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17. November 2013, 17:13 Uhr

Mirror-London, Septem

Leanore Tremblett ist 9 Jahre alt

Schneller, Melvin!«

Leanore lachte, während sie durch die endlosen Korridore des Palastes jagte. In einer Hand hielt sie einen kleinen Metallkäfig, der bei jeder ihrer Bewegungen scheppernd hin und her schwang. Mit der anderen Hand umklammerte sie Melvin Harwoods Finger.

Gemeinsam huschten sie vorbei am Arbeitszimmer ihres Vaters, dem großen Wohnbereich und schließlich an der Ahnengalerie der Trembletts, wo Leanores Vorfahren streng auf sie herabsahen. Auf einem Gemälde: ihr Vater, Victor Tremblett. Daneben: Maxwell Tremblett, ihr Großvater. Und wie immer wandte Leanore ganz schnell den Blick ab, als sie bei Theodora Tremblett vorbeikamen. Ihre Urgroßmutter hatte Leanore schon Angst eingeflößt, als sie am Leben gewesen war, doch jetzt, da ihr strenger Blick nur noch in dem Ölgemälde existierte, war sie mindestens siebenmal gruseliger.

»Wir werden so viel Ärger bekommen!«, keuchte Melvin, als sie im Raum mit den sieben Türen ankamen. Trotzdem schlug er, ohne zu zögern, eine Hand auf den Knopf des Fahrstuhls, der sich mit einem leisen Klingeln für sie öffnete.

Leanore zog Melvin kichernd hinter sich hinein. »Hast du etwa Angst?«, neckte sie ihn, woraufhin Melvin die Nase rümpfte, als hätte sie ihn tödlich beleidigt.

»Niemals. Ich sage nur, dass wir Ärger bekommen werden. Wahrscheinlich schicken sie uns in den Nachtturm … oder noch schlimmer … zum Nachsitzen

»Ach Quatsch. Agrona wird uns bloß mehr Hausaufgaben geben. Das ist es wert.«

Als hätte Leanore den Zorn der alten Magistratin mit ihren bloßen Worten heraufbeschworen, hallten in dieser Sekunde warnende Rufe durch den Korridor, aus dem sie gekommen waren.

»Leanore Tremblett! Melvin Harwood! Wenn ihr beide den Vogel nicht sofort mitsamt eurem hoheitlichen Hintern hierher zurückbringt, dann schwöre ich bei allen Sieben, ich werde euch –«

Die Tür schloss sich und verschluckte jedes weitere von Agronas Worten. Sie würden niemals erfahren, was genau sie mit ihnen tun wollte. Aber es war wohl nichts Gutes.

Während sich der Fahrstuhl nach unten senkte, starrten sich Leanore und Melvin mit großen Augen an. Dann brachen sie in Gelächter aus. Melvins Wangen waren gerötet. Und Leanore vermutete, dass es bei ihr nicht anders war. Sie umklammerte seine Hand noch etwas fester, und obwohl ihr Herz dabei heftig gegen ihren Brustkorb pochte, spürte Leanore, wie sie durch Melvins Wärme gleich etwas ruhiger wurde.

Vom Käfig drang ein leises Zwitschern zu ihnen. Der Spektralvogel beäugte Leanore mit schräg gelegtem Kopf. Obwohl er in den letzten Minuten ziemlich hin und her geschleudert worden war, schien er nicht verängstigt zu sein. Im Gegenteil. Er wirkte beinahe etwas aufgeregt. So als wüsste er schon, was als Nächstes passieren würde.

»Gleich bist du frei«, flüsterte Melvin ihm zu und lachte, als der Vogel ein zustimmendes Zwitschern ausstieß.

Im Erdgeschoss des Palastes angekommen, rannten die beiden weiter durch die Korridore. Erst, als sie am Ausgangstor zu den Palastgärten eine Reihe Magiehäscher entdeckten, hielten sie inne und pressten die Rücken an die Wand, um nicht entdeckt zu werden.

»Was jetzt?« Leanore drehte sich um die eigene Achse. Durch den Hauptausgang konnten sie nicht gehen. Die Wachen hatten Befehle, niemals eines der Trägerkinder ohne Aufsicht aus Septem herauszulassen. Das bedeutete, sie würden sie geradewegs wieder nach oben zu Agrona bringen, und der gesamte Plan wäre Geschichte.

