Es war die alte Geschichte, sie flogen (sinnlos Unsummen verballernd) zum Mond rauf und weiter bis weiß Gott wohin (wofür sich heute nur noch Multimillionäre mit einem Sprung in der Schüssel interessierten, die wenigstens ein einziges Mal mit ihrem Ich-habe-mir-ein-Ticket-zum-Mond-gekauft! auf die Frontseite einer Massenzeitung kommen wollten), aber sie (wer auch immer diese Leuchten waren) konnten nicht erforschen und erklären, warum die einen Menschen das Fahren mit dem Zug faszinierend und die anderen ekelhaft langweilig fanden.
Nicht, dass es eine Bedeutung gehabt hätte.
Nadine jedenfalls starrte fasziniert aus dem Fenster, ein Mädchen, das das Alpenvorland im Zugfenster interessanter fand als die Bilderwelten, die im Smartphone steckten. Fallner fand es bemerkenswert. Er war gerührt – sie war ihm zugeflogen wie ein Vogel, der sich irrtümlich durchs Fenster verflogen hatte, und jetzt konnte er sich nicht mehr vorstellen, dass sie eines Tages wieder rausfliegen würde.
Es war Zeit, endlich ein Versprechen einzulösen, und zugleich die Kleine aus ihrer Situation zu holen. Sie hatte in ihrem Leben schon mehr gelernt, als ihr die Schule beibringen würde, falls man das Fach Überleben dazuzählte. Sie hatte sich gegen ihren Feind und die Menge gestellt, ohne um Hilfe zu bitten. Eine Pause war wichtiger als die Pflicht.
Fallner meldete sich in der Firma bei Theresa Becker telefonisch ab und stimmte ihr zu, dass sein Chefbruder einen Anfall bekommen würde, weil er natürlich sofort dachte, Fallner hätte über Nacht angefangen, über sein Comeback als Polizist nachzudenken. Er schrieb ihm nach dem Telefonat eine Textnachricht, dass er seine Meinung nicht geändert hatte.
Die Antwort war kurz: fy.
Das Mädchen hielt ihn an der Hand, als sie runter zum Bahnhof gingen.
»Muss ich dortbleiben?«, sagte sie.
Fallner blieb stehen: »Wie bitte? Wie kommst du auf die Idee, dass du dortbleiben musst? Du wolltest mal sehen, wo ich herkomme. Und meinen Vater. Ich hab’s versprochen, und das machen wir jetzt, zwei Schultage frei und ein Wochenende, es ist Urlaub, keine Abschiebung. Selbst wenn du bleiben möchtest, würde ich’s nicht erlauben.«
»Aber wenn’s mir dort besser gefällt?«
»Dann gehen wir sofort zum Arzt.«
»Was soll er denn machen?«
»Dir einen anderen Kopf aufsetzen.«
»Kann man das operieren?«
»Ich habe keinen Überblick mehr über die neuesten medizinischen Fortschritte, aber ich würde es nicht ausschließen.«
An einer Bushaltestelle in Bahnhofsnähe entdeckte er Bruno. Er erklärte ihr, dass es dieser Bruno war, von dem er erzählt hatte. Er trug sein Akkordeon auf dem Rücken und durchsuchte einen Abfallkorb nach Flaschen, für die er eine noch leere Plastiktasche dabei hatte. Wie die meisten Künstler war er auch Sammler. Und die Arbeit ging nie aus.
Sein Vater saß vor dem Fernseher, als sie am frühen Abend das Wohnzimmer betraten. Der Sohn hatte ihn nicht über den Besuch informiert, und er beachtete die beiden nicht, die er auch mit Anmeldung nicht beachtet hätte. Fallner nuschelte einen Gruß und bekam keine Antwort. Alles wie immer. Der Alte war eben dement. Angeblich. Fallner traute dieser Diagnose jedoch nicht, denn er schien manchmal plötzlich doch wieder einige Tassen im Schrank zu haben, als könnte er es an- und abschalten; das war unvorhersehbar. Für Fallner ein Zeichen dieser Bösartigkeit, mit der er und sein Bruder aufgewachsen waren. Die Mutter war seit fast vierzig Jahren tot, und seitdem hatte der Sack vor dem Fernseher niemanden mehr gehabt, den er verprügeln und fertigmachen konnte. Auf die Idee, sich endlich selbst fertigzumachen, wollte er nicht kommen.
