Bertls Eck war nicht weit weg von der Theresienwiese, und wenn es dort auf dem jährlichen Oktoberfest megamäßig abging, machte auch das Eck einen beachtlichen Reibach mit den Passanten, die früher oder später durch die Straße mussten, um auf irgendeine Landebahn zu kommen, an die sie sich nicht erinnern würden. Im Eck bekam jeder was zu trinken, wenn er nach dem Eintritt nicht sofort umfiel.
Jetzt war die jährliche Supergaudi grade wieder mal geschafft – aber in Bertls Eck war es dennoch so voll, dass Fallner einen Moment verblüfft stehen blieb. Sie hatten einen ruhigen Platz gesucht, nicht einen in einer verkehrten Welt.
Am Ende des schmalen Raums stand Bruno vor der strahlenden Jukebox neben der Klotür und gab ein Konzert. Deswegen waren die Leute nicht hier, aber weil sie hier waren, wollte sich der Bruno nicht lumpen lassen – auch die Gäste, die den Ausdruck noch nie gehört hatten, brauchten gelegentlich die Unterhaltung von einem Künstler, der ihnen so nah war, dass sie die Falten in seinem Gesicht zählen konnten oder die leeren Flaschen in der Tasche neben ihm, die er in den Stunden vor seinem Auftritt gesammelt hatte.
Die Rockerfreunde, mit denen Punk Armin hier war, passten auf, dass ihm niemand die Flaschen klaute. Die Touristen, die sich hierher verirrt hatten, passten auf, dass ihnen die Rocker nichts klauten. Und alle anderen passten auf, dass ihnen die Touristen keinen Zacken aus der Krone klauten. Alle passten auf, dass alle in Frieden und Freude und nostalgischer Besinnungslosigkeit dem Alkohol zusprachen, den der Teufel den Menschen genau deswegen gegeben hatte.
»So ein Tag, so wunderschön wie heute, so ein Tag, der sollte nie vergehn«, sang der Bruno.
Er schmetterte mit erhobenem Haupt und zog an seinem Akkordeon, als wär’s der letzte Tag. Er stand ein paar Umdrehungen neben seiner Kappe wie Daniel Johnston, aber sein Strahlen steckte alle an und ließ sie einstimmen in diesen Tag so wunderschön wie heute, hoch die Tassen, so jung war morgen niemand mehr, und eine Garantie, dass morgen auch noch ein Tag war, konnte niemand vorweisen.
Auch von den Stammgästen wusste kaum jemand, dass Bruno von Kind auf viel Zeit in Heimen, Anstalten, Einrichtungen, Heilanstalten, Irrenhäusern, Rehazentren, Geschlossenen, Wohngruppen, Krankenhäusern, Hospitälern, Therapiegruppen, Psychokliniken, Knästen, Gefängnissen und Justizvollzugsanstalten verbracht hatte, die ihn davon heilen wollten, traurige Lieder in traurigen Kneipen zu singen, ohne dass er zuvor einen Vertrag mit dem Manager gemacht hatte.
»Fuck this shit«, sagte Landmann.
Obwohl er mit seinem Hut und dem Bauch so aussah, als würde er dazugehören – ein Bürger, der seine Verbindung in die untere Schicht nicht kappen wollte und manchmal in sowas reinging, weil er es wieder spüren wollte, dieses Kilo Dreck, das auch er gefressen hatte und das einen für den Rest des Lebens prägte und manchmal auch beschützte.
Fallner entdeckte hinter der belagerten Theke etwas, das ihm viel besser gefiel. Sie hatten eine neue Bedienung. Es war in zwanzig Jahren die erste Frau, die hier arbeitete. Er kannte sie, hatte sie lang nicht gesehen und hatte sie vermisst, aber auch nicht gesucht.
Sie lächelte ihn an, und die Sache war die: Wenn man von Juliane Hallinger angelächelt wurde, hatte man den Eindruck, dass die Erde der beste Platz im All war.
