Sogar das Haus war nicht mehr das, was es mal gewesen war. Leute verschwanden, ohne sich zu verabschieden, und Leute zogen ein, ohne sich vorzustellen.
Obwohl das Haus vom Jahrgang 1922 mit den fünf Stockwerken in der schmalen Straße mit drei- bis fünfstöckigen Häusern immer noch so aussah, also könnte jeder der Bewohner schon an der nächsten Tür die benötigte Tasse Zucker bekommen.
Vielleicht wurde das Haus vom zunehmenden Mangel an Solidarität von innen aufgefressen, und wenn es dann immer mehr von diesen neuen Deutschen bewohnt wurde, die sich nur noch für Solidität interessierten, bekam es eine neue Fassade, und wer nicht mehr zur Fassade passte, musste sich verpissen.
Zur neuen Fassade würde dann auch »verpissen« nicht mehr passen … Finden Sie passende Wörter, die verpissen ersetzen und so klingen, als müsste sich niemand verpissen, sondern sich nur in eine bessere Zukunft fortbewegen, in deren Häusern sich neue Bewohner nicht vorstellen müssen, sondern automatisch mit allen körperlichen und sonstigen Daten eingebaut werden, weshalb man sie bei der ersten Begegnung im Treppenhaus fragen konnte, warum sie 2012 ihren Reisepass in Albanien verloren hatten und nicht in einem Land mit weniger Drogengeschäften.
Keine leichte Aufgabe also für den Hausmeister des alten Hauses, den Überblick zu behalten; auch wenn er nur ein inoffizieller Hausmeister war, der sich nicht um korrekte Müllbehandlung zu kümmern hatte, wurde seine Autorität zunehmend durchlöchert.
Der Zweiundachtzigjährige, der nie aus dem Fenster gesprungen war und sein im Krieg amputiertes Bein nie mit einer Prothese ersetzt und nur sein leeres linkes Hosenbein hochgesteckt hatte, was ihn zu einem äußerst seltenen Exemplar machte, war schon vor Monaten (vor Nadines Heimkehr) in eine moderne Wohnung umgezogen, ohne sich bei Fallner, dem inoffiziellen Hausmeister, abzumelden. Was ihn weder wunderte noch beleidigte, denn er hatte dem Invaliden mehrmals pro Jahr körperliche Gewalt angedroht, weil er andere Hausbewohner grundlos belästigte oder massiv störte. Die neue Wohnung des Alten war viel kleiner, aber seinen Bedürfnissen optimal angemessen und aus umweltfreundlichem Holz gebaut. Alles war so, wie es sich die moderne Stadtplanung vorstellte. Und zwei uniformierte Männer hatten den Umzug und den in diesem Fall besonders lästigen Papierkram für ihn erledigt und ihn sogar hinausgetragen. Die Wohnung war dann auffallend lange und sorgfältig renoviert worden. Was kein gutes Zeichen, sondern ein Alarmsignal war – und jetzt lag vor der offenen Wohnungstür ein zugeballerter Mann, der sich grölend über irgendwas beschwerte und mit Händen und Füßen in die Luft schlug. Neben ihm stand eine Frau in einem knallgelben Kleid mit grünen Stiefeln, die ihn zu beruhigen und in die Wohnung zu locken versuchte. Sein aggressives Verhalten beeindruckte sie nicht.
Der Betrunkene war wie die meisten Betrunkenen misstrauisch und interpretierte das Hilfsangebot als Verletzung seiner Menschenwürde. Ex-Polizist Fallner kannte die Konstellation von seinen Straßeneinsätzen und wusste, dass ein wirkungsvolles Argument ungefähr so selten war wie eine deutsche Nonne, die eine geladene Glock am nackten Oberschenkel trug.
»Verpiss dich«, brüllte der Betrunkene.
»Wenn du endlich reinkommst, kann ich mich endlich ins Bett verpissen«, sagte die Frau.
Fallner schätzte die beiden auf Mitte dreißig. Das waren sie also, die neuen Mieter, die sich seit einem Monat noch nicht vorgestellt hatten.
Wie es im Moment aussah, passten sie ganz gut in das Haus. Und das waren die Gründe, warum es die steinalte Vermieterin, die im idyllischen Umland lebte und sich über ihr Metropolenhaus keine Gedanken machen wollte, eine gute Idee gefunden hatte, dass ein Polizist wie Fallner (von dem sie nicht wusste, dass er inzwischen Ex-Polizist war) den Hausmeister markierte. Genauer gesagt, passte er einfach nur auf, dass Betrunkene keine Frauen verprügelten, die ihnen ins Bett helfen wollten. Und wenn jemand glaubte, es müsste in diesem Haus so ruhig sein wie auf einer einsamen Berghütte, gab er den guten Rat, dass man besser in eine einsame Berghütte umziehen sollte.