Nadine war gewarnt worden, kein freundliches Wort von ihm zu erwarten. Sie ließ sich nicht abschrecken, mit bösartigen Menschen kannte sie sich aus. Dass Fallner und sie mit ihren Elternresten in einer Art Kriegszustand waren, war für sie ein Zeichen ihrer besonderen Verbundenheit.
Sie stellte sich vor den alten Mann, packte seine Hand und sagte ihm, wer sie war. Ehe er sie beiseiteschieben wollte, weil sie die Sicht auf den Bildschirm versperrte. Er war zu schwach.
»Das macht mir nichts aus«, sagte sie zu ihm, »das kenne ich schon von meiner Mutter und ihren Freunden und dem Opa. Die Oma hat das nicht gemacht, die andere Oma kenn ich nicht. Und jetzt wohne ich bei deinem Sohn, er sagt, er ist mein Ersatzvater. Du kannst mein Ersatzopa sein, aber das musst du nicht. Ich komm schon klar, wir sind nur zu Besuch.« Hatte sie von Fallner gelernt, dass es manchmal gut war, Leute, die einen ignorierten, vollzuquatschen. »Lass dich nicht stören, wir gehen jetzt erstmal Flaschen sammeln und dann saufen wir uns wieder einen an.«
Damit gab sie ihm freie Sicht auf den Bildschirm und das Magazin, das Prominente in scheinbar alltäglichen Menschen-wie-du-und-ich-Situationen zeigte. Im Moment deutete ein grellblonder Mann um die vierzig mit gelben Streifen auf einem roten Hemd, der nach Schlagersänger aussah, auf die Straße und sagte: »Das macht doch keinen Sinn, dass das ’ne Einbahnstraße ist, das kann mir wirklich keiner erzählen, die verarschen uns doch mal wieder, die machen doch, was sie wollen.« Schlagersänger oder Philosoph möglicherweise, die Unterschiede wurden mit jedem Tag undeutlicher.
Wie immer fühlte sich der Sohn nicht gut in der alten Heimat und dem Heimathaus. Zu viele schlechte Geschichten hingen herum, und Gespenster flüsterten, dass er dieses Zimmer niemals verlassen hatte, der Rest seines Lebens war nur eine Fata Morgana, die sich genau jetzt wieder verflüchtigen würde.
Nadine sah es anders. Sie grinste, als sie sein altes Zimmer sah, in dem sich nicht viel verändert hatte. Ein tristes und lächerliches Museum der Siebzigerjahre, die in der tiefsten Provinz damals immer noch an die Fünfziger gekettet waren, als hätte man beim Klopfen an der Tür immer noch einen Kriegsheimkehrer erwartet, der beim Fußmarsch aus Stalingrad aufgehalten worden war.
Im Gegensatz zu seinem Bruder hatte Fallner nie einen lockeren Umgang damit hinbekommen, was laut Jaqueline daran lag, dass er keine eigene Familie gegründet hatte, die diese Erinnerungen kleiner werden ließ und irgendwann überlagerte.
