Z u meinem eigenen Erstaunen schlief ich einige Stunden. Wobei es mehr ein ständiger Halbschlaf war, bei dem ich mich unruhig auf dem harten Feldbett hin und her rollte und dabei immer wieder fragte, was die letzten Stunden zu bedeuten hatten – und was nun vor uns lag.
Adam hatte von der Athame gewusst. Schon damals, als er mir mein Sigil angelegt hatte, und auch, als es darum gegangen war, ob er und ich eine Zukunft haben würden. Er hatte darauf beharrt, dass wir unseren Pflichten folgen mussten, und erklärt, es gäbe keine Alternative.
Ich hatte immer noch keine Ahnung, ob Adam wirklich an die Existenz der Athame glaubte, aber irgendetwas passte hier nicht zusammen, das spürte ich ganz deutlich. Bei Adam war nichts einfach, seine Beweggründe waren mir so unklar wie damals bei unserer ersten Begegnung. Aber das war wohl die Konsequenz dafür, dass ich die Sieben verlassen hatte.
Und damit musste ich nun leben.
Adam war mit Dina und Celine für die Nacht in den Mirror zurückgekehrt, um dort Vorbereitungen für die Reise zu treffen, während der Rest von uns beim Hangar blieb.
Er hatte keine Sicherheitsvorkehrungen getroffen, um die Rebellen überwachen zu lassen, er hatte nicht einmal Zorya oder andere Magiehäscher bei uns gelassen. Warum auch? Solange er im Besitz des Desimeters war, würde Nessa ohne ihn nirgendwohin gehen, das wusste er genau.
Ich hatte mich am späten Abend von meiner Mutter verabschiedet, die mit einigen der Rebellen in einen der nahe gelegenen Stützpunkte des Auges reisen würde. Sie ging unter Protest, doch Nessa hatte sie wegen ihrer Verletzung für untauglich erklärt. Ich versprach ihr das, was sie von mir hören wollte; nämlich auf mich aufzupassen und mich zu melden, sobald es möglich war. Dann hatte ich ihr steif zugewunken, während sie in das Flugzeug eingestiegen war.
Als ich am Morgen aufwachte, war Lily bereits mit Dorian, Edge, Blicker und anderen Rebellen mit der Vorbereitung beschäftigt. In Uniform und mit hochgebundenen Haaren hätte ich sie inmitten der zwei Dutzend Soldaten, die in der Hangarhalle mit Taschen, Rucksäcken und Waffen hantierten, beinahe übersehen. Außerdem teilten sie untereinander Kampfsigils auf – offensive, defensive und illusionäre –, zudem eine Menge Grains, die jeder von ihnen wie Munition in Gürteln und Hosentaschen verstaute.
Kaum dass Lily mich sah, winkte sie mich herbei, um mir dann mein bereits fertiges Gepäck in die Hand zu drücken, samt Wechselkleidung und Essensrationen.
»Konntest du ein bisschen schlafen?«, fragte sie.
Ich nickte. »Ja«, sagte ich bloß und schaute dann zu Dorian und den anderen, die mich nach dem gestrigen Schlamassel keines Blickes würdigten. Ich überlegte kurz, mich bei Dorian zu entschuldigen. Schließlich hatte ich unseren Plan platzen lassen, auch wenn es nicht meine Absicht gewesen war. Aber er hatte längst den Rucksack geschultert, und Edge und Blicker folgten ihm nach draußen.
»Sie sind bloß angespannt«, sagte Lily, als sie meinen Blick bemerkte. »Der komplette Plan ist hinfällig. Monate Arbeit einfach umsonst. Jetzt können wir nur noch tun, was der Mirrorlord uns tun lässt.«
Ich wendete mich zu ihr. »Lil, es tut mir so …«
Sie hob die Hand. »Es ist nicht deine Schuld«, erwiderte sie eindringlich. »Du kannst nichts für diese Verbindung zwischen euch. Aber … du musst mir eins versprechen, ja?«
Ich zögerte. »Was denn?«
»Vergiss nicht, warum du damals für dich selbst eingestanden bist, ja? Gib nicht nach, nur weil du ihn liebst.« Lily lächelte traurig, dann strich sie mir sanft über die Wange, schulterte ihren Rucksack und folgte den Jungs nach draußen.