»Kann ich irgendwie helfen?«, sagte er.
Er stellte sich vor und erklärte, dass er hier eine Art Hausmeister war, ein Freund der Besitzerin (was nicht stimmte), der am längsten im Haus wohnte, und wenn es Ärger gab, würde er immer versuchen, den Ärger zu beseitigen, ehe man die Besitzerin informieren musste und sie möglicherweise schlechte Laune bekam, die sich auch auf das Haus und seine Bewohner auswirken könnte, weil man bei dieser alten Frau eben mit allem rechnen musste.
Warum machst du immer dieses Bla-Bla?
Er war gut und geübt darin, Leute vollzuquatschen, um sie abzutasten, wie man jemanden mit den Händen abtastete, um seine am Körper verborgenen Waffen zu finden.
Die knallgelbe Frau sah ihn nur mit einem Ich-habe-schon-den-hier-am-Hals-und-jetzt-dich-auch-noch-Blick an und wartete ab, wie es weitergehen würde.
»Ist doch kein Problem«, sagte Fallner zu ihr, »wir sind hier kein Hotel für katholische Upper-Class-Architekten, wenn Sie wissen, was ich meine.« Er musste aufpassen, dass er sich von ihrer Attraktivität nicht ablenken ließ.
Er beugte sich über den Angeschlagenen und sagte: »Alles cool, Mann, du musst dir keine Sorgen machen, wir bringen dich ins Bett.«
»Verpiss dich«, sagte der neue Nachbar von unten.
»Cool ist eines seiner Hasswörter«, sagte die Frau.
»Kein Problem«, sagte Fallner. Er konnte cool ebenfalls schon lange nicht mehr ausstehen, hatte jedoch vermutet, der Typ würde cool cool finden.
»Du bist der Bulle«, sagte der betrunkene Mann, »schon gehört.« Er dachte nach, um ein noch treffenderes Wort zu finden, es war keine Überraschung, welches ihm in die Quere kam: »Arschloch.«
»Aber ich bin cool«, sagte Fallner, »und ich hoffe sehr, du bleibst cool.«
»Übertreiben Sie’s nicht«, sagte die Frau.
Die schicke Tante hat Drogen in der Handtasche, dachte Fallner, und ich werde mich nicht dafür interessieren, selbst wenn sie nicht nett zu mir ist.
»Ein bisschen erste Hilfe für den freundlichen Mann wär nicht schlecht«, sagte er, »natürlich nur, falls das nicht übertrieben ist.«
Er bückte sich, um ihn hochzuziehen, stützte ihn und steuerte ihn in die Wohnung. Die Frau ging voran und machte Licht. Sie wankten unter topmodernen Designerlampen durch einen zuerst von Kleidern, Schuhen und Spiegeln, dann von Bücherregalen flankierten Gang. Der Mann stank, wie eine Schnapsfabrik vor hundert Jahren gestunken haben musste, wenn was in die Luft geflogen war, dessen Ausdünstungen die Arbeiter umlegte, die es nicht schnell genug nach draußen schafften.
Obwohl er leise jaulte wie ein armer Hund, hatte Fallner den Eindruck, dass er nicht so angeschlagen war, wie er auf den ersten Blick wirkte. Es klang, als würde er nur einen Hund spielen. Er war nicht schlecht gebaut, schon eher ein Kampfhund, der länger nicht rausgekommen war.
Das Schlafzimmer war sorgfältig reduziert eingerichtet, nur das Nötigste, kein Kleiderschrank. Als sollte das Foto über dem Kopfende des Betts alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen; es war so groß, dass es Verletzte geben würde, wenn es runterfiel. Falls es ein Foto war, was er im gedimmten Licht nicht genau erkennen konnte. Es war kühl im Zimmer und roch dezent nach Parfum, und deshalb wartete er auf die Aufforderung, den Alkomann zuerst in die Dusche zu schleppen. Diese Leute machten einen schnell zum Personal, wenn man nicht aufpasste. Die Frau sagte jedoch nichts, und er legte ihn auf das schwarz-bezogene Doppelbett.
Um Zeit zu gewinnen, zog er dem Mann die guten Schuhe aus. Knöpfte sein Jackett auf, er trug einen karierten Anzug, dunkel- und hellbraune Quadrate mit schwarzen Umrandungen. Sah extrem modern aus und war garantiert in jeder Runde ein Hit, den alle bewunderten. Als Ex-Polizist, der immer noch im Ermittlungsgewerbe tätig war, obwohl er die Firma seit Landmanns Tod vor sieben Wochen nicht mehr betreten hatte, interessierte sich Fallner natürlich mehr für die Taktik des bestmöglichen Untertauchens.
