«
»Ich würde lieber arbeiten, aber es geht nicht mehr.«
»Sehr viel Miete, sehr schwierig. Stadt sehr teuer, das ist sehr großes Problem.«
Der Mann rief von hinten, und sie zog mit ein paar lauten Worten ab.
Fallner arbeitete sich vom Tisch hoch, um diese erste Phase zu beenden, und schob sich mit dem Rollator zur Kasse. Legte noch eine Plastikschale mit schwarzen Oliven und eine Tüte Nüsse in den Rollatorkorb neben die Tomate. Jetzt konnte er sehen, dass der Mann an einem großen Blechtopf stand und mit einer Kelle zwei Teller füllte, die die Frau neuen Gästen servierte.
Als sie Fallner die Tür öffnete, kamen zwei Kinder schreiend reingelaufen, ein Junge und ein Mädchen, der Junge etwas kleiner, dreizehn oder vierzehn. Sie klammerten sich an die Mutter und bauten sich dann vor dem alten Mann mit dem Rollator auf, der ihnen den Weg zum Vater in der Küche versperrte. Glotzten ihn an wie ein Gespenst mit Fellkappe und dicker Brille, ehe sie schreiend umdrehten und in den anderen Gang rannten.
»Geht das, sicher Sie kommen nach Hause?«, sagte sie. »Sonst sage ich meinem Mann, er kann Sie fahren.«
»Danke, aber es geht schon, jetzt kenne ich den Weg, jetzt ist es leichter. Auf Wiedersehen.«
Es regnete, es war dunkel und kalt. Er hatte sie belogen, es war nicht leichter geworden. Und er hatte sich nur hundert Meter weiter durchgekämpft, als er von Scheinwerfern geblendet wurde und taumelte. Sie hatten ihn im Visier.
Theresa Becker stieg aus einem der kleineren SIS-Transporter, der mit einer riesigen Aufschrift für einen Hausmeister-Service bedruckt war, der wegen Überlastung nie einen neuen Kunden annehmen konnte.
»Komm ins Warme, Opa«, sagte sie, stützte ihn beim Einstieg und verstaute den Rollator im Laderaum.
Der Opa sagte nichts. Sie fuhr ein paar Straßen weiter und parkte in einer Einfahrt. Meldete sich im Mutterschiff und behauptete, alles sei in Ordnung. Nico wollte wissen, ob Fallner interessante Informationen bekommen hätte, aber der Opa blieb schweigsam.
»Du bist perfekt, Fallner, erschreckend perfekt«, sagte Theresa. »Hast du noch einen Schluck von dem Schnaps für mich? Wir hatten dich schon vor der U-Bahn, dann unten am Bahnsteig. Die Show an der Straßenkreuzung war der Hammer. Danach haben wir keine Kamera mehr gefunden, aber es war klar, wo ich dich abholen kann. Wie viel hat dir denn dieser nette SUV-Fahrer gegeben?«
Der Opa schüttelte nur den Kopf, als hätten sie ihn bei einem für sein Alter unpassenden Film erwischt.
»Was ist los? Du hast doch nicht im Ernst geglaubt, wir würden dich hier schutzlos rumlaufen lassen.«
»Es gibt nichts Interessantes.«
»Ich fahre seit einer Stunde um den Block. Ich bin illegal bewaffnet, weil ich den Ausweis vergessen habe. Ich bin hungrig. Ich habe ein paar Streicheleinheiten verdient.«
Fallner gab ihr die halb volle kleine Flasche und sagte: »Der Mann hing anscheinend die meiste Zeit am Telefon, im Raum hinter dem Verkaufsraum, Küche, Lager, aber ganz genau konnte ich’s nicht mitbekommen. Und nichts verstehen. Sie kommen aus dem Irak, sagt die Frau. Sieht so aus, als würde sie den Laden schmeißen. Und zwei Kinder, Junge und Mädchen, der Junge vielleicht dreizehn, das Mädchen etwas älter, islamische Sexbombe. Ich würde sagen, die beiden sind gut für uns.«
»Mehr als gut, wir sind im Team der Meinung, dass die lieben Kleinen unsere Eintrittskarte sein könnten. Nico hat sie schon auf Facebook.«
»Der Arsch hat wahrscheinlich inzwischen mehr rausgefunden als ich. Dieser Rolliarsch kann wahrscheinlich auch die Eintrittskarte in meiner Unterhose sehen, wenn er Lust hat.«
»Bei mir sollte er das wahrscheinlich besser nicht riskieren. Womit ich nicht sagen will, dass ich schmutzige Unterwäsche trage, so –«
»Er wird eines Tages die Firma übernehmen und uns alle durch Roboter ersetzen.«
»– kalt ist es noch nicht.«
»Damit ist nicht zu spaßen. Jedenfalls ist der Typ wahnsinnig gut, ich weiß es, das musst du mir nicht erklären, ohne ihn können wir einpacken.«
»Er müsste aber endlich rausfinden, von wem der Hinweis kommt. Das wäre wichtig.« Sie redete, als hätte sie sein Gespräch mit Landmann gehört. »Ich traue der Sache nicht, diese Belohnung taucht nirgendwo offiziell auf. Normal wäre, wenn sie den Typen voll an die Wand stellen, damit ihn alle Welt sieht.«
»Könnte bedeuten, dass es nicht die Amerikaner sind.«
»Das könnte es bedeuten, sehr richtig, und außerdem kann es etwa hundert andere Sachen bedeuten, von denen wir noch keine Ahnung haben. Der Chef sagt, die Information kommt von jemandem, der sie anonym bekommen hat.« Sie sah ihn an. »Und ich glaube dem Chef.«
Jetzt nichts Falsches sagen, sagte sich Fallner. Und sagte nichts dazu.
