Sie standen alle unter Beobachtung, wie alle anderen, im Betrieb und auf der Arbeit und beim Arbeitsamt und in den Straßen und in der Straßenbahn und wenn sie an der Bar das Glas zu viel bestellten und zu Hause, wenn sie in ein Gerät tippten, dass ihnen das verdammte Wetter zu schaffen machte und nicht das Glas zu viel gestern in dieser Bar und sie überlegten, ob es für die Rückenschmerzen besser wäre, die Sau endlich ordentlich rauszulassen, »eine Bombe könnte man schmeißen, ich sag’s dir«, und die echten Paranoiker unter ihnen waren sich sicher, dass es erst richtig losging mit Beobachtung, wenn sie sich in tiefster Dunkelheit unter der Bettdecke versteckt hatten, denn alles war möglich, und im letzten Dorf wurde man dabei beobachtet, wenn man sich fragte, ob man sich im Wald verkriechen sollte, um sich ein paar Minuten unbeobachtet zu fühlen.
Fallner schlenderte in Nico Kolls Büro, ohne Termin oder Plan, und setzte sich neben ihn, ohne etwas zu fragen, nur um herauszufinden, ob er mit einer Neuigkeit rüberkommen würde oder einer Bemerkung, die ihm neuen Stoff gab.
»Lass dich nicht stören«, sagte er zu dem jungen Mann im technisch hochgerüsteten Rollstuhl, »ich will nur die Zeit totschlagen.«
Nico hatte noch nicht darauf reagiert, als sich Landmann neben Fallner setzte und sagte: »Mir ist eingefallen, dass ich einen Kollegen hatte, der sich damals für den Ku-Klux-Klan interessierte. Hat eigentlich jeder irgendwie getan, als rauskam, dass es auch bei uns ein paar Klan-Bullen gibt. Der Punkt ist, dass ich von dem den Eindruck hatte, dass er sich nicht nur dafür interessiert, so wie du dich dafür interessierst, sondern dass er sich für ’nen Einstieg interessiert. An wen gehst du ran, wenn du reinkommen willst, verstehst du? Keine Ahnung, was aus dem geworden ist. Keine Ahnung, ob wir uns dafür interessieren sollten, aber könnte sein, wir interessieren uns schließlich für alles Mögliche.«
Fallner wusste nicht, mit welchem von den Kommentaren, die er dazu anbringen konnte, er rausrücken sollte. Es war seltsam, dass Landmann genau jetzt mit diesem Thema ankam, es war sogar unheimlich – und Nico hatte immer noch keinen Ton gesagt und an seinem Computer weitergemacht, als Theresa Becker reinkam und sich zu ihnen setzte.
»Wie sieht’s aus, Männer«, sagte sie, »kommen wir einen Schritt weiter oder gehen wir zwei zurück? Es stört mich nicht, dass ihr mich nicht zu eurem Meeting eingeladen habt, als Frau kennt man das, alles andere hätte ich als Annäherungsversuch interpretiert.«
Nico drehte sich endlich mit seiner Maschine herum und sagte: »Wir haben uns nicht zu einem Meeting verabredet. Diese beiden alten weißen Männer sitzen hier nur, weil sie nicht wissen, was sie tun sollen, und hoffen, dass ein junger weißer Mann ihrem Leben wieder einen Sinn gibt. Und jetzt noch mit einer jungen weißen Frau. Mehr Chancen im Leben werden sie nicht mehr kriegen.«
»Du hast den Punkt vergessen, dass du außerdem behindert bist, das ist ein dicker Pluspunkt«, sagte Theresa.
»Etwas Besseres als ein dämliches Meeting finde ich überall«, sagte Joseph Landmann.
»Die alten weißen Männer suchen die Nähe zum jungen weißen Mann und zur jungen weißen Frau, um auf dem neuesten Stand zu bleiben. Außerdem haben wir Angst um unseren Arbeitsplatz. Wenn wir nicht bereit sind, uns sogar von einem körperlich eingeschränkten Mitarbeiter fertigmachen zu lassen, werden wir in unserem Alter nichts mehr finden. Wir werden jedenfalls nicht in die Schulen gehen, um Verkehrsunterricht zu erteilen, unsere –«
»Jetzt mal langsam, hab ich richtig gehört? Du bezeichnest mich ebenfalls als junge Frau? Ist das nur –«
»– unsere einzige Chance ist noch, dass wir uns –«
»– höflich gemeint oder –«
»– mit unseren Kanonen –«
»– kann ich mich drauf verlassen?«
»– verkaufen«, sagte Fallner. »Roboter haben ihre Vorteile, aber wir auch, darauf kannst du dich verlassen.«
»Du bist immer so jung, wie du dich fühlst«, sagte Landmann.