Erfahrung und Instinkt sendeten Fallner Meldungen von allen Seiten. Die Lampen, das Schlafzimmerfoto, Schuhe, das gelbe Kleid. Was nicht heißen musste, dass diese Meldungen spektakuläre Nachrichten übermittelten. Aber sie machten auf sich aufmerksam. Eine der Meldungen, die ihn angesprochen hatte, war ein Haufen Geldscheine, den er im Vorbeigehen, mit dem Betrunkenen im Arm, auf dem Küchentisch gesehen hatte. Hunderter, sicher mehr als zehn, einige zerknüllt, lagen zwischen Tassen, Gläsern und Tellern herum. Wie mit einer Geste von Leuten hingeworfen, die sich für Geld nicht weiter interessierten, weil sie wirklich genug von dem Zeug machten. Hatte er zum Beispiel schon bei reichen Drogenleuten gesehen.
Warum machen die das so? Kann ich dir nicht genau sagen, aber es gibt solche und solche.
»Vielen Dank«, sagte die Frau, »ich weiß nicht, was ich ohne Sie getan hätte.«
Das war doch immer ein guter erster Versuch, um jemanden loszuwerden. Ihre Körpersprache zeigte jedoch keine Dankbarkeit, sondern Vorsicht.
»Keine große Sache«, sagte er, »ist doch selbstverständlich.«
Jetzt hatte er es – die attraktive Dame, die so schnell umschalten konnte, wenn es die Situation verlangte, war Anwältin. Ganz klar. Und der Mann, auf den sie nicht immer aufpassen konnte, war Dealer. Das war nicht wahnsinnig weit hergeholt, sondern eine nicht so seltene Kombination. Wie schon Waylon Jennings gesungen hatte: Ladies love Outlaws! Ein Lied, das jeder Psychokiller im Knast vor sich hin pfiff, wenn er seine vielen Heiratsangebote durchblätterte. Er erhob sich vom Bett, folgte ihr in die Küche und setzte sich an den Tisch mit den Scheinen.
»Vielleicht sollten wir besser einen Notarzt rufen. Ich finde, er sieht nicht gut aus.«
»Das ist nicht nötig, ich kenne das. Er ist völlig okay, er braucht nur ein paar Stunden Schlaf, das ist alles.«
Fallner nickte und blieb sitzen. »Ich bin übrigens nicht Polizist, sondern Ex-Polizist, sagen Sie das Ihrem Mann, er muss keine Angst vor mir haben.«
»Mein Freund hat das nicht so gemeint.«
»Ich bin jedenfalls kein Blockwart oder sowas, das wollte ich damit sagen.«
Sie blieb mit verschränkten Armen an der blitzenden Küchenzeile stehen und sagte nichts.
»Das Haus gehört übrigens noch zur alten Arbeiterklasse des Viertels, aber die haben die Wohnung wirklich toll renoviert. Sie haben gute Beziehungen, stimmt’s?« Eine Frau mit einem derartig alarmierenden Kleid musste Beziehungen haben.
»Wenn ich daran denke, wie das vorher ausgesehen hat. Also bevor der gestorben ist. Der war ein Ekel, kann ich Ihnen sagen. Nazikindersoldat.« Kein gutes Thema. »Und was machen Sie so im Leben? Hier gibt’s ziemlich viele Bücher, machen Sie was mit Büchern?«
»Ich bin wirklich sehr müde, wir waren auf einer schrecklichen Party, aber –«
»Das kenne ich, das ist kein Vergnügen.«
»– also ich lade Sie demnächst mal zum Essen ein, ist das ein Vorschlag?«
Das war zweifellos einer, und wer’s glaubte, würde auch noch selig werden. Dennoch hatte er sich nicht umsonst bemüht. Denn ihr Freund hatte ausgeschlafen und stand in der Tür. Ein Mann, den er nicht unterschätzt hatte.
»Endlich mal Besuch vom Nachbarn!«, sagte er.
»Ich wollte gerade gehen«, sagte Fallner.
»Unsinn, wir müssen jetzt wenigstens anstoßen!«
»Heute nicht mehr, Tobias«, sagte sie. »Aber ich habe ihn demnächst zum Essen eingeladen, mit Frau selbstverständlich.«
»Unsinn, wir trinken jetzt ein Glas zusammen.«
Als er aus einem der verchromten Hängeschränke drei Gläser holte und auf den Tisch knallte, hatte das gelbe Inferno den Raum schon verlassen. Er winkte mit einer Mann-diese-Frauen-Geste ab und kippte was Goldbraunes in die Gläser.
»Auf das Leben und auf gute Nachbarschaft!«
Er trank ex und füllte nach, Fallner benetzte nur die Lippen. Er hatte seit Landmanns Tod und Nadines Weggang kaum noch getrunken. Machte irgendwie keinen Spaß mehr, seit die Menschen, die ihm was bedeuteten, reihenweise abhauten.