»Und unser Chef sagt, er hat absolutes Vertrauen zu seiner Quelle.«
Dazu fiel ihm etwas ein: »Mir kommen die Tränen.«
»Ich weiß, dass du ziemlich paranoid bist, aber damit kommen wir im Moment nicht weiter.«
Das war eine interessante Idee: Weiterkommen durch Paranoia. Sie war klasse, auf die Idee musste man erstmal kommen.
Findest du sie gut? Sie ist verdammt intelligent. Findest du sie deswegen gut? Auch. Und was noch? Sie schießt besser als jeder andere. Deswegen findest du sie gut? Auch. Und was noch? Sie kann fliegen.
»So paranoid wie ich wirst du sicher nie werden«, sagte er.
»Freut mich zu hören. Wir sollten herausfinden, ob wir uns darauf einlassen wollen … können … und am besten, bevor wir damit in die Luft fliegen.«
»Was hältst du von dem Vorschlag, dass Landmann ins Team kommt?«
»Habe ich heute geregelt, er ist im Team. Er wollte dich abholen, aber ich wollte mir auch mal den Laden ansehen. Er war ja schon mit dir hier.« Sie grinste. »Es reicht nicht immer, einfach nur sein Handy auszuschalten.«
»Danke für den Hinweis.«
Sie startete den Transporter und fuhr langsam auf Nebenstraßen Richtung Bahnhof. Der Verkehr war ruhiger geworden, die Straßen waren etwas weniger dicht als total dicht. Wer glaubte, einen Parkplatz gefunden zu haben, war auf eine Fata Morgana reingefallen.
Fallner spürte die Erschöpfung; er würde diese anstrengende Nummer mit dem Rollator nur wiederholen, wenn es nicht anders ging.
»Was machen wir denn jetzt mit dem angebrochenen Abend?«, sagte sie.
»Der Mann, der mir über die Straße geholfen hat, gab mir einen Hunderter. Wir könnten was essen, wenn du willst.«
»Wir hauen den ganzen Schein voll auf den Kopf«, sagte sie und haute aufs Lenkrad, als sollte ihm das gute Laune verpassen. »Wir trinken was, bis wir die Wahnsinnsidee haben.« Jetzt verpasste sie ihm einen Schlag mit dem Ellenbogen, und er dachte, dass sie vielleicht noch mehr zu erzählen hätte.
Fallner schaltete sein Handy ein, um bei Nadine nachzufragen, ob sie den Abend ohne ihn verbringen konnte. Sie war bei Jaqueline in guten Händen, sie würde mit ihr zu ihrer Freundin gehen (bei der sie immer ein Zimmer hatte) und dort übernachten. In dieser Villa mit Sportgeräten und Schwimmbecken im Keller. Er riet ihr, sich nicht daran zu gewöhnen und wünschte ihr viel Spaß.
»Was hast du vorhin damit gemeint«, sagte Theresa, »womit ist nicht zu spaßen?«
»Mit der Kälte«, sagte er. »Die Nächte werden jetzt kalt, das unterschätzt man. Also lieber dicke Unterwäsche.«
»Ich möchte lieber nicht draußen essen«, sagte sie.