11

R ayne. Adam zog an unserer Verbindung wie an einem Gummiseil. So, als wollte er damit eine Antwort provozieren. Was machst du hier?

Wut kochte in mir hoch. Er hatte sein Bewusstsein wochenlang hinter mentalen Schilden verbarrikadiert … und jetzt dachte er, er könnte mich so einfach durcheinanderbringen?

Nein. Ich würde ihm meine Wut nicht geben. Ich hatte schon so viel Zeit damit verschwendet, wütend auf Adam Tremblett zu sein.

»Weiter«, keuchte ich Lily zu und zwang mich, meine Gedanken stillzuhalten. Ich durfte ihn nicht sehen lassen, wo wir waren oder was wir taten. Also ignorierte ich Adams Stimme, die weiter in meinen Kopf hineindrängte, rappelte mich auf und folgte Dorian und Edge. Vor dem Zugang zur Außenplattform hatten sich erneut drei Häscher aufgebaut – wo zur Hölle kamen die so schnell her? Wieder sandte ich eine Explosion von Magie nach vorne, die nicht nur die Sigils aller Häscher nutzlos werden ließ, sondern sie auch so heftig gegen die Wand schmetterte, dass sie bewusstlos liegen blieben.

Gleich geschafft, sagte ich mir und verfluchte mich in derselben Sekunde dafür. Denk an nichts. Oder: Denk an Meeresrauschen. Denk an Sandkörner. Denk an flauschige Hundewelpen. Denk daran, wie du Adam immer und immer wieder eine Ohrfeige verpasst.

Ich ließ mich von Lily halbblind in Richtung Ausgang ziehen, während ich in meinem Geist die wildesten Eindrücke der letzten Wochen heraufbeschwor. Ich erinnerte mich an alles , um bloß nicht an das Hier und Jetzt zu denken.

Verbissen rief ich mir die Trainingsstunden mit Dorian ins Gedächtnis. Das Schuften, den Muskelkater, die unzähligen Male, in denen mich die Sparrings-Sphären zu Boden geschickt hatten. An den Frust, dass meine Zitterhände nicht so wollten, wie ich es wollte.

All das konnte Adam sehen und spüren, solange ich das abschirmte, was wirklich gerade vor sich ging.

Doch im nächsten Augenblick drang ein Bild in meinen Geist hinein. Es war ganz klar und deutlich. Ein Bild von schwarzen Stiefeln, die einen Korridor entlangliefen. Es war, als würde ich auf meinen eigenen Körper hinabsehen, der in einen schwarzgrau glänzenden Brokatmantel gewickelt war und vor dessen rechter Hand zwei silberne Würfel in der Luft rotierten.

Wieder strauchelte ich. »Er kommt hierher«, entfuhr es mir.

Lily zerrte an meiner Hand.

»Was?«

Ich wagte nicht, es zu wiederholen. Wagte nicht, irgendetwas zu sagen, während die Verbindung zu Adam so offen war, dass ich mir selbst nicht mehr traute.

»Los, weiter!«, brüllte es vor uns. Edge und Dorian standen bereits auf der Außenterrasse vor dem Shuttle und streckten uns die Hände entgegen.

Aber da war Adam. Er war längst in unserem Stockwerk, jeden Moment würde er in das Foyer abbiegen und …

Ich zerbrach mir meinen Kopf und versuchte, auf eine Idee zu kommen – irgendeine Idee –, die uns unentdeckt aus dieser Sache herausbringen würde. Denn Adam würde uns nicht entkommen lassen. Nicht jetzt, da er dank unserer Verbindung ganz genau wusste, wo ich war. Und es war egal, ob ich nun in das Shuttle stieg, das so greifbar vor mir lag, oder nicht. Seine Würfel konnten die Zeit manipulieren. Er würde nur einfach immer wieder dasselbe Ereignis durchspielen, bis er uns aufgehalten hatte.

Rayne, drang mein Name wieder zu mir. Mein Name, gesprochen mit seiner Stimme. Warte.

Meine Stirn schwitzte, meine Handflächen auch, und mein Herz setzte einen Schlag aus. Mich selbst konnte ich jetzt nicht mehr retten. Aber die anderen schon.

»Steig ein!«, rief ich und schob Lily nach vorn. Dorian wirbelte zu mir herum – er musste begriffen haben, was ich vorhatte.