»Wissen Sie eigentlich, dass Sie da drüben in der Kneipe schwer vermisst werden? Klasse Kneipe, gefällt mir, mal was anderes. Alle fragen sich, wo ist denn unser Kommissar Dirty Harry? Du wohnst doch jetzt im Haus, was ist mit ihm los? Keine Ahnung, Leute, ich hab ihn doch noch nicht mal kennengelernt.«
»Falsche Information, ich bin nicht mehr bei der Polizei«, sagte Fallner, der seit Landmanns Tod nicht mehr in Bertls Eck gewesen war, weil es irgendwie keinen Spaß mehr machte.
»Weiß ich doch«, sagte dieser Tobias. »Ich weiß alles über dich, Dirty Harry, sie haben mir alles erzählt. Du warst Sonderkommando, hast einen Dealer erschossen, dann etwas durchgeknallt und Frau weg, jetzt irgendwas mit Security in der Firma deines Bruders. Und dann dieses Mädchen, aber das hab ich nicht genau kapiert.« Er klatschte in die Hände. »Ist mir doch klar, Mann, die Hälfte davon ist ja nur Kneipengelaber. Und du hast erst kürzlich eine heftige Aktion in der U-Bahn gehabt, stimmt das? Hab ich mitbekommen, wusste aber nicht, dass du das warst. Tolle Story, Respekt, echt jetzt. Aber es kam nicht raus, dass du das warst, richtig? Wo ist das Problem?«
»Alles Quatsch.«
»Ein Kumpel von dir wurde bei diesem Anschlag erschossen, ist das Quatsch?«
»Und was ist dein Job?«
»Mein Job? Gute Frage, Herr Kommissar, eine sehr gute Frage. Ich habe keinen Job, so sieht’s aus, was ich habe ist ein Minenfeld, ein Drecksjob, aber egal, vergiss es. Tatsache ist, dass ich dich wirklich mal treffen wollte. Glücklicher Zufall.«
Kein Dealer, das war sicher. Kein Dealer, kein Bulle, kein Arzt, kein Pilot. Andererseits war Menschenkenntnis auch nur ein Glücksspiel.
»Also pass auf, ich mach’s kurz, ich schreibe Bücher, und dann haben sie mir in der Kneipe von dir erzählt, und ich habe auch mal etwas recherchiert. Diese Story mit dieser alten Pornotante vor zwei Jahren, die ist echt nicht schlecht. Also hatte ich die Idee: Mit dem Typen könnte man ein Buch machen. Du erzählst mir alles, ich schreib’s auf. Echtes Zeug, verstehst du? Kein Scheiß, kein Heimatkrimischeiß oder sowas, sondern True Crime. So wie’s eben war. Was hältst du davon?«
»Nichts«, sagte Fallner.
Zuerst müssten sie über die Ermordung Landmanns irgendwas herausfinden, und es sah nicht danach aus, als würden sie jemals einen Schritt weiterkommen. Andererseits betrachteten sie die Sache nicht als erledigt, fünf Wochen waren keine Zeit, und irgendwann würde jemand irgendwas auspacken, irgendwas würde passieren, irgendein verdammter dummer Zufall würde ihnen helfen, es war auch eine Art Glücksspiel.
Außerdem war das, was er schon jetzt dazu sagen konnte, nicht nichts.
»Denk doch einfach mal drüber nach, wir müssen das hier und heute nicht ausdiskutieren.« Er nahm einen Schluck und füllte nach. »Ich bin betrunken, okay, aber ich weiß, was ich sage. Falls es das ist.«
»Ich denk drüber nach.«
»Du willst aber natürlich erstmal rausfinden, was ich geschrieben habe, stimmt’s? Würde ich auch machen, das ist klar.«
»Das ist keine schlechte Idee.«
Er weckte Jaqueline, zog an ihren Haaren und hielt ihr die Nase zu, bis sie endlich wach war. Er hatte sie erschreckt, sie stand sofort senkrecht im Bett.
»Keine Panik«, sagte er und zeigte ihr seine Handflächen, »ich muss dir nur schnell erzählen, also dieser Typ von unten, der neue Mieter, wir werden ein Buch zusammen schreiben: Ich erzähle, er schreibt das auf. True Crime. Ist doch ein guter Plan, was meinst du, nein?«
Sie fiel beruhigt wieder um, sagte nur »Schwachsinn« und verkroch sich unter der Bettdecke.
»Keine Angst, du wirst nicht mit deinem richtigen Namen vorkommen.«
Und geht’s dabei wieder nur ums Geld? Wie kommst du auf die Idee, Nadine, da geht’s nur um die Wahrheit.