Sie fuhren in der schwarzen Limousine des Chefs, der selbst am Steuer saß. Der Spätnachmittag war schon gefährlich nah am frühen Abend und der Innenstadtstau fing an, sich zu einer scheinbar nie wieder durchdringlichen Masse zu verdichten – wer jetzt hier war, sollte den Schein abgeben müssen, weil er den Beweis lieferte, nicht mehr zurechnungsfähig zu sein. Um sich seine schlauen Hörbücher in Ruhe reinzuziehen, musste man nicht im Auto sitzen. Aber das hatte ihnen noch nie jemand erklärt.
Fallner konnte den Stadtstraßenverkehr nicht ausstehen, außer in tiefster Nacht, und es machte ihm keinen Spaß, in einer Blechzelle zu hocken, außer auf ausgestorbenen Landstraßen.
Sein Bruder tobte auf eine Art durch die Blechberge, permanent zwischen Vollgas und Vollbremsung, dass alle in ihren Blechkisten denken mussten, die Stadt wäre in Gefahr, die Nation, der ganze Planet, und wenn dieses schwarze Monster mit den dunklen Scheiben nicht rechtzeitig ans Ziel kam, konnten sie alle einpacken – wer jetzt keine Angst bekam, hatte die Sensibilität eines Roboters. Das blaue Licht auf dem Dach und das kreischende Signal trieb die Stauopfer auseinander, und sie rasten über Kreuzungen, auf denen die Bewegungen in einem chaotischen Bild einzufrieren schienen – ein Horrorfilm, eine Invasion, ein Blitzkrieg –, mindestens eine gefährliche Gewaltfahrt, bei der selbst Landmann den Mund nicht mehr aufbrachte.
Fallner wollte zu seinem Bruder sagen, dass er’s vielleicht nicht so übertreiben sollte, hielt aber ebenfalls die Klappe und passte auf, dass ihnen von der rechten Seite nichts in die Quere kam und dass er nicht das Navigationsgerät, das er außerdem im Auge behalten musste, vollkotzte, falls er plötzlich kotzen musste, was er seit Minuten glaubte, sofort tun zu müssen, und nur die mitten auf der Straße im Schock erstarrte Frau mit dem Kinderwagen, die er jede Sekunde erwartete, hielt ihn davon ab, denn es war klar, dass sie in dem Moment auftauchen würde, in dem er kotzen musste und nicht mehr aufpassen konnte.
Er erinnerte sich blitzlichtartig an zwei oder drei solcher Höllenfahrten, die er jedoch weniger intensiv wahrgenommen hatte. Er war ängstlicher geworden, seit er kein Polizist mehr war. Eine Frage der Gewöhnung. Und er hatte eben – wie die beiden anderen Idioten in dieser Killermaschine – keinen Staat mehr hinter sich, der ihm bei fast jedem fahrlässig selbstverschuldeten Desaster den Rücken stärken würde. Wenn sie jetzt einen Desasterunfall bauten und eine Kleinfamilie zerlegten, würde sie dieses bescheuerte illegale Blaulicht nicht raushauen, sondern noch tiefer reinreiten.
Als er einen Blick zu seinem Bruder riskierte, konnte er’s nicht fassen – dieser Durchgeknallte war ziemlich gelassen. Als würde er im nächsten Moment seine irre Konzentration mit einem Lächeln garnieren und ihm zuzwinkern und den verstummten Landmann auf der Rückbank mit einem lustigen Spruch aufmuntern. Es schien ihm Spaß zu machen. Weil er endlich mal wieder rauskam. Ihnen zeigen konnte, dass er immer noch was draufhatte und was der neue Schlitten draufhatte, wenn man bereit war, es aus ihm rauszuholen.
In diesem Moment war Fallner, er konnte es nicht verhindern, so stolz auf seinen Bruder Hansen wie lange nicht, und er fühlte sich sofort etwas besser. Dieser Irre verhielt sich wie ein Wahnsinniger, aber er schien es im Griff zu haben.
»Halt mal an, ich muss pissen«, sagte Fallner.
Hansen stieß einen Schrei aus und grinste, und Fallner sah, dass auch er in diesem Moment auf seinen kleinen Bruder stolz war – Mann, so leicht konnte ihnen niemand irgendwas, da mussten die schon viel früher aufstehen, wenn sie am Horizont noch einen Schimmer von ihren Rücklichtern sehen wollten.
Nur Landmann blieb schweigsam. Er hatte sich seinen Hut, auf den angeblich alle wirklich interessanten Frauen abfuhren, so tief ins Gesicht gezogen, als würde er schlafen. Aber er schlief nicht. Er wollte der Frau mit dem Kinderwagen nicht in die Augen sehen.