»Bringt das Desimeter zu Nessa. Eine andere Wahl haben wir nicht, vertrau mir. Entweder, wir verlieren nur mich, oder alles.«

Dorian erwiderte meinen Blick. Dann traf er in Sekundenbruchteilen eine Entscheidung. Er zerrte Lily mit sich über die Terrasse und schob sie in das Shuttle. Sie kreischte empört, schlug um sich, aber er hielt sie fest umschlungen, während er Blicker den Befehl zurief, loszufliegen.

Die Türen glitten zu, und schon war das Shuttle in der Luft, die Gesichter von Dorian, Edge und Lily gegen die Glasscheiben gepresst. Sie sahen fassungslos aus. Und ich wartete nicht länger. Ich drehte um und stürmte durch das Foyer in die Richtung, aus der ich gekommen war. Vielleicht würde ich doch noch einen Weg hier herausfinden und es irgendwie nach unten in den Empfangssaal schaffen, ohne ihm zu begegnen. Vielleicht könnte ich in der Menge untertauchen. Schließlich sah ich nicht aus wie ich selbst, und nach dem Empfang würde ich einfach –

»Rayne.«

All meine Hoffnung erstarb. Denn dieses Mal … dieses Mal hatte Adam meinen Namen nicht nur in meinem Bewusstsein gesagt.

Ich blieb stehen, starrte in den Korridor. Und obwohl das Zwielicht, das durch die Fenster des Foyers hereinströmte, Adams Gesicht nicht erreichte, kam es mir vor, als würde die Verbindung zwischen uns so strahlend wie eine Sonneneruption durch die Dunkelheit schneiden.

 

Langsam kam Adam näher. Schritt für Schritt, bis wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden.

Alles an ihm war fremd und vertraut zugleich. Die Spannweite seiner Schultern, seine hellgrauen Augen, das silbrige Haar. Der Moment schien ewig zu dauern, und ich konnte Adams Blick nicht deuten, während er mich musterte. Er schaute von dem Syntho-Hologramm auf meinem Gesicht nach unten über das Pailletten-Monstrum und schließlich zu Ignis, das noch immer an meinem Arm leuchtete.

Ich erwartete, dass er etwas sagte. Irgendetwas. Doch stattdessen hob Adam wie in Zeitlupe seine Hand, mitsamt der beiden Würfel und –

Vergiss es.

Instinktiv schoss meine linke Hand nach vorne, und Adams weiße Magie erstarb, bevor er sie wirken konnte. Es würde ihn nicht davon abhalten, es erneut zu versuchen, aber trotzdem.

»Nicht schlecht«, sagte Adam. Sein Ton war ruhig und vielleicht sogar ein bisschen vergnügt.

»Ich hatte viel Zeit zum Trainieren.«

Adam legte den Kopf schief. »Das habe ich gesehen. War Dorian Whitlock ein guter Sparringspartner?«

Ich betrachtete Adam stirnrunzelnd. »Wird deine Verlobte dich nicht vermissen, wenn sie plötzlich ganz allein da unten ist?«, erwiderte ich kühl.

Mein Konter hatte nicht die gewünschte Wirkung. Adam schwieg, sein Gesichtsausdruck unleserlich, und das war so unfassbar charakteristisch für ihn, dass ich ihm am liebsten ins Gesicht schlagen wollte.

»Du denkst sehr oft darüber nach, mir eine Ohrfeige zu geben«, stellte er fest, was sofort einen Zornesblitz mein Rückgrat hinaufschießen ließ. Ich sah wieder ihn und Pandora Cavendish vor mir, wie sie mit all ihrem royalen Glamour über die Tanzfläche schwebten und –

Stopp!

Wahrscheinlich hatte Adam meine Gedanken glasklar vor Augen. Ich musste mich zusammenreißen! Doch er ging nicht auf meine Eifersucht ein, stattdessen fragte er nur: »Was wolltest du hier? Wo sind die anderen, mit denen du auf das Plateau gekommen bist?«

»Das werde ich dir nicht sagen.«

Adam starrte mich an, sein Blick forschend. Ich zwang mich mit aller Macht, meine Gedanken zurückzuhalten, ich spürte förmlich, wie er auf der Lauer lag, um den kleinsten Fetzen in meinem Bewusstsein sofort abzufangen. »Hör auf«, keuchte ich, als ich fühlte, wie seine Kälte tiefer in mein Bewusstsein drang. »Hör auf, Adam!«

Es war zu spät. Was habt ihr gesucht?, schickte er seine Frage durch die Verbindung zu mir und das immer und immer wieder. So schien er die Informationen hervorzulocken, denn indem ich versuchte, nicht daran zu denken, tat ich genau das. Und bevor ich es richtig begriff, lagen die Bilder klar vor meinem inneren Auge: wie Edge sich an der Tresortür zu schaffen gemacht hatte und schließlich Dorian den Kompass in die Hände drückte.