»Meinst du, es ist ein Unterschied, ob man seinen Vater tötet oder jemanden, den man nicht kennt? Oder jemanden, der viele richtig schlimme Sachen angestellt hat?«
Wie ein Überfall kamen ihre Fragen, als hätte sie diesen mysteriösen Brief gelesen, den er vor inzwischen zwei Wochen zum angegebenen Datum mit den geforderten Worten in einem Online-Marktplatz beantwortet hatte, um sein Interesse zu signalisieren und genauere Informationen zu bekommen, die bisher nicht bei ihm eingetroffen waren, als hätte dieser Brief irgendwas mit diesem für ihn nach all den Jahren mysteriösen Ort zu tun, und er konnte sich nicht mal sicher sein, dass er nichts damit zu tun hatte, obwohl das extrem unwahrscheinlich war. Er hatte das anstrengende Gefühl, er würde sich die ganze Zeit nur noch im extrem Unwahrscheinlichen bewegen und sich fragen, ob er selbst oder die anderen einen psychischen Defekt hatten – und falls es Echsenwesen im Untergeschoss der Erde gibt, ob sie gut oder böse sind – unter diesem Haus lag ihre Brutstätte, daran konnte es keinen Zweifel geben – und kann man sie essen oder fällt man tot um, wenn man in ihre Augen blickt?
Sie schlief gut, weil er bei ihr blieb. Er schlief schlecht, weil er bei ihr bleiben musste und sowieso schlecht geschlafen hätte.
Sie hatte sich geweigert, allein in seinem Kinderzimmer zu schlafen, obwohl er nebenan im alten Zimmer seines Bruders schlafen würde. Also hatte er sich einen Sessel geholt und seine Beine ans Ende ihrer Beine aufs Bett gelegt. Um kurz vor Mitternacht war sie putzmunter und er todmüde.
Sie hatte sich in seinen alten Plattenspieler verliebt, eine orange Plastikkiste, die nicht aufgeben wollte. Sie konnte nicht glauben, dass er die Singles seiner Jugend hier zurückgelassen und dass sein Bruder seine Singles nie von ihm zurückgefordert hatte. Von anderen wusste er nicht, wie sie zu ihm gekommen waren. Michelle von den Beatles mit Girl auf der Rückseite hatte niemand von ihnen gekauft, und ihre Mutter, zu deren Alter es gepasst hätte, hatte sich für sowas nicht interessiert – soweit er sich erinnern konnte. Seine Erinnerungen an sie verschwammen immer mehr.
Nadine war von beiden Songs hingerissen und verfolgte die Platte wie ein Spektakel. Allein damit hatten sie eine Stunde verbracht, ehe er anfing zu protestieren. Diesen alten Mist hörte sie doch zu Hause auch nie! Er bestand auf Abwechslung.
I’ll keep on loving you von Princess gefiel ihr weniger, und warum war auf der Rückseite das Stück schon wieder, aber ohne Gesang, das war doch doof. Jetzt waren sie in der richtigen Zeit, er war siebzehn. Weil er noch eine von Princess hatte, After the Love has gone und wieder mit einer Senza-Voce-Version auf der Rückseite, verdächtigte sie ihn, nicht die Musik, sondern nur das sexy Aussehen von Princess habe ihn interessiert. Sowas würde sie niemals anziehen, sie bekam schon die Krätze vom Ansehen – in ihrem hautengen lila Ganzkörperdress und den abstehenden Haaren sah Princess aus wie eine Außerirdische.
»Möchtest du schwarze Haut haben?«
»Heute nicht mehr, aber es gab eine Zeit, da habe ich mir’s gewünscht. Weil ich so viele schwarze Musiker am meisten mochte. Sie waren so cool wie sonst niemand.«
Sie blätterte durch den Stapel und entschied sich für Hendrix’ Hey Joe mit All along the Watchtower auf der b-Seite und fand es seltsam, dass sein Bruder die viel besseren Singles gehabt hatte und sich heute nicht mehr für Musik interessierte. Das war Ansichtssache, und ein Indiz dafür, dass sein Bruder eben nicht die besseren gehabt hatte. Außerdem war Hendrix von der schönen Nachbarstochter gekommen, die sie morgen besuchen würden, Onkel Hansen hatte ihr die Single geklaut. Er war ein talentierter Klaumeister, ehe er auf die Schnapsidee mit der Polizei kam.