Sie hatte ihm mal gestanden (mit so einer gewissen Melancholie), dass sie es wohl in ihrem Leben nicht schaffen würde, aus der Bahnhofsgegend wegzukommen; auch wenn die Drogen Geschichte waren; auch wenn das Ficktanzen an der Stange Geschichte war; auch wenn sie immer eine Sehnsucht verspürte, in einem anderen Land ein anderer Mensch zu sein. Jetzt war sie immerhin schon am Rand dieser Gegend, nicht mehr in Sicht- oder Rufweite des Bahnhofs. Wenn auch verbunden mit einem sozial-gastronomischen Abstieg gegenüber dem nah am Bahnhof gelegenen Café Lessing, in dem er sie zuletzt getroffen hatte und in das einige der hier Anwesenden spätabends nicht an der Security vorbei reinkommen würden.
Außerdem war die Hallinger, obwohl sie nur knapp über dreißig war, von einer alten Schule, die es eigentlich nur noch in entlegenen Dörfern gab, wo n0ch nicht in jeder Stube ganz klar war, ob die Ostzone inzwischen zum Westen gehörte, und deshalb brachte sie ihnen zwei Gläser Bier an den einzigen Tisch mit freien Plätzen neben der Tür, wo man den Bruno nicht sehen konnte, obwohl sie nichts bestellt hatten.
»Der Herr Fallner«, sagte sie, »ich hab schon gehört, dass Sie hier Stammgast sand. Aber ich möchte nicht Dirty Harry zu Ihnen sagen müssen, das ist dann doch mehr was für alte Männer.«
»Schön, dass Sie jetzt hier arbeiten, Frau Hallinger, das ist ein echter Lichtblick in dieser Dunkelkammer. Wie geht’s Ihnen? Was haben Sie getrieben? Und wie kommt’s, dass Sie jetzt hier sind?«
»Ich kann mich nicht beklagen«, sagte sie. »Man lebt halt. Und Sie leben im Haus gegenüber, hab ich gehört. Und haben jetzt ein Kind, das aber schon groß ist.«
»Man hört viel, wenn der Tag lang und die Nacht finster ist«, sagte Landmann.
»Das ist jetzt auch wieder wahr«, sagte sie. Reichte ihm zu seiner Überraschung die Hand. Und setzte noch einen drauf: »Ich mag Polizisten, damit Sie’s nur wissen.«
»Ex«, sagte er, »so viel Ordnung muss sein.«
»Mein ehemaliger Chef, der hat immer gesagt: Mit den Polizisten ist es wie mit den Nutten, einmal Nutte, immer Nutte, egal, was die Zukunft bringt. Und der kannte sich mit beiden gut aus. Das kann der Herr Fallner bezeugen.« Und mit einem Siegerlächeln: »Ich glaube, das stimmt, sonst hätte ich mir’s ja nicht gedacht, dass Sie bestimmt einer sand. Aber ich muss jetzt wieder.«
Sie nahmen tiefe Züge begleitet vom großen Gebrüll und Pfeifen für Bruno, und Landmann fand sie eine interessante Frau. In einem abgewrackten Lokal für ausgemusterte Seeleute ohne Rettungs- und Rentenanspruch. Was machte sie hier? Dieses Modell Amy Winehouse, die in einsamen Nächten eine Menge Stoff gegen die Dämonen der Depression brauchte – Mensch, warum mussten sie die grauenhaften Lieder eines Sängers anhören, der keinen Ton traf, wenn sie das leise Summen dieser Bedienung haben konnten? Warum war sie nicht die Empfangschefin in einem Edelrestaurant?