»Die Fenster im Thronsaal«, schlug Melvin vor. »Sie gehen fast bis zum Boden. Dort könnten wir ihn rauslassen.«

Leanore starrte Melvin an. »Der Thronsaal? Aber … da dürfen wir nicht rein.«

Er grinste. »Hast du etwa Angst?«

Nun war es an Leanore, die Nase zu rümpfen. Das würde sie sich nicht zweimal sagen lassen! Entschlossen drückte sie Melvins Hand, und während der Spektralvogel vor sich hinzwitscherte, führte sie Melvin geradewegs in Richtung der riesigen Doppeltür, die am Ende des nächsten Ganges auf sie wartete.

Aus dem Thronsaal drang ihnen Stille entgegen. Niemand war hier. Zum Glück hielt Leanores Vater so spät am Nachmittag keine Audienzen mehr ab. Trotzdem verlangsamten die beiden ihre Schritte, als wäre jedes noch so dumpfe Geräusch hier drinnen bereits zu laut. Leanore gab Melvin den Vogelkäfig, als sie bei einem der schmalen Fenster angekommen waren. Sie versuchte, sich zu dem Griff hochzustrecken, doch er war zu weit entfernt.

»Steig auf meine Schultern«, flüsterte Melvin. Leanore nickte. Er hob sie nach oben, und sie stellte ihre Füße behutsam links und rechts auf seinen Schultern ab. Sie zerrte an der Klinke, bis das Fenster sich nach innen öffnete. Ein kleiner Jubelschrei entwich ihr. Sie würden es schaffen! Jetzt mussten sie nur noch die Sigils vom Käfig entfernen, die den Spektralvogel gefangen hielten, und dann konnte er –

»Was, bei allen Sieben, soll das werden?«

Die Stimme erschreckte Leanore so sehr, dass sie das Gleichgewicht verlor und ihre Füße von Melvins Schultern rutschten. Sie fiel mit voller Wucht auf den Marmorboden, aber der Schmerz, den sie spürte, war nichts im Vergleich zu der Angst, die nun ihren gesamten Körper ergriff.

Ihr Vater stand am Eingang des Thronsaals. Neben ihm drei Magistrate in burgunderfarbenen Roben.

»Lassen Sie mich mit meiner Tochter allein«, sagte Victor Tremblett, woraufhin die drei Männer sich so tief verbeugten, dass ihre Nasenspitzen beinahe den Boden des Thronsaals berührten. »Du auch, Junge!« Leanores Vater deutete auf Melvin, der jedoch nur die Schultern zurückzog und versuchte, sich etwas größer zu machen.

»Es war meine Idee, mein Lord«, sagte er, bekam als Antwort nur einen beißenden Blick. »Lea trifft wirklich keine Schuld«, versuchte er es weiter. Leanores Vater deutete nur auf die Tür, woraufhin Melvins Schultern nach unten sackten. Er presste die Lippen fest aufeinander. Leanore sah ihm an, dass er bleiben wollte, aber sie schüttelte den Kopf. Geh, versuchte sie ihm mit ihrem Blick zu sagen. Bevor er dich dazu zwingt.

Mit hängendem Kopf lief Melvin an Victor vorbei. Jetzt waren es nur noch sie und der Spektralvogel, der sich im Käfig zu einem kleinen Ball aus blauschimmernden Federn zusammengezogen hatte.

Schritte näherten sich. Im Augenwinkel bemerkte Leanore, wie ihr Vater neben ihr zum Stehen kam. Und bevor sie wusste, was passierte, zerrte er sie auf die Füße, und seine Hand traf ihre Wange – so fest, dass sie für einen Moment nur schwirrende Lichter sah.

»Du wirst niemals wieder unerlaubt den Thronsaal betreten«, sagte er, leise und bedrohlich. »Nicht, solange ich Mirrorlord bin.«

Trotzig starrte Leanore auf den fein polierten Marmorboden.

»Schau mich an, wenn ich mit dir rede!« Ihr Vater beugte sich zu ihr herab. Obwohl er noch jung war, wirkten seine weißblonden Haare in der Dunkelheit der Halle gräulich und fahl. Er griff mit Daumen und Zeigefinger an Leanores Kinn und zog ihren Kopf so vehement nach oben, dass sie nicht anders konnte, als ihn anzuschauen.