»Wo gehst’n hin mit der Kanone in der Hand?«, sang Hendrix.
Das war eine gute Frage.
Und noch eine: »Hast du sie manchmal rückwärts gespielt, um geheime Botschaften zu entdecken?«
»Wo hast du diesen Blödsinn her? Ich habe nur ein einziges Mal was entdeckt, da hat jemand gesagt, Nadine, du sollst jetzt mal schlafen, weil morgen auch noch ein Tag ist.«
»Ich glaube, das stimmt. Das ist kein Blödsinn, ich glaube, das gibt’s.«
Er war es, der langsam ins Traumland hinübertorkelte und nicht ankommen wollte. Und dann glaubte er, wieder Michelle zu hören. Und dann fragte ihn wieder jemand, was er denn vorhatte mit der Pistole in der Hand. Und er antwortete, ohne seine Antwort verstehen zu können.
Am nächsten Morgen gingen sie beide gleichzeitig an die Decke, als eine Kreissäge das Zimmer zu zersägen anfing. Es war zehn nach acht, und das grausame Kreischen kam durch das geöffnete Dachfenster. Für eine Frau, die sich vor allem mit Alkohol ernährte, fing die schöne Nachbarstochter früh zu arbeiten an.
Das waren die Regeln der alten Schule: Egal, was in der Nacht passiert ist, du erscheinst pünktlich zur nächsten Schicht, egal, ob mit einer Flasche im Hosensack oder einem Schlüpfer auf dem Kopf. Man hatte diese Regeln auf ein Brett geschrieben und es ihnen dann an den Kopf genagelt.
Die Siedlung am äußersten Stadtrand war unberechenbar. Es gab nicht nur Leute, die immer noch mit Holz heizten – und nicht schon wieder, weil es so ein hübscher Anblick war und viel ehrlicher als das Holzfeuer am Bildschirm –, sondern ihr Brennholz auch selbst zersägten. Oder Bretter, um einen Schuppen an den nächsten zu bauen. Der wie die anderen Schuppen aussah, wie eine Notunterkunft für Deserteure aus einem vergessenen Krieg. Im Winter saßen sie dick angezogen vor einem kleinen Ofen, der nur kleine Holzscheite fressen konnte und deshalb ständig gefüttert werden musste. Der Rauch wanderte durch verrostete Rohre nach draußen, neue Rohre waren zu teuer, alte lagen überall herum, wenn nicht in diesem Schuppen, dann im nächsten oder in dem, der an den Schuppen vom Nachbarn anschloss, in den man rüberkam, wenn man sich durch diesen Spalt zwängte …
Kam jemand von einer Behörde vorbei, konnte er natürlich keinen Soldaten und keinen brennenden Ofen entdecken. Und falls er auf der Suche nach einer Genehmigung war, konnte er sie in seinem eigenen Hinterausgang finden.
In der Küche nahm sich jeder eine Tasse Kaffee und dann machten sie sich auf den Weg. Der Vater saß auf der Veranda an der Hinterseite des Hauses, die nur mit einer verdreckten Plastikplane überdacht war. Er sah dieses Mädchen an, das ihn fragte, wie’s ihm ginge und ob sie vielleicht mal für ihn einkaufen sollten oder sonst was, und gab einen unverständlichen Laut von sich, der eher nach abhaun als nach bitte klang. Erst als Fallner sich eine Zigarette anzündete, zeigte er mehr Reaktion und bewegte die Arme so heftig wie er konnte, denn man wollte ihn wie üblich umbringen.
Alle brauchten etwas, das sie sehr wütend machte, und Zigaretten und Mädchen, die die Klappe nicht hielten, waren beliebte Feinde, auch für alte Männer, die nur noch Matsch in der Birne hatten.