»Weil sie lieber hier ist, wo sie außergewöhnliche Männer wie dich trifft«, sagte Fallner. »Männer, die eine Knarre in der Tasche haben, aber ihr nicht auf den Hintern klatschen und komm-mal-her-Mädel rufen.«
»Bist du wahnsinnig, ich habe keine Knarre in der Tasche. Ich hatte früher sogar noch Kollegen, die Wumme gesagt haben, kannst du dir das vorstellen? Am besten gefällt mir immer noch Peacemaker, aber die deutsche Sprache ist eine arme Sau, es ist ein Skandal, dass darüber niemand redet.«
»Das war nur symbolisch gemeint. Immerhin hat sie gesehen, dass du ein Ex-Bulle bist.«
»Nur weil ich mit dir hier bin. Sonst wäre sie nie auf die Idee gekommen. Sie hätte mich für einen Vertreter für neue Biersorten gehalten, der davon träumt, ihr einmal im Leben auf den Hintern zu klatschen.«
Punk Armin setzte sich zu ihnen, und seine Begrüßung lautete: »Wir haben nichts getan, ich schwöre für mich und meine Jungs, wir sind nur aus Unterhaltungsgründen hier. Hat er Ihnen (er fixierte Landmann) auch erzählt, dass er Ex-Polizist ist? Sie sollten darauf nicht reinfallen, Herr Kommissar, das ist ein billiger Trick, mit dem er hier nicht durchkommt.«
»Ich benutze den gleichen Trick, ich bin bisher gut damit gefahren«, sagte Landmann. »Viele Ex-Bullen gehen dann zu den Rockern, wussten Sie das? Keine Ahnung, warum. Die strengen Regeln wahrscheinlich. Kann auch sein, dass viele Ex-Bullen V-Männer werden, aber davon habe ich noch weniger Ahnung, das kann ich beschwören.«
Fallner stellte die beiden vor. Zwei Männer kurz vor sechzig, die den anderen taxierten, weil sie in ihren Lebensläufen immer wieder auf diese Sorte getroffen waren. Wo standen sie jetzt und würden sich die alten Spielchen wiederholen?
»Wann kann ich in eurem Laden endlich was kaufen?«, sagte Armin. »Was habt ihr eigentlich im Angebot, das ist mir noch nicht klar, ich tippe mal auf Sicherheit.«
»Erzähl das aber noch nicht herum«, sagte Fallner.
Er hatte den Ex-Punk und Rockervereinsbuchhalter, als sie das Hinterzimmer des Griechen übernahmen, sofort instruiert, ihrem Vermieter nicht zu erzählen, wer sie waren. Weil Armin alle Beteiligten außer Landmann kannte und wusste, dass sie spezielle Gründe für diese Niederlassung haben mussten.
»Einmal das Sicherheitspaket schon ab 39,90 Euro pro Tag bitte, aber ich erwarte, dass da die Mehrwertsteuer enthalten ist und außerdem drei Monate Garantie und Rückgaberecht.«
»Der Mann hat schon für uns gearbeitet«, sagte Fallner zu Landmann, um seinem Ex-Punk-Rockerfreund zu signalisieren, dass Landmann Bescheid wusste.
»Ich würd’s echt mal versuchen«, sagte Armin, der allerdings nicht wusste, was genau sie da mit ihrem bescheuerten Ladenzimmer im Auge hatten. »In der Ecke wohnen inzwischen so viele Idioten, da geht sowas.«
Er machte eine große Geste über den ganzen Raum (wie ein Herrscher, der einem Gast am Fenster des dreißigsten Stockwerks sein Reich zeigte): »In ein paar Jahren ist von uns niemand mehr hier. Das Eck und das ganze Haus wird’s nicht mehr geben, und hier leben nur noch diese Arschlöcher, die jedem den Kopf abhacken, der behauptet, dass das letzte Hemd keine Taschen hat, die denken, das sind Fake News. Dieses neureiche Pack ist eine viel größere Gefahr für unsere Gesellschaft als irgendwelche Islamkiller, das sage ich euch, und diese schwachsinnige Theorie, dass der Moslem unsere Heimat besetzt, kommt nur von diesem reichen Pack, damit alle von ihnen abgelenkt sind.«
»Das sind aber ziemlich steile Thesen für einen tapferen Rocker«, sagte Landmann. »Sie sollten in die Politik gehen, das ist mein voller Ernst. Wir könnten aufpassen, dass Ihnen niemand den Kopf abhackt.«
»Ich bin nur ihr Berater und so ’ne Art Buchhalter.«
Landmann nickte lächelnd, und als es so aussah, als würde er es dabei belassen, sagte er: »Der Consigliere.«
»Den Ausdruck benutzen wir nicht, und der hat auch ’ne etwas andere Funktion, soweit ich weiß.«
»Die Jungs sind ganz in Ordnung«, sagte Fallner. Ohne die gewünschte Wirkung zu erzielen.