»Eine Minute«, schrie Hansen, »nur noch eine kleine Minute und du kannst sie alle anpissen!«
Und dann brüllten sie beide, um sich stärker zu machen, und dann trat Hansen voll auf die Bremse, um einen Streifenwagen nicht zu rammen, und riss das Steuer herum und konnte gerade noch ausweichen und vorbei- und durchkommen und gab dann sofort wieder mehr Stoff, ehe diese echten Bullen auf die Idee kamen, dass echte Bullen nicht in diesem Auto saßen, weil sie es mitbekommen hätten, wenn echte Bullen in diesem Auto unterwegs wären und offensichtlich ohne Rücksicht auf Verluste.
In der Regel bekamen es alle mit, die im Dienst waren, wenn die Stadt in Lebensgefahr war und schnelle Autos mit Vollgas durch Blechberge geschossen werden mussten.
Eine ewig lange Minute später hatte Hansen sein Blaulicht vom Dach geholt und rollte geräuschlos auf den Schulhof. Der Eindruck, den das schwarze Monster machte, wie es vorsichtig, aber unaufhaltsam und respektlos und das Gesetz missachtend die Teenagermasse zerteilte, war böse genug.
Sie starrten sie an wie ein Ufo, und sie ahnten, dass es auch eine Vorbereitung auf den Rest ihres Lebens war: Sie wollten wissen, wer in der teuren Batman-Schleuder saß, aber sie konnten nichts erkennen.
Es war die Aufmerksamkeit, die der Chef geplant hatte.
Sie waren hier, um das zu tun, was sie am besten konnten: den Eindruck erwecken, dass sie eine Menge Ärger mitgebracht hatten. Und in diesem Sonderfall mussten sie klarstellen, dass sie weder für Teenager noch für Mütter freundliche Gefühle hatten, im Gegenteil, sie sollten alle ihre Mütter ficken oder sich selbst.
Fallner der Chef steuerte das schwarze Schiff bis ins Zentrum des Geschehens. Sie blieben eine halbe Minute sitzen, um sich die Situation anzusehen. Es war nicht kompliziert.
Zwei uniformierte Polizisten (eine junge Frau und ein Mann, der schon an seine Pension dachte) standen bei Nadine, die den Auflauf verursacht hatte, Jaqueline, die zuerst davon informiert worden war, dem Jungen, den Nadine verprügelt hatte, seiner Mutter, die das nicht gut fand, und einer Frau, die sowas in ihrer Schule nicht dulden wollte. Der heikle Punkt an der Sache war, dass sich die Polizisten nicht gut dabei fühlten, vielleicht sogar Angst hatten, und das zu Recht. Denn die Masse von etwa hundert Teenagern, die dieses Zentrum belagerte und bedrängte, gab offensichtlich nicht viel auf das Gelaber von den Staatsknechten, und ihre Stimmung war deutlich zu erkennen, Partystimmung, und wie so viele Partys wurde auch diese erst richtig gut, wenn die Bullen antanzten – die diese Entwicklung nicht verhindert und vermutlich deshalb noch keine Verstärkung angefordert hatten, weil sie befürchteten, dass es genau deshalb dann richtig losgehen würde. Partys an der Isar oder auf irgendeiner Wiese kontrollieren oder beenden, das war meistens kein großes Problem, aber diese Schulgeschichten konnten Polizisten nicht ausstehen – schlechte Karten, schlechte Presse, massive Proteste von sozial engagiertem Lehrpersonal.
»Ich glaub’s nicht«, sagte Landmann, »dieser Scheiß geht jetzt seit vierzig Minuten?«
»Schneller ging’s wirklich nicht«, sagte der Chef, »und ich kenne übrigens den Beamten, war einer meiner besten Männer.«
»Das seh ich«, sagte Fallner.