Sie tauchten im angebauten Schuppen unter. Gingen vorsichtig durch ein staubiges Halbdunkel mit Gerümpel, an dem man sich leicht anschlagen konnte. Am Ende der Hauswand der nächste Verschlag, der von Sonnenstrahlen durchlöchert wurde, die etwas Licht auf Elektroteile und Autoreifen warfen. Dann nicht in die nächste undichte Bude nach links, wo es nach Benzin und Motoröl roch, sondern nach rechts, wo es immer noch nach Hühnerkacke stank und sie der immer wieder aufkreischenden Kreissäge näherkamen. Fallner glaubte, dass es sich für Nadine so anfühlen musste, wie es sich für die sechs Kinder damals angefühlt hatte, es war ein unübersichtliches Gelände, in dem man untertauchen konnte, wenn man untertauchen musste. Kein Lichtschalter nirgendwo und überall ein Versteck.
Hinter der nächsten Bretterwand, die mit einem Vorschlaghammer schnell flachgelegt wäre, fing die Schuppenkette an, die zum Nachbarhaus gehörte und die sich ebenfalls um das halbe Haus herumzog. Es gab eine Art Tür, die die Grenze markierte, und weil sie klemmte, trat Fallner dagegen. Sie fiel in einer dicken Staubwolke auf die andere Seite.
»Die war schon immer im Weg«, sagte er.
Und schon immer hatte es ihm im Nachbarland besser gefallen als im eigenen. Der Schuppen war eine Nummer besser und größer und sah viel freundlicher aus, ein Holzschuppen mit ordentlich aufgebeigtem Holz. Alles hier sah gut aus – die Frau, die am geöffneten Tor zum Hof an der Kreissäge arbeitete, trug massive Arbeitsschuhe und -handschuhe, eine Militärhose und weiter oben nicht mehr als ein Bikinioberteil und Ohrenschützer.
Nadine schlug ihm auf den Arm und grinste. Weil sie erkannte, warum diese ein paar Jahre ältere Johanna seine erste Liebe gewesen war, die ihn mit sechzehn aufgerissen hatte. Die ihm außerdem die Liebe zur Musik gezeigt hatte und wie man eine Pistole hielt, entsicherte und so abfeuerte, dass man das traf, was man treffen wollte.
Aber er hatte der Kleinen nicht alles erzählt. Und er war sich sicher, dass es ein paar Sachen gab, die nur diese Frau und er wussten. Selbst wenn er einkalkulierte, dass sie mehr quatschte als er, wenn sie betrunken war.
Sie schaltete jetzt die Säge aus, hatte sie bemerkt, obwohl sie nichts hören konnte, zog die Ohrenschützer vom Kopf und griff sich die noch fast volle Bierflasche aus dem Regal. Wischte sich mit der anderen Hand über den kleinen Bauch. Sie sah immer noch gut aus, weil sie nicht nur viel trank, sondern auch viel arbeitete und in Bewegung war.
»Ich hab schon gedacht, ihr wollt’s mich gar nicht besuchen«, sagte sie. Verhielt sich abwartend, aber Fallner umarmte sie sofort.
»Bei dem Kerl weiß man nie, wie er drauf ist, wenn er mal wieder in der alten Heimat aufkreuzt«, sagte sie zu Nadine und drückte ihr die Hand.
»Wie geht’s dir, Johanna«, sagte Fallner.
»Alles top«, sagte sie. »Hab euch schon gehört gestern Nacht, Hey Joe und Michelle bis zum Abwinken – die alten Zeiten, leck mich am Arsch, aber es war nicht schlecht. Ansonsten alles wie immer, man kommt ins Schwitzen beim Arbeiten.«
Ein verlegenes Schweigen kam angekrochen, gegen das ein paar neue Floskeln nicht viel ausrichteten. Sie deutete auf den Berg Holz in ihrem Hof und ließ die Säge wieder anlaufen.