»Was hat eure Firma denn so im Angebot, ist vielleicht auch was für mich dabei?«, sagte Landmann.
»Meine Heimat ist das Meer, meine Freunde sind die Sterne«, sang der Bruno, »über Bali und Hawaii, und ich war auch in Shanghai …«
»Nur das Übliche«, sagte Armin. »Drogen, Damen und sichere Türen. Was hätten Sie denn gerne? Für seine Freunde gibt’s natürlich einen Sonderpreis.«
»Gut zu wissen – wieso eigentlich, weil er der Berater des Consigliere ist?«
»Man kann nie genug Berater haben.«
»An unseren Türen haben wir jedenfalls keinen Bedarf, soweit ich weiß.«
»Wenn Sie mehr wissen, sagen Sie mir einfach Bescheid«, sagte Armin, stand auf, klopfte auf den Tisch und ging wieder zu seinen Kollegen.
Fallner forderte Landmann auf, seine schlechte Laune endlich wieder abzubauen (er hatte hier schließlich einen Ruf zu verlieren), und das machte er, nachdem sich ihre Telefone mit ein paar Sekunden Abstand gemeldet hatten.
Sie verließen das Konzert, ohne zu bezahlen oder sich um die Zukunft der halb vollen Gläser auf dem Tisch zu kümmern. Als Fallner sich in der Tür umdrehte, sah er am Ende einer schmalen Schneise nicht das, was er sich erhofft hatte, sondern einen Mann, mit dem er nie gerechnet hätte, seinen alten Kumpel seit der Polizeischule Günter Telling. Er hatte ihn zuletzt vor vier Jahren in Berlin getroffen, er hatte ihm geholfen, als er psychisch am Ende war, nachdem er diesen Dealer erschossen hatte. Telling hatte damals Andeutungen gemacht, dass er auf einen Posten im Staatsschutz aufgestiegen war, ihm jedoch nicht genau erklärt, wen oder was er zu erledigen hatte. Fallners Eindruck, dass er in dubiosen Angelegenheiten unterwegs war, hatte sich dann verstärkt, als Jaqueline nichts mehr über den Polizeibeamten Telling herausfinden konnte.
Und jetzt stand er in der Kneipe, die er schon mit einem viel jüngeren Fallner besucht hatte, neben einem etwa Vierzigjährigen mit schwarzer Wollmütze und Parka, und unterhielt sich so intensiv mit ihm, dass er Fallner nicht mal bemerkt hätte, wenn außer ihnen niemand hier gewesen wäre … Du dumme Sau, dachte Fallner, für wie bescheuert hältst du mich?
Ein heftiger Wind war aufgekommen. Landmann musste zuerst seinen Hut verfolgen.
Was auch keine leichte Sache war.
Was auch mit Dreck zu tun hatte.
Was auch so aussah, als würde er es nicht schaffen.
Was auch nur gut ausging, weil eine Frau, die in einem Mülleimer nach Flaschen suchte, den fliegenden und rollenden Hut mit dem Fuß stoppte.