Bei dieser angeblich außergewöhnlichen Begegnung handelte es sich um einen Rechtsanwalt, der im Flugzeug das Glück hatte, neben einer attraktiven Blondine zu sitzen. Der Rechtsanwalt will natürlich unbedingt mit ihr ins Gespräch kommen, aber sie blockt ihn ab mit dem Hinweis, dass sie müde ist und nur schlafen möchte. Wie alle Rechtsanwälte hasst auch dieser Rechtsanwalt Niederlagen und kann sich mit dieser Abfuhr nicht abfinden.
Weil ein Rechtsanwalt vorkam, dachte er sofort, dass sie ihm eigentlich keinen Witz, sondern die Geschichte dahinter erzählen wollte. Sie hatten die Polizei an der Backe gehabt, und jetzt kam der Rechtsanwalt. Und ihm fiel auf, dass sie ihm schon lange keinen Witz mehr erzählt hatte. Jaqueline stand auf Witze, genauer gesagt auf das Erzählen und die Wirkung, und als Blondine stand sie besonders auf Blondinenwitze, weil das den Effekt verdoppelte, gerade bei Leuten, die meinten, sie nicht ganz ernst nehmen zu müssen, weil sie wie eine Polizistin wirkte, die von ihren Vorgesetzten losgeschickt wurde, um Drogen zu kaufen, und nicht wie eine, die Pläne machte, um große Drogenunternehmen zu schließen.
»Wir hatten Besuch von zwei Uniformierten, glaubst du, das war Zufall?«, sagte er, und sie hielt ihm sofort den Mund zu, um ohne irgendeinen seiner Kommentare weitererzählen zu können.
»Wie’s der Zufall will, sagt der Rechtsanwalt zu der attraktiven Blondine, habe ich gerade das tollste Spiel aller Zeiten gelernt, ich schwöre, es ist saulustig und außerdem ganz leicht, Sie werden sich wegschmeißen. Aber dennoch beißt sie nicht an und will nur schlafen. Der Anwalt gibt natürlich nicht auf und flüstert ihr ins Ohr: Es geht so, ich stelle eine Frage, und wenn Sie die Antwort wissen, zahle ich Ihnen fünf Euro, und wenn Sie die Antwort nicht wissen, zahlen Sie mir fünf.
Lassen Sie mich bitte endlich in Ruhe, sagt die Blondine und legt sich zurück.
Der Rechtsanwalt gilt jedoch als Meister seines Fachs und kann sich einer Blondine nicht geschlagen geben. Passen Sie auf, sagt er, ich gebe Ihnen einen Bonus, weil Sie so attraktiv sind: Wenn Sie die Antwort nicht wissen, zahlen Sie fünf, aber wenn ich die Antwort nicht weiß, zahle ich Ihnen fünfhundert!
Jetzt ist die Blondine hellwach und will mit ihm das Spiel spielen. Endlich geht es also los, und der Rechtsanwalt stellt die erste Frage: Wie groß ist die Entfernung von der Erde zum Mond? Die Blondine greift sofort in die Tasche und gibt ihm wortlos fünf Euro. Und dabei entdeckt sie sein kleines Ku-Klux-Klan-Abzeichen am Anzug.«
»Was soll das denn?«, sagte Fallner, »das kommt doch in dem Witz nicht vor.«
»Ich wollte nur wissen, ob du mir zuhörst«, sagte Jaqueline.
»Also nehmen Sie’s nicht tragisch, sagt der Anwalt, das ist ja erst der Anfang, jetzt kommen Sie dran. Sie stellt ihm ihre Frage: Was geht den Berg mit drei Beinen rauf und kommt mit vier Beinen runter? Der Rechtsanwalt ist ratlos, er verbindet seinen Laptop mit dem Bordtelefon, schickt E-Mails an sein Büro und konsultiert alle Suchmaschinen im Internet.
Er kann’s nicht glauben, er findet nichts, das gibt’s doch nicht. Nach einer Stunde gibt er auf, weckt die Blondine und gibt ihr fünfhundert Euro. Die Blondine bedankt sich mit einem wunderschönen Blondinenschmollmundlächeln, und der immer noch von ihr hingerissene, aber auch frustrierte Rechtsanwalt sagt: Was ist denn jetzt die Antwort, wer geht denn mit drei Beinen auf den Berg und kommt mit vier runter? Da greift sie wieder in ihre Tasche und gibt ihm fünf Euro.«
Jaqueline stieß ihn in die Seite, und Fallner bemühte sich, irgendwie positiv zu reagieren.
»Sehr witzig, aber ganz schön vertrackt für ’nen Blondinenwitz«, sagte er. »Und haben sie dann geheiratet oder nicht?«
»Sie haben sich sofort auf der Bordtoilette die Ehe versprochen, und schon bald wurde sie zur viel beachteten Vorzeigeblondine der KKK-Sektion Süd, was zu einem signifikanten Zustrom alter, aber auch junger Männer führte.«
»Ist es das, was grade passiert?«
Sie sagte nichts, und sie sagten beide nichts mehr. Aber er legte seine Hand auf ihre. Es gab so viele Fragen, dass man sich Zeit lassen konnte. So viele Fragen, die Antworten aufwerfen würden, die zu vielen weiteren Fragen führen würden, sodass man sich sagen konnte, keine Panik, erstmal abwarten und Atem holen … Bloß nicht durchdrehen, in einer durchgedrehten Welt jetzt nicht das tun, was vielen Spaß machte, jetzt nicht durchdrehen.
Nur einschlafen sollten sie nicht. Wäre ein Nachteil, falls jemand die Tür eintrat.
Sie gingen mit einer Flasche Rotwein auf den Balkon. Vom nahen Bahngelände flimmerten weiße und rote Lichtpunkte, Güterzüge wurden verschoben und Waggons prallten mit stählernem Krach aufeinander. Viele der Zimmer in den umliegenden Blocks waren hell und in vielen waren Fernsehbilder zu erkennen. Unterschiedliche Sounds aus den Wohnungen ergänzten die krachenden Waggons. Autos waren im Hinterhof, der komplett von fünf- bis siebenstöckigen Häusern abgedichtet war, kaum zu hören. In einer Wohnung wurde laut gestritten, in einer anderen zu Punkrock laut gelacht.
Sie rauchten und tranken, und er wartete nervös ab, dass sie endlich berichtete. Sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte. Oder was sie verschweigen musste. Was auch immer sie zögern ließ.
»Kannst du dir vorstellen, dass unsere Zeit hier abläuft, wenn die alte Hexe stirbt?«, sagte Fallner. »Ich nicht. Ich überlege oft, wie wir das verhindern können, aber ich hatte noch keine gute Idee.« Er wartete, aber sie sagte nichts.
»Wir sollten was finden, womit sich dieser Sohn erpressen lässt. So einfach kommt er nicht davon, wenn er glaubt, er kann hier alles verkaufen. So einfach kann niemand unsere Familie bedrohen, das werde ich nicht zulassen.«
Sie holte ihr Handy raus. Er sollte endlich die Klappe halten und sich das Foto ansehen. Er kannte diesen netten Mann in Polizeiuniform von Mitte dreißig mit dicken Koteletten.
»Das ist einer von denen, die uns gestern besucht haben. Und dein neuer Freund? Soll das ein Witz sein?«
»Man kann mir viel vorwerfen«, sagte sie, »aber ich mache für Klan-Typen und andere Nazis nicht die Beine oder sonst was breit.«
»Ist er ein Einzelgänger oder hat er einen Verein gegründet?«
Sie holte einen Fünfer aus der Tasche und klatschte ihm den Schein an die Brust.