Inzwischen waren alle, die zu diesem Zeitpunkt im Großraumbüro tätig waren, etwa fünfzehn Leute, auf die Versammlung im abgetrennten Glaskasten aufmerksam geworden und beobachteten sie. Denn wenn sich diese aus verschiedenen Gründen exponierten Mitarbeiter trafen, von denen die anderen dachten, dass sie sich für was Besseres hielten, womit sie nicht immer falsch lagen, musste man ein Auge drauf haben. Fallner fragte sich, wer von ihnen reinkommen würde, um irgendwas zu fragen, ob es ein Problem war, wenn bei der Spesenabrechnung ein Beleg fehlte zum Beispiel, oder ob man dieses neue Schnellfeuergewehr mal ausprobieren könnte, warum war das Ding eigentlich weggesperrt?
»Punkt eins«, sagte er, »weiß außer uns und dem Chef noch jemand Bescheid?«
»Wir haben dichtgehalten, aber du hast es deiner Hausmuschi erzählt«, sagte Theresa.
»Ich denke, das ist okay, weil sie wahrscheinlich unser bester Kontakt ist«, sagte Nico.
»Was meinst du damit«, sagte Fallner, »du hast Kontakt mit ihr?«
»Ich meine Folgendes: Um herauszufinden, ob an unserem Verdacht was dran ist, verminen wir sozusagen das Gelände um uns herum und warten ab, was passiert«, sagte Nico.
»Der Witz an den Dingern ist, dass man sie nicht sehen kann«, sagte Landmann.
»Du musst eine Ziege am Waldrand anbinden, damit der Wolf kommt«, sagte Fallner.
»Sie ist festgebunden, aber der Wolf kann nicht erkennen, dass sie festgebunden ist, und der Boden um sie herum ist vermint«, sagte Theresa.
»Wenn’s ihm klar wird, ist es zu spät.«
»Das ist das Problem. Der Wolf beobachtet die Ziege aus sicherer Entfernung und stellt sich sofort die Frage, warum bewegt sich die Ziege nicht? Weil sie festgebunden ist.«
»Die Ziege kann sich bewegen, aber ihr Radius ist begrenzt.«
»Sie kann sich vollkommen frei bewegen, der Witz ist, dass die Ziege überhaupt da ist. Die Ziege ist die Falle, ob sie sich bewegt, ist egal.«
»Das heißt, dass sie normalerweise nicht da ist, und deshalb wird sich der Wolf sagen, wieso taucht plötzlich in dieser Scheißgegend eine Ziege auf, da stimmt doch was nicht.«
»Wir sollten den Wolf nicht überschätzen, er ist intelligent, aber er hat auch seine Fehler. Er wird die Ziege eine Weile beobachten, aber er ist auch geil auf sie, irgendwann ist Schluss mit Abwarten und er will sie sich schnappen.«
»Aber wer oder was ist unsere Ziege?«
»Wir werden unsere Ziege finden, es muss nicht alles an einem Tag passieren.«
»Die Ziege, die sie uns servieren, ist auch die Ziege, die wir ihnen präsentieren.«
»Versteh ich nicht.«
»Du meinst, sie haben eine Ziege für uns festgebunden? Auf die Idee bin ich noch nicht gekommen. Angenommen, das stimmt, dann stecken wir in einer völlig anderen Situation.«
»Tun wir nicht.«
»Dann müssten wir erstmal rausfinden, ob sie da ’ne Ziege für uns hingestellt haben. Im Moment ist das nur eine These, wir haben keine Ahnung, ob es wirklich so ist, oder weißt du mehr als wir?«
»Tu ich nicht.«
»Wenn es tatsächlich so ist, dass wir’s mit einer Ziege zu tun haben, dann ist die Frage, worum’s dabei geht.«
»Der Typ ist die Ziege, das ist doch klar.«
»Er ist nicht die Ziege. Das würde bedeuten, sie haben ihn installiert, aber der wurde nicht installiert.«
»Das würde es nicht bedeuten.«
»Dann ist die Frage, wie sieht die Falle aus?«
»Und zweitens, warum sollen wir in die Falle gehen? Und warum sollen wir in die Falle gehen?«
»Der Wolf soll in die Falle gehen, weil er den Leuten schon so oft geschadet hat, und jetzt reicht es ihnen, sie wollen ihn endlich abschießen.«
»Wir haben schon vielen Leuten geschadet, das ist richtig.«
»Sie opfern eine Ziege, um den Wolf zu kriegen.«
»Aber ich wüsste nicht, wer die Eier hätte, uns vom Tisch zu fegen, besser gesagt, wer die Möglichkeit dazu hätte.«
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Ganz neuer Aspekt, etwas wird geopfert, was heißt das für uns? Und ist das Opfer für die bedeutend, ist es vielleicht alles, was sie haben? Oder glauben sie, das Opfer ist bedeutend für uns, aber für sie ist es nur Kleinkram?«
»Zuvor sollte eine viel wichtigere Frage geklärt werden: Sind wir die Ziege, die geopfert wird, oder der Wolf, der abgeschossen wird?«