Das Desimeter? Seine Worte waren so klar in meinem Kopf, als hätte Adam sie ausgesprochen. Was wollt ihr damit?

»Das werde ich dir … nicht … sagen«, presste ich abermals hervor, während ich mich verzweifelt darauf konzentrierte, meine Gedanken vor Adam abzuschotten. Hohe Mauern stellte ich mir vor – wie sie sich vor der Tür zwischen seinem Geist und meinem Stein für Stein aufbauten, bis kein Durchkommen mehr war.

Ein Moment der Stille … tief in unser beider Bewusstsein.

Dann sprach er wieder. »Was die Rebellen antreibt, ist gefährlich, Rayne. Auch für dich. Wieso verstehst du das nicht?«

Ich sah Adam an. »Nur, weil sie die Weltordnung, die uns vom Mirror auferlegt wird, nicht akzeptieren wollen, sind sie noch lange nicht gefährlich. Im Gegenteil.«

Adams Nasenflügel bebten. Er hob seine Würfel, diesmal so plötzlich, dass ich sie nur aufblitzen sah, bevor Ignis darauf reagieren konnte. Er manipulierte die Zeit, und bereits im nächsten Moment hatte Adam seine Hand um meine gelegt. Sein Griff auf meine Finger war dabei so unnachgiebig, dass ich keine einzige Geste würde ausführen können.

Zumindest nicht, ohne ihm echten Schaden zuzufügen.

Ungläubig starrte ich Adam an, doch er hob nur die Schultern, kein Funken Reue in seinen Augen. »Nicht nur du hast trainiert. Meine Würfel gehorchen mir jetzt vollständig.«

Ich reckte das Kinn. »Du benutzt auch nur Magie, vergiss das nicht. Und die kann ich jederzeit zerstören, wenn ich es will.«

»Hm«, machte Adam. »Du wirkst ganz schön angetan von deinem Sigil, wenn man bedenkt, dass du es so unbedingt loswerden willst.«

»Es geht nicht nur um Ignis, und das weißt du! Es geht um Freiheit. Um deine Freiheit, um Dinas, Celines, Matts  …« Ich presste die Lippen zusammen, so fest ich nur konnte. Bevor ich etwas sagte, das ich gleich bereuen würde.

Adam stand so dicht vor mir, dass es mir den Atem verschlug. Ich hatte keine Ahnung, welches Spiel er spielte. Ich wusste nur, dass der Kloß in meinem Hals gefährlich war, genauso wie die Schauer über meinem Rücken und der Instinkt, sich ihm entgegenzulehnen. Mein Körper erinnerte sich an ihn, aber das wunderte mich nicht. Der Körper war ein Verräter, selbst wenn das Herz versuchte, es nicht zu sein.

Adams eindringlicher Blick verzehrte mich für endlose Sekunden. Er hob eine Hand vor mein Gesicht, zögerte. Erst dachte ich, er wollte mir eine lose Haarsträhne, die mir ins Gesicht gefallen war, nach hinten stecken. Dann spürte ich einen Druck an meinem Ohr. Das Syntho-Hologramm auf meinem Gesicht verschwand – ich fühlte, wie meine Konturen sich zurückformten –, und mit einem Mal standen wir uns wirklich von Angesicht zu Angesicht gegenüber.

»Ich habe dich schon gespürt, als du in London angekommen bist«, sagte Adam leise, und ich schauderte. Er hatte es die ganze Zeit gewusst? Aber wie? Die Verbindung zwischen uns war doch inaktiv gewesen.

Es spielte keine Rolle. Ich zwang meinen Körper zurück. »Lass mich los«, forderte ich knapp.

Adam nickte. »Das werde ich. Aber erst erzählst du mir, was das Auge mit dem Desimeter will.«

»Nein, werde ich nicht!«

Rayne, bitte, sagte er und – er sagte es nur in meinem Geist. Ich atmete schwer, spürte, wie die Mauer, die ich versuchte zwischen uns aufrechtzuerhalten, erste Risse bekam.