Sie stiegen aus, ohne sich abzusprechen, und verteilten sich. Hansen Fallner ging mit ausgebreiteten Armen auf seinen alten Polizeifreund zu, um ihn zu umarmen, und Landmann ging mit ausgebreiteten Armen nicht auf die Schwächsten, sondern auf eine Gruppe kräftiger Jungs zu, die sich ganz nah bei der Polizei aufgebaut hatten, und forderte sie auf, von den Beamten zurückzutreten, und er blieb mit dieser Aufforderung nicht vor ihnen stehen, sondern schob sie vor sich her wie ein Bulldozer, ein Typ mit einem komischen Hut und schlechter Laune, dem man zweifellos nicht dumm kommen durfte, und Fallner ging zu Nadine, legte ihr einen Arm um die Schultern, sagte »keine Angst«, sah Jaqueline an, die ihre Hand hielt und vor Wut kochte und sich beherrschte, wahrscheinlich seit einer halben Stunde, sie würde gleich explodieren und dieser Mutter eine reinhauen, deren Sohn von Nadine verprügelt worden war. Sie hatte nicht die Anweisungen von Fallner befolgt, sondern dem Jungen was auf die Nase gegeben und ein blaues Auge verpasst, eine Lektion, über die er ernsthaft nachzudenken schien. Während seine Mutter und die Direktorin jetzt die Umarmung von diesem Mann aus der Limousine und dem Polizisten beobachteten, und Fallner außerdem beobachtete, dass die Polizistin glücklich war, dass einer wie Landmann endlich da war und die am nächsten stehenden Teenager zurückdrängte; er ging im Kreis um die Hauptakteure herum und machte den Gaffern klar, dass er in jeden Arsch treten würde, der sich nicht sofort weiter nach hinten verpisste, und er stieß dabei genau solche Worte aus und herrschte ein Mädchen an, das zu ihm sagte, es sei ihr gutes Recht, genau hier zu stehen: »Vergiss dein Scheißrecht!«
Fallner erwartete den Zusatz, dass sie nicht die Scheißpolizei waren, die sich um so einen Blödsinn kümmern musste, aber er sagte es nicht.
»Mein ehemaliger Chef«, sagte der Polizist zur Direktorin.
»Wir waren zufällig in der Nähe bei einem Einsatz«, sagte Hansen Fallner, »ich bin der Onkel von dem Mädchen.«
Jemand hätte jetzt erwähnen sollen, dass sie keine Polizisten waren, wie es den Anschein hatte, aber niemand von denen, die es wussten, sagte was. Manchmal musste man fragen, um eine Erklärung zu bekommen.
»So geht das hier nicht«, sagte die Direktorin mit Blick auf Landmann.
»Nehmen Sie sie endlich mit, ich erstatte Anzeige!«, schrie die Mutter die Uniformierten an.
»Wie geht’s dir, was ist abgelaufen?«, sagte Fallner leise.
Nadine sagte nichts.
»Wieso seid ihr nicht in einem Büro?«
»Sie weigert sich, von hier wegzugehen«, sagte Jaqueline.
»Das war eine gute Idee«, sagte Fallner.
»Ja«, sagte Jaqueline, »aber jetzt müssen wir verschwinden, sonst schlage ich dieser blöden Kuh auch noch eine rein.«
Fallner nickte. Er ging auf den Jungen zu und sagte zur Direktorin: »Ist das der Schüler, der unser Mädchen seit Monaten gemobbt und sie immer wieder angegriffen hat? Und Sie haben sich so –«
»Das ist doch eine unglau –«, sagte die Mutter.
Er musste aufdrehen: »Sie hat sich gegen diesen Drecksack verteidigt, das ist alles«, sagte er laut genug für alle, »und Sie werden von meinem Anwalt hören. Und ihr miesen Idioten (er drehte sich im Kreis) habt ihr nicht geholfen, ihr blödes Dreckspack! Man sollte euch alle in den Knast schicken!«
Von weiter hinten kamen Beschimpfungen zurück. Sie stiegen in die schwarze Limousine, die langsam zurückrollte und dabei ein paar Tritte bekam. Die Beamten schienen die Sache ordentlich beenden zu wollen, was immer das sein sollte. Die Mutter umarmte ihren lieben geprügelten Jungen, und die Direktorin fragte sich, was zur Hölle gerade abgelaufen war.
»Der gute Mann da vorne ist mein Kollege Landmann«, sagte Fallner zu Nadine.
»War mir ein Vergnügen«, sagte Landmann.
Nadine sagte nichts.
»Mach dir keine Sorgen, Schätzchen, dir wird nichts passieren«, sagte ihr Onkel Hansen.
Nadine sagte nichts.
»Schneller ging’s leider nicht«, sagte Fallner, »um diese Zeit ist alles dicht.«
»Aber dein Onkel hat alles gegeben«, sagte Landmann, »er war wirklich bereit, dieses nette Auto für dich zu verschrotten. Ich schätze, wir werden uns ein Video davon ansehen können. Der Mann kann fahren wie der Teufel, hast du das gewusst?«
Nadine sagte nichts.
»Was kostet die Karre?«, sagte Jaqueline. »Zwei Millionen?«
Die Männer sagten nichts.
»Zwei Millionen blaue Augen«, sagte Jaqueline.
Nadine kicherte.