»Ist doch egal, am Ende sind beide tot. Ich verrate euch was. Die Frage ist doch, wer profitiert davon? Wer kassiert am Ende sowohl das Fleisch von der Ziege als auch das Fleisch vom Wolf?«
»Das hast du dir damals in dein kleines Polizeischulheft notiert und rot eingerahmt. Folge immer der Spur des Geldes!«
»Habe ich, aber grün eingerahmt.«
»Wir können nicht mit tausend Vermutungen arbeiten. Ich gehe davon aus, dass wir weder die Ziege sind noch dass man eine Ziege für uns aufstellt.«
»Wir bekommen eine Information, die angeblich nur wir bekommen. Das könnte die Ziege sein, ist doch logisch, denn wir gehen auf die Ziege los, weil jemand behauptet, wir könnten damit zwei Millionen einsacken. Dass wir selbst die Ziege sein könnten, kann ich nicht erkennen.«
»Das würde bedeuten, dass eine Ziege auf die Ziege losgeht.«
»Das ist totaler Blödsinn. Die Frage ist, ob wir in eine Falle gehen, wenn wir uns den Typen schnappen.«
»Genau darüber diskutieren wir.«
»Ich glaube, wir machen es viel zu kompliziert. Ich glaube, Landmann hat recht, solange wir keine Beweise haben, sollten wir nicht wahnsinnig kompliziertes Zeug vermuten, das können –«
»Das ist Unsinn, wir müssen –«
»Lass sie doch mal ausreden.«
»Ich durfte in meinem ganzen Leben nie ausreden und aus mir ist auch was geworden.«
»Mir kommen gleich die Tränen.«
»Wenn ich von irgendwo da draußen die Fäden ziehen würde – ich habe die Ziege festgebunden, damit der Wolf kommt, also was wäre mein Ziel bei der Sache? a) Dass sich der Wolf die Ziege schnappt, und b) dass ich mir die zwei Millionen schnappe, die der Wolf bekommen sollte.«
»Klingt gut, aber ist zu einfach. Das bescheuerte Ziegenbeispiel passt einfach nicht. Ich glaube, dass es vor allem um den Arsch geht und weniger um das Geld.«
»Es geht um den Arsch und das Geld. Warum soll das eine das andere ausschließen?«
»Jemand will den Arsch ausschalten, aber er kann’s selber nicht machen, denn wenn es rauskommt, haben sie eine Arschkarte so groß wie Afghanistan.«
»Weil sie mit dem Typen vor Gericht nie durchkommen würden.«
»Ich weiß nicht, wenn es sein muss, kommen sie doch immer durch.«
»Damit behauptet ihr zu wissen, wer sie sind, und das wisst ihr nicht. Und mein großer Bruder behauptet, dass ihm seine Kontaktperson, die er uns nicht nennen kann, ihren Kontakt nicht genannt hat, und er da nichts tun kann – ihr wisst, was das heißt.«
»Der junge weiße Mann verschafft uns diese Kontaktperson und dann bitten wir um einen Termin.«
»Die Kurzformel lautet Himmelfahrtskommando.«
»Wir müssen bedenken, dass er angeblich ausgeliefert werden soll. Dann sieht die Sache nämlich wieder etwas anders aus.«
»Nichts passt zusammen, aber irgendwas ist dran.«
»Ich fasse mal zusammen: Wir sollten die Finger davon lassen.«
Die Sache fiel wie ein Kartenhaus zusammen, und alle schwiegen und dachten nach. Ein zerfallenes Kartenhaus konnte man wieder aufbauen.
»Ich gebe dir recht. Aber wenn ich ehrlich bin, ich würde gern wissen, ob wir auf dem Holzweg sind.«
»Und außerdem würde ich gern wissen, ob uns da jemand verarschen will, und ich möchte mich auf die Art nicht verarschen lassen.«
»Auf welche Art lässt du dich denn gerne verarschen?«
»Ich fasse fürs Protokoll zusammen: Wir sind einen entscheidenden Schritt weitergekommen.«
»Auf jeden Fall, wir haben uns bis zum Arsch raufgearbeitet.«
»Du meinst, wir sind am Arsch und sollten uns von dieser Position aus auf den Weg zur Ziege machen?«
»Genauso ist es, und ich werde heute Nacht mit meinem fetten Arsch wackeln und von dieser verdammten Ziege träumen.«
»Du bist die Ziege und siehst, wie der Wolf kommt. Und erst jetzt wird dir klar, dass sie dich angebunden haben, du zerrst und zerrst und kommst nicht vom Fleck.«
»Obwohl sie uns immer gesagt haben, dass wir in einem freien Land leben, freiheitlich-demokratische Grundordnung.«
»Du kennst Artikel 1 Grundgesetz?«
»Du solltest nicht immer alles in den Dreck ziehen.«
»Weil sonst der Wolf kommt.«
»Achtung, da kommt der Wolf.«
Es war Fallner der Chef, und er öffnete die Tür, ohne anzuklopfen.
»Hör mir bloß auf«, sagte Landmann, »ihr habt ja keine Ahnung, die deutsche Nationalmannschaft ist doch schon lange nicht mehr das, was sie mal war, das ist –«
»Es gibt Ärger«, sagte der Chef.
»Ganz meine Meinung«, sagte Landmann.