Es war Abfallholz, hauptsächlich dicke verbogene Äste mit vielen Ästen und mehr oder weniger verrottete Bretter. Abfallholz war erheblich billiger und schwieriger zu sägen als sauber vorgeschnittene Meterstücke. Sie holte sich ein Teil aus dem Berg und ging damit zur Kreissäge, und nach einer Minute übernahm es Nadine, irgendwas aus dem Holzberg zu zerren und ihr zu übergeben, und Fallner fing an, das geschnittene Holz, das im Schuppen schon einen neuen Hügel bildete, an einer Bretterwand aufzustapeln. Sie bekamen Arbeitshandschuhe und Nadine zusätzlich Ohrenschützer, und als sie bald ebenfalls ihr Hemd auszog, gab ihr Johanna eine dreckige alte blaue Arbeitsjacke und brüllte »keine Widerrede!«, als sie ablehnen (und lieber auch wie eine sexy Arbeiterin aussehen) wollte.
Mittags saßen sie im Hof, aßen etwas und tranken Bier. Nadine bekam ein kleines Glas. Fallners Protest wurde weggewischt mit dem Hinweis, er sollte sich an seine eigene Jugend erinnern und keine großen Reden schwingen.
Es war kurz nach vier, als Johanna die Säge ausmachte und Fallner dachte, sie hätten es für heute endlich geschafft. Er drehte sich um und sah, dass das Gegenteil der Fall war.
»Guten Abend, die Damen«, sagte Landmann.
»Was ist passiert?«, sagte Fallner.
»Nichts. Ich dachte, ich besuch euch mal. Gefällt mir hier, würde ich jetzt auch gerne ein paar Tage bleiben.«
»Kein Problem«, sagte Fallner, »wir können dich gebrauchen.«
»Ich darf noch hierbleiben«, rief Nadine, »versprochen ist versprochen!«
»Natürlich kann sie hierbleiben«, sagte Johanna.
»Du hast es versprochen!«
»Schon gut«, sagte Fallner. Er holte ihr Telefon aus der Tasche und gab es ihr: »Du darfst es nicht benutzen. Es bleibt aus. Nur im absoluten Notfall, ist das klar?«
»Ich hab’s versprochen, Mann, ich bin kein kleines Kind mehr.«
»Was soll der Quatsch«, sagte Johanna, »du hast hier sowieso keine Verbindung.«
»Das ist nur so ein Spaß zwischen uns«, sagte Fallner.
»Abflug jetzt«, sagte Landmann.
»Ist das auch nur so ein Spaß?«, sagte Johanna.
»Kann man noch nicht genau sagen«, sagte Landmann, »aber es sieht gut aus.«
Im Losfahren legte er mit den Neuigkeiten los. Diese beiden irakischen Teenager hatten auf Facebook angefangen, sich mit jemandem auf Englisch zu schreiben. Was sie bisher nie getan hatten. Banalitäten wie the sun is shining and I hope you feel good oder we will go to holidays and make a lot of funny things.
Fallner winkte ab, solche Fehler machte dieser Typ nicht. Landmann erklärte ihm Nico Kolls andere Ansicht. Wer die Sozialmedien benutzte, machte Fehler, schon weil es per se ein Fehler war, falls man von Spezialisten wie ihm gejagt wurde. Man musste extrem viel Ahnung haben, um dem zu entgehen, und das hatten die wenigsten. Man musste extrem aufpassen, aber den meisten war es zu anstrengend, extrem aufzupassen. Das war nichts Neues, er predigte es allen Safety International Security-Angestellten immer wieder.
»Was diesen Bereich betrifft, müssen wir uns auf ihn verlassen«, sagte Landmann, »und das können wir auch.«
»Ihr könnt mich auch«, sagte Fallner.
Wegen dieses Unsinns wurde er aus seiner Freizeit rausgeholt, die sich nach dem schwierigen Beginn so gut entwickelt hatte.
»Du solltest mir dankbar sein, dass ich dich aus deinem Heimatknast befreie. Falls du’s noch nicht weißt: Heimat ist da, wo man sich aufhängt.«