Kontrolle, behalte die Kontrolle, sang ich vor mich hin. Meine Gefühle durften mich nicht dazu verleiten, Informationen preiszugeben, die ich so lange mühevoll vor ihm abgeschottet hatte. Ich kontrollierte den Emotionsfluss in mir, brachte ihn zur Ruhe. Das gelang mir für gewöhnlich nicht so schnell, aber in mir breitete sich eine angenehme Kälte aus. Ein eisiges Gefühl, das mein inneres Feuer linderte und …

Verdammt!

»Geh raus aus meinem Kopf!«, schrie ich und ballte dabei die Hände, so gut es ging, zu Fäusten. Sämtliche Magie kanalisierte ich darin, und auch, wenn ich keine sinnvolle Geste zustande brachte, während Adam meine Finger zusammendrückte, reichte es, um ihn von mir zu stoßen. Doch kaum dass ich mich wegdrehte, um davonzulaufen, spürte ich eine Bewegung hinter mir.

Eine Bewegung … und ein weißes Aufleuchten.

Ich wirbelte herum und zwang Ignis dazu, Adams Magie abzuwehren. Er hatte ernsthaft Alius und Etas auf mich angewandt! Schon wieder!

Ohne darüber nachzudenken, stürzte ich mich mit einer Reihe schneller Schläge auf Adam. Ich war wütend, dass er mir all das zumutete, wütend, dass ich es zuließ, wütend, dass wir beiden es – was auch immer – jedes Mal so weit kommen ließen.

Meine rote Magie donnerte gegen Adams weiße. Gleichzeitig pochte die Gravur seines Sigils an meiner linken Schulter, als würde sie mich daran erinnern wollen, was uns beide verband. Als hätte ich es jemals vergessen können. Es war, als würde mein Körper noch genau wissen, wie es war, gegen Adam zu kämpfen. Ich befand mich in diesem adrenalingeladenen, tranceähnlichen Zustand, in dem keine meiner Bewegungen von vernünftigem Denken beherrscht wurde. Und bevor ich begriff, was geschah, prallte das Schwert, das in dieser Sekunde flüssig und geschmeidig aus meiner Hand herauswuchs, gegen ein Seil aus purem Licht.

Adams Magiewaffe.

Mein Herz schlug in heftigem Stakkato gegen meinen Brustkorb. Es war wie in den Träumen. In all den Träumen der letzten Monate, in denen wir uns immer wieder auf die grausamste Art und Weise getötet hatten.

Der Gedanke lähmte mich. Und obwohl meine Magie durch das Adrenalin des Kampfes in immer höheren Wellen durch mein Blut rauschte … Ich konnte ihn nicht mit dem Schwert angreifen.

Ich konnte einfach nicht.

Etwas Weiches flackerte über Adams hellgraue Augen. Er hatte das Seil, das sich zwischen Alius und Etas spannte, um meine Klinge gewickelt. Doch nun ließ er locker und zog sich zurück.

»Ich will auch nicht gegen dich kämpfen«, flüsterte er in die Stille des Raums hinein.

Ich versuchte etwas zu erwidern, nur kam kein Laut über meine Lippen.

Ein gequälter Ausdruck legte sich über Adams Gesicht. »Ich muss nur wissen, was ihr mit dem Desimeter vorhabt. Danach kannst du gehen, wenn du das möchtest. Ich habe dich beim letzten Mal nicht aufgehalten, ich werde es auch dieses Mal nicht tun.«

»Dasselbe gilt aber nicht für das Auge, oder?«

Adam hielt meinem Blick stand. »Nein. Das tut es nicht. Das Desimeter ist eines unserer mächtigsten und gefährlichsten Sigils. Es gehört in sichere Hände. Ich kann nicht zulassen, dass ihr es mit euch nehmt.«

Ich schluckte. Wir mussten miteinander reden. Offen reden. Sonst würde Adam uns immer an den Fersen hängen, und gegen ihn, Dina und Celine hatten wir keine Chance, das wusste ich.

»Adam«, setzte ich an, doch bevor ich mir überlegen konnte, was ich zu ihm sagen wollte, ertönte von draußen ein markerschütterndes Geräusch.

Erschrocken starrte ich in Richtung der Fensterfront. Dort, wo bisher nur dunkle Nacht gewesen war, flackerte für wenige Sekunden ein gleißendes Licht auf. »Was war das?«

Ich spürte förmlich, wie Adam seine Gefühle mit eiserner Faust bändigte. Und als ich zu ihm sah, war sein Gesicht vollkommen ausdruckslos. »Wie gesagt. Ich kann nicht zulassen, dass ihr das Desimeter mit euch nehmt.«