Das Ziel kam nicht raus auf die Straße, und die, die sich am meisten nach ihm sehnten, konnten deshalb nicht raus auf die Straße, um sich ihm zu nähern.
Fallner überlegte, wie diese Situation genannt wurde. Eine Pattsituation war es nicht – obwohl, wenn ihr Ziel wusste, dass sie da waren, dann war es eine Pattsituation. Wenn ihr Kunde wusste, dass sie da waren, fiel ihr Plan ins Wasser. Weil sie aber keine Ahnung hatten, was er wusste oder zu wissen glaubte, mussten sie ihren Plan nicht ins Wasser werfen. War das auch eine Pattsituation oder eine Zwickmühle? In jedem Fall war alles eine Fucking-Fuck-Situation, das waren die Fakten und leider keine abgefuckten Fake News, falls es jemanden interessiert hätte.
Fallner überlegte, wie ein Polizeikommando vorgehen würde. Unbemerkt vorrücken, eintreten, Familie rausholen, das Ziel fixieren. Kein schlechter Plan. Sie waren personell weniger gut ausgestattet, aber es sollte zu schaffen sein.
Mit einem Unterschied, sie könnten nicht reingehn und brüllen, sie wären die Polizei. Aber das war ein Moment, in dem einem sowieso niemand zuhörte. Wie auch sie dem Gesetz nicht zuhörten, das sie daran zu erinnern versuchte, dass sie da nicht reingehen könnten.
Wenn wir nur das tun, was uns erlaubt ist, dann können wir nicht viel tun, sagte Fallner zum Gesetz. Gib zu, dass ich recht habe.
Aber das Gesetz gab ihm kein Recht. Es hörte nicht zu, sagte nichts, er hörte nichts.
Sie waren ruhiger geworden. Vielleicht weil der Grieche kein Öl mehr ins Feuer schüttete und nach Hause gehen durfte, vielleicht weil sie nichts tun konnten, vielleicht weil der Chef anrücken würde, ehe die Mittagsglocken läuteten.
Landmann hatte sogar die Schuhe auf dem Schreibtisch vor dem Bildschirm und die Hände unter dem Hutrand im Nacken verschränkt, ohne auf die wachsende Asche vor seiner Nase zu achten, und Theresa war im Sessel neben dem Plattenspieler eingeschlafen, auf dessen ohne Platte sich drehenden Teller sie ihre Pistole gelegt hatte, die sich mit 33rpm drehte und deren Mündung dreiunddreißigmal pro Minute auf sie zeigte. Fallner wanderte auf dem Stadtplan durch die nächste Umgebung und hatte ohne Unterbrechung Nico im Ohr, der einige Kilometer weiter vor seinen Anlagen saß, die ihm sagten, wer von ihnen wo war und ob ihr Kunde aus der Tür fiel, was auch Landmann in derselben Sekunde sehen würde, wenn er seine Schuhe etwas beiseiteschob. Man wusste nicht, wie lange es keine Veränderung geben würde, den ganzen Tag möglicherweise, oder für den Rest ihres Lebens, aber um sicherzugehen, wollten sie die Verbindung nicht unterbrechen. Wenn sie auflegten und sich dann neu verbinden mussten, war in der Zwischenzeit die Telefongesellschaft in Konkurs gegangen, »ich schwör’s dir, Alter, wenn du wüsstest, was alles schon mal passiert ist, würdest du deine Wohnung nie wieder verlassen«, sagte Nico, und er antwortete, dass er nah dran war, seine Zukunft genau so zu gestalten.
Sie hatten geplant, sich mittags sozusagen normal zu verhalten. Normal bedeutete, dass ein bis drei von ihnen Aymen’s Imbiss & Delikatessen aufsuchten, sich setzten, was bestellten und nachbarschaftliche Worte fallenließen. Sie würde sich setzen und die Augen aufhalten – mehr Arbeit würde es für sie um die Uhrzeit dort nicht geben, und wenn es doch gegen jede Berechnung mehr zu tun geben sollte, würden sie die Arbeit verweigern und nur die Augen aufhalten. Denn der Laden war mittags zwei Stunden lang voll mit Menschen. Ihnen eine Vorstellung von dem zu geben, wozu sie fähig waren, war nicht geplant. Unter keinen Umständen. Selbst wenn ihr Kunde jetzt mitarbeiten musste und sie bediente und stolperte und ihnen heiße Bohnen auf den Kopf kippte und unterm Teller einen Revolver hatte.
Theresa und Landmann waren schon bereit loszugehen, als sie in wenigen Sekunden einen neuen Plan aufstellten. Es war nichts passiert, außer dass Aymen (von dem sie immer noch nicht wussten, ob er wusste, auf welchem Berufsfeld sich sein Cousin in den letzten Jahren ausgetobt hatte) am Hinterausgang stand, um eine Zigarette zu rauchen, und Fallner sofort sagte, er würde jetzt mit ihm eine rauchen. Keine Zeit für Diskussion. Die beiden anderen blieben im Büro und überwachten ihn.
Als er aus der Hintertür ging, waren auch alle anderen informiert. Im Imbiss hielten sich vier SIS-Kollegen auf, in der nächsten Umgebung weitere acht plus Fallners Bruderchef. Er ging spazieren um den Block. Dem Chef wurde jetzt mitgeteilt, er solle nicht in den Hinterhof gehen, um wie geplant die kleine Filiale seiner eigenen Sicherheitsfirma zu besuchen, sondern weiter um den Block. Als er an der Zufahrt zum Hinterhof vorbeikam, sah er ein paar Schritte lang, wie sein kleiner Bruder aus der Tür kam, ohne ihn zu bemerken, weil er nur nach unten auf seine Schachtel Zigaretten starrte, aus der er eine rauszuholen versuchte. Sah nicht so aus, als wäre er auch nur fähig, einen kleinen Hund aufzuhalten.
Fallner ging raus, in schwer benutzten Arbeitsklamotten, und starrte nur auf die Schachtel Zigaretten runter, aus der er mit dreckigen Händen eine rauszupulen versuchte. Kein Blick in die Umgebung – ein Mann, der sich nur um das kümmerte, was gerade wichtig war, eine Zigarette in die Finger bekommen und ein Kaffee bei den Nachbarn, wenn nur dieser verdammte Regen endlich mal weiterzog, oder roch es sogar schon nach Winter? Dafür war das Wetter doch noch viel zu schön, ein sommerlicher Herbst, fast mehr Endsommer als Oktober … »Ach, Sie rauchen auch grade, dieser ewige Regen, Herr Nachbar, haben Sie Feuer für mich?«
»Deutschland viel Regen«, sagte der irakische Geschäftsmann und gab ihm Feuer.
»Habe schon gehört, Sie haben Besuch von Ihrem Cousin«, sagte Fallner, »ich hatte grade Besuch von drei Cousins!« Er hob drei Finger und schüttelte den Kopf: »Drei!«
Aymen sagte nichts, und Fallner tat so, als würde er nicht auf eine Antwort warten.
»Sind aber seit gestern wieder weg, zum Glück, es war nur Stress, jeden Abend Party, jeden Tag soll ich mit ihnen das anschaun und dahin gehen, und hier wartet die Arbeit auf mich, aber was willst du machen, die Familie! Natürlich musst du dich um sie kümmern, man muss höflich sein, das ist klar, aber eine Woche ist echt zu viel, sie haben mich fertiggemacht. Wie lange bleibt Ihr Cousin, ich hoffe, Sie haben weniger Stress.«
»Kein Stress, er immer spielt mit Kinder, er ist gut, das ist kein Problem.«
»Genau, das war mein Problem, keine Kinder, deswegen musste ich alles allein machen. Aber ich habe mich auch gefreut, so ist es nicht, ich habe meine Cousins vier Jahre nicht gesehen, das ist auch nicht gut, weißt du, aber sie sind weit weg, der eine in Berlin, der andere in Rostock, und die Cousine ist in … Ich vergesse den Namen immer, kleine Stadt, aber auch so weit weg, die habe ich sogar fünf Jahre nicht gesehn.«
»Ich sieben Jahr nicht gesehn, ist länger.« Er holte sich noch eine Zigarette raus, also noch eine Chance, irgendwas von ihm zu erfahren.
»Ist länger, und ist aus Irak gekommen, ist weiter weg. Ich weiß nicht, ich ihn wieder sehen vielleicht eine Tage. Ist alles große Problem.«
»Es ist ein Problem, ich weiß. Deutsche Politik ist beschissen, wenn du auf der Flucht bist, viele Probleme, wenn du Schutz brauchst. Wir sind ein reiches Land, wir verkaufen an alle unsere Waffen, aber wenn dann die Leute deswegen abhauen müssen, ist unsere Tür geschlossen, es ist eine Schande.« Welche verdammte Brücke konnte er noch bauen, um Informationen rüberzuholen? »Aber ich kann gerne helfen, wenn du Fragen hast, auch deinem Cousin, ist doch klar.«
»Dankeschön, das ist sehr freundlich.«
»Was ist mit deinem Cousin, will er Asyl beantragen, oder macht er nur Urlaub?«
»Ist Besuch, vielleicht zurück, und überlegt er auch USA ob ist möglich.«
»Okay, dahin wollte ich früher auch, aber heute, ich weiß nicht, mein Freund, seit diesem Trump gefällt mir das nicht mehr so gut.«
»Trump scheiße, Trump er hasst Moslem, Deutschland auch Problem, aber schon Trump ist schlimmer, oh Mann!« Er machte die Handbewegung, mit der man Kindern Schläge auf den Hintern androhte. »Ich bringe dir Kaffee, das geht schneller, jetzt viele Leute in Geschäft.«
Er folgte ihm nicht. Sie hatten genug Leute im Laden. Die er allerdings nicht gut genug kannte, um zu wissen, wie sie sich verhielten, wenn sie in eine schwierige Situation kamen. Er war nur informiert, wie diese vier aussahen, nicht dass er sie im Fall des Falles für Sicherheitskräfte einer anderen Seite hielt, auch das war alles schon passiert. Er vertraute darauf, dass Nico die Richtigen reingeschickt hatte – er war nicht nervös, und er war immer noch nicht paranoid, was eine übermenschliche Leistung war (obwohl die Experten der Meinung waren, dass der Infizierte das selbst nicht beurteilen konnte, während andere Experten die Position vertraten, dass die meisten Experten weitaus weniger Ahnung hatten, als sie selbst vermuteten), er war guter Hoffnung, dass niemand durchdrehte, falls ihr Kunde vor ihm stand, obwohl er schon erlebt hatte, dass ganz Harte in so einem Moment ganz weich im Gehirn wurden, nein, er war nicht nervös, auch wenn ihm jetzt auffiel, dass er seine Pistole abtastete, die am Hintern in der Hose steckte, ohne sich dessen bewusst zu sein … Es war nur ein Zeichen für seine volle Konzentration, und er hatte schon wieder damit aufgehört, als er von Aymen den Kaffee bekam und sich bedankte, mit der Frage im Kopf, ob sie gesichert war, er hatte es vergessen.
»Was hältst du von dieser Idee«, sagte er, »wenn wir hier im Hof ein kleines Essen zusammen machen, deine Familie und dein Cousin, und wir und der Grieche mit seiner Familie. Gute Nachbarn. Wir kaufen alles bei euch und machen alles, und wenn ihr mit der Arbeit fertig seid, geht’s los. Ab morgen soll wieder schönes Wetter sein. Und wenn es doch zu kalt wird, gehen wir in unser Büro, es ist nicht groß, aber genug Platz.«
»Gute Idee«, sagte der Nachbar, »das ist sehr freundlich von Ihnen, ich rede mit Familie.«
Sie gaben sich die Hand. Und jeder kehrte zurück zu seiner Arbeit. Ein paar Schritte vor seiner Tür sah sich Fallner noch einmal um, aber da war niemand mehr in seinem Rücken.
»Sehr gut gemacht«, sagte Theresa. »Ich kann mir wirklich vorstellen, dass es genauso laufen wird.« Mit einer kaum wahrnehmbaren Spur Ironie.
»Ich kann mir auch viel vorstellen«, sagte Landmann.
»Das weiß ich doch, mein Schatz.«
»Ich will’s mir jetzt doch lieber nicht vorstellen«, sagte Fallner.
Die neuesten Meldungen lauteten, dass es nirgendwo irgendwas Neues gab. Keine Veränderung. Jedenfalls nicht in dem Sektor, den sie überblicken konnten. Nicht in ihrem Zuständigkeitsbereich. Nicht in ihrer eigenen Welt, die kleiner war, als sie ihnen zu sein schien.
Fallner ging in das von ihnen okkupierte Geschäft des Griechen. Jetzt saß sein Bruder in dem Sessel neben dem Plattenspieler und sah in sein Smartphone.
»Ich halte das für keine gute Idee«, sagte er.
»So schlau bin ich inzwischen auch«, sagte Fallner. »Du bist natürlich trotzdem eingeladen. Du bezahlst schließlich die Party.«
»So ist es«, sagte er. »Ich bin schon gespannt auf die Endabrechnung.«
»Vielleicht interessiert euch das«, rief Theresa aus dem Büro. »Dieser Klan-Polizist ist eben in den Laden gegangen.«
»Den habe ich noch nicht eingeladen«, sagte Fallner, »mach ich aber noch.«