Ich war beinahe erleichtert, als Nessa uns zusammenrief. Sämtliche Rebellen versammelten sich auf dem Flugfeld. Dort warteten wir auf die Ankunft von Adam und den anderen. Aus den Medien hatte ich mitbekommen, dass das Treffen auf dem Plateau zwischen den Regierungen Primes und dem Mirror wie geplant stattfinden würde. Ich vermutete, dass Agrona Soverall die Gespräche leiten würde.
Wie es Nessa ging, war nicht zu erkennen. War sie außer sich vor Wut, dass Adam nun über ihre Pläne bestimmte? Oder sah sie darin vielleicht sogar einen Vorteil? Es war unmöglich zu sagen, Nessas Miene war undurchdringlich.
Um Punkt zehn Uhr leuchtete schließlich eine der Türen auf, die vom Flugfeld in den Hangar führte. Einige der Rebellen konnten sich ein ungläubiges Keuchen nicht verkneifen, als die Magie vom Schloss der Tür nach außen drang, sich in schwungvollen Linien wie eine Blüte entfaltete, bis sie die gesamte Fläche der Tür damit bedeckt hatte.
Ich war schon mehrfach mit Celine durch einen dieser Korridore gelaufen, die ihr Sigil erschaffen konnte. Aber der Anblick brachte auch mich noch immer zum Staunen. Es dauerte einen Moment, bis das intensive Licht blasser und der Korridor sichtbar wurde. Zorya und einige Magiehäscher tauchten auf. Danach schließlich Adam, Dina, Celine und …
»Cedric«, hauchte ich ungläubig. Ich hatte nicht mit ihm gerechnet, doch nun machte ich instinktiv einen Schritt nach vorne, als ich ihn hinter den anderen erkannte.
Mit jedem Meter, den er näher kam, spürte ich, wie sich eine Gänsehaut auf meine Arme legte. Cedric saß in einem Rollstuhl und … er sah schlecht aus. Seine blonden Locken wirkten fahl, und unter der feinen runden Brille zeichneten sich tiefe Augenringe ab. Außerdem wirkte er noch dünner, als er es ohnehin schon gewesen war.
Mein Herz wurde schwer. Neben Matt und Dina war Cedric mir während meiner Zeit im Mirror am meisten ans Herz gewachsen. Natürlich wusste ich, dass er krank war. Der Grund dafür war eine der dunkelsten Seiten an den Dark Sigils. Während die Träger-Erben von der Magie ihrer Blutlinie gesund und stark gemacht wurden, verkümmerten die jüngeren Geschwister. So wie Adams kleine Schwester Priscilla, die einen Herzfehler hatte. Und wie Cedric, der an einer Lungenkrankheit litt.
Dass es ihm schlechter zu gehen schien als bei unserer letzten Begegnung, traf mich bis ins Mark.
Als sich jedoch ein freudiges Lächeln auf Cedrics Mund legte, musste ich es sofort erwidern. Hi Ray, formte er lautlos mit seinen blassen Lippen, und ich hob die Hand zum Gruß. Viel lieber hätte ich Cedric einfach umarmt, aber ich zwang mich, an Ort und Stelle stehen zu bleiben – genau zwischen den zwei verfeindeten Gruppen, die sich nun auf dem Flugfeld gegenüberstanden.
»Celine bringt uns mit ihrem Sigil zum Außenposten«, sagte Adam ohne jeglichen Gruß. »Von dort aus sind es gute fünf Stunden bis nach Nova.«
»In Ordnung«, entgegnete Nessa knapp. Ich dagegen blinzelte verwirrt und löste den Blick von Cedric.
»Also ist Nova ein Ort?« Noch immer hatte mir niemand etwas Genaueres gesagt, wo die Reise hingehen würde. Nessa hatte den Rebellen nur Anweisungen gegeben, für einige Tage zu packen.
»Es ist eine Stadt«, sagte Adam.
»Und dahin brauchen wir fünf Stunden?«, fragte ich ungläubig, und mein Blick wanderte zu Celine. »Wieso bringst du uns nicht direkt dorthin statt zu einem Außenposten?«
Celine verdrehte die Augen. »Ganz einfach. Weil es in Nova keine Türen gibt.