»Hör endlich auf, dich bei jeder erdenklichen Gelegenheit gegen meine Regeln aufzulehnen«, sagte er. »Du bist nicht mehr oder weniger wert als die Träger, die vor dir kamen. Und wie sie bist auch du nur für einen einzigen Zweck auf diese Welt gekommen: dem Mirror zu dienen und deine Pflicht zu erfüllen. Hast du mich verstanden?«

Leanore tat das, was sie immer tat, wenn Vater ihr diesen Vortrag hielt. Sie vergrub den Teil von sich, der sich wie der kleine Vogel ängstlich zusammenkauern wollte, tief in ihrem Inneren und nickte stattdessen folgsam. »Ja, Vater. Ich habe verstanden.«

»Die Dark Sigils …«, fuhr er fort, und dabei umschloss er die beiden Würfel, die in einem Lederband an seinem Arm verwahrt waren, so fest, dass die Knöchel seiner Hand weiß hervorstachen, »… sind unsere Verantwortung. Bevor du Alius und Etas tragen kannst, musst du lernen, diese Energie in dir zu zügeln, Leanore. Sie ist gefährlich – und zwar für uns alle. Du musst dich den Regeln dieses Lebens beugen. Wir dürfen die Prädiktion nicht Wirklichkeit werden lassen.«

Leanore blinzelte. »Prä…dik…tion?«, wiederholte sie das Wort etwas ungelenk. Noch nie zuvor hatte sie es gehört. »Was bedeutet Prädiktion, Vater?«

Doch Victor blinzelte nur, als wären seine Gedanken für einen Moment ganz woanders gewesen. Dann richtete er den Blick wieder mit der vertrauten Strenge auf sie. »Geh zurück auf dein Zimmer und bleib dort. Zur Strafe für deinen Ungehorsam wirst du die nächsten zwei Monate die doppelte Anzahl an Unterrichtsstunden bei Agrona absolvieren. Und zwar allein, ohne Melvin Harwood. Du bist ohnehin viel zu vernarrt in diesen Jungen.«

Nein!, wollte Leanore am liebsten schreien. Das konnte ihr Vater nicht machen! Melvin war ihr bester Freund! Ihr einziger Freund.

»Und was diesen Vogel angeht …« Er griff nach den beiden Würfeln an seinem Arm. Weiße Magie waberte durch die Luft, und bevor Leanore wusste, was geschehen war, ertönte neben ihr ein Scheppern, gefolgt von einem kläglichen Laut und einem Knacken.

Wie betäubt starrte Leanore auf den Boden. Der Käfig war geöffnet worden, und der Spektralvogel … er lag reglos auf dessen Boden. Sein Kopf war auf furchtbare Art verdreht, und unter seinen Federn … unter seinen Federn sickerte Blut hervor.

»Freiheit ist eines der wenigen Dinge …«, sagte ihr Vater leise, »… die außerhalb unserer Reichweite liegen. Je früher du das akzeptierst, desto mehr Kummer wirst du dir selbst ersparen.«

Tränen verschleierten Leanores Sicht. Es war zu viel, sie konnte es nicht mehr in sich halten. Also ließ sie sich auf die Knie sinken und fing an, aus vollem Herzen zu weinen. Vorsichtig zog sie den kleinen reglosen Körper an sich und schluchzte so heftig, dass sie nicht bemerkte, wie ihr Vater verschwand … und auch nicht, dass sich jemand anderes hinter sie gestellt hatte.

Arme legten sich um ihren Oberkörper, schützend wie ein Kokon. Es war Melvin. Auf seinen Wangen waren keine Tränen zu sehen, aber auch er wirkte erschüttert, während er auf den toten Vogel hinabsah.

»Ich wollte ihn doch nur befreien«, weinte Leanore, und Melvin nickte und drückte seinen Kopf sanft gegen ihren. Seine dunkelroten Haare waren das genaue Gegenteil zu ihrem Weißblond.

Leanore drehte sich zu ihm, um ihm direkt in die Augen sehen zu können. »Wenn die Würfel … wenn sie mich so böse werden lassen wie ihn … dann will ich sie nicht tragen. Niemals.«

Melvins Gesichtszüge verzerrten sich. »Du bist der beste Mensch, den ich kenne, Lea. Du kannst gar nicht so werden wie dein Vater.«

»Glaubst du das wirklich?«

Er schenkte ihr ein trotziges Lächeln. Ein Harwood-Lächeln. Das schönste Lächeln auf der gesamten weiten Welt.

»Du bist besser als alle anderen«, sagte er leise, die Worte strichen warm über ihre Haut. »Diese Welt hat dich überhaupt nicht verdient.«