Als sie sich später die Aufnahmen ansahen, waren sie nicht mehr an dem Punkt, an dem sie (wie das alte Sprichwort sagte) nur noch dem Teufel die Hand geben konnten. Sie waren weit darüber hinaus. Sie hatten die Antwort auf die Frage, wie man sich dann fühlte, schon bekommen.
Die Aufnahmen waren von schlechter Qualität und hatten nichts zu bieten, was ihr Gedächtnis korrigiert hätte, keine neuen Erkenntnisse.
Sie hatten ein paar Bilder mit diesem Mercedes-Jeep, der sie an einem der Abende vorher geblendet hatte, aber die Insassen und ihre Bedeutung ließen sich damit nicht aufdecken; dass die Autonummer nicht existierte, war längst klar, und inzwischen war er von der Bildfläche von allen, die sich dafür interessierten, verschwunden.
Man würde ihn erst wiedersehen, wenn er zum Beispiel in eine Menschenmenge raste oder wozu auch immer das Ding gebraucht wurde, falls es nicht auf einem Kasernengelände eingesperrt war.
Ihr Patient kam aus der Hintertür von Aymen’s in den Hinterhof. Es war dunkel geworden, das Geschäft geschlossen, alles erledigt. Sie hatten dennoch genügend Lichtquellen, helle Fenster, Lampen im Hof. Er war eindeutig zu erkennen.
Sie nannten ihn inzwischen nicht mehr Kunde, sondern Patient. Schien besser zu passen. Der Cousin als Patient, der eingeliefert werden musste, ehe er sich und andere gefährdete. (»Wir verbrennen nicht das Milchmädchen, sondern nur die Rechnung«, sagte Landmann.)
Sie hatten sich schon auf eine weitere Nacht ohne Aktion eingestellt, ihre Leute weggeschickt, auf noch mehr Warten, zu wenig Schlaf, zu wenig sichere Informationen – dennoch aufmerksam, wahnsinnig aufmerksam (war ihre Selbsteinschätzung, die jedoch nie viel wert ist, sagen die Experten, denn die Selbsteinschätzung ist nur ein kleiner Punkt auf dieser Rechnung, mit der man sich verrechnet hat, aber welche Experten hören schon auf Experten).
»Erzähl doch mal einen Witz, Madame Jaqueline«, hatte Landmann ein paar Stunden zuvor gesagt. »Wir sind völlig ausgebrannt, wir müssen wieder etwas aufladen.«
»Für dich immer«, sagte sie und fing dann mit ihrem Standardsatz »also pass auf« an (als würden sie nicht aufpassen): »Kommt ein Afroamerikaner zum Rabbi und sagt, Rabbi, ich möchte Jude werden, was muss ich tun? Sagt der Rabbi, mein Sohn, hast du denn noch nicht genug Probleme?«
»Kenne ich seit hundert Jahren«, sagte Landmann, »allerdings nicht mit Afroamerikaner.«
»Die Zeiten ändern sich eben.«
»Ich weiß schon, und wir sollten uns mit ihnen ändern, wenn wir nicht draufgehen wollen.«
»Wenn’s so einfach wäre«, sagte sie und salutierte, als sie rausging, um an einem anderen Ort weiterzumachen.
Die Tür öffnete sich, und noch ehe der Patient sie geschlossen hatte, waren sie bereit, so zu handeln wie abgesprochen. Sie hatten hundert Möglichkeiten abgesprochen und diese war dabei.
Der Patient, den sie zum Schutz der Allgemeinheit einliefern wollten, machte nur ein paar Schritte ins Freie, als auch Landmann rausging. Er beachtete den Patient nicht, ging rückwärts und redete heftig auf Fallner ein, der ihm nachkam – klare Sache, sie hatten was zu diskutieren, und Fallner achtete dabei auf den Patient und gab Landmann Zeichen.
Der Patient blieb stehen und sah sich an, was diese zwei Typen machten. Er hatte keinen Verdacht, zog keine Waffe, ging nicht in den Laden zurück und rannte nicht in die andere Richtung zur Einfahrt des Hinterhofs.
Landmann näherte sich ihm weiterhin rückwärtsgehend, ruderte mit den Armen und quatschte mit Fallner, wie zwei Männer am Ende des Arbeitstags eben noch kurz im Auseinandergehen quatschten, und als Fallner ihm das Zeichen gab, dass er nahe genug am Ziel dran war, zog Landmann seine Pistole und drehte sich um, hielt sie unauffällig (nicht mit gestrecktem Arm) und sagte etwas, das Fallner nicht verstand.
Der Patient blieb bewegungslos stehen. An seinen Gesichtsausdruck konnte Fallner sich später nicht erinnern, das war nicht das, was man beachten musste.
Die Situation schien sicher zu sein, Landmann und der Patient waren ruhig, keine Panik, es war vorbei. Landmann zeigte mit der Hand zu ihrer Bürotür. Sie würden da jetzt reingehen (und durchgehen bis zur Straße und in einen Transporter steigen).
Die beiden Schüsse fielen in dem Moment, als Fallner instinktiv zur Hinterhofeinfahrt sah und sich von den beiden weg nach hinten zur Tür drehte, durch die sie abhauen würden. Er ließ sich automatisch fallen und rollte unter ihr Auto. Die Schüsse hallten mit irrer Lautstärke durch den Hinterhof. Er hatte keine Ahnung, von wo die Schüsse auf wen abgegeben worden waren. Hatte unter dem Auto die Orientierung verloren. Dann sah er die beiden am Boden liegen, die nächsten Schüsse fielen, und er sah, wie ihre Körper zuckten, als die Geschosse einschlugen. Jemand schoss von irgendwo oben. Fallner kroch in ihre Richtung unter dem Auto hervor, lag auf dem Rücken und zielte in alle Richtungen vage nach oben, konnte aber niemand entdecken. Wenn man nach oben sah, war es nur eine schwarze Nacht mit vielen hellen Vierecken und mehr oder weniger grauen Häuserfronten.
Theresa kam jetzt aus dem Büro, drehte sich im Kreis und zielte mit ihrem Schnellfeuergewehr nach oben. Konnte ebenfalls kein Ziel erkennen.
Sie war schneller bei Landmann und dem Patienten als er. Sagte »ich weiß« in ihr Mikrofon, als Fallner neben ihr auf die Knie ging. Beide waren von mehreren Kugeln in den Oberkörper getroffen worden. Vermutlich war jede einzelne davon tödlich (sie sollten es nie genau erfahren).
»Wir müssen weg hier!«, schrie sie.
Aber er reagierte nicht, hörte sie nicht. Starrte den toten Landmann an, konnte nicht glauben, dass er tot war.
Landmann stand auf, klopfte seinen Hut aus, sagte leise, es wäre schon längst höchste Zeit für ihn gewesen und flog langsam mit einem verlegenen Lächeln, als wollte er damit andeuten, es tue ihm leid, wie in Zeitlupe steil nach oben davon.
Jemand zerrte an Fallners Arm und brüllte ihm ins Ohr: »Wir müssen weg hier, sofort, wir können nichts mehr für ihn tun!« Nur weil sie seinen Kopf mit beiden Händen packte und herumriss, wurde ihm klar, was sie meinte.
Als sie zum Büro zurückliefen, heulend, stolpernd, kam endlich von irgendeinem der Balkone eine männliche Stimme, die schrie, was passiert wäre, was sie da machten, und sofort eine andere Stimme, die Hilfe schrie.
Fallner war noch nicht durch die Tür, als sie eine Detonation und noch mehr Schüsse hörten, die irgendwo aus der Einfahrt zu ihrem Hinterhof kamen oder von draußen auf der Straße. Und jetzt waren auch aus großer Entfernung die anrückenden Bullen zu hören.
»Vor dem Laden brennt ein Auto«, sagte Theresa zu Fallner, und in ihr Mikrofon: »Wir gehen jetzt raus.« Sie wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht, um Rotz und Tränen zu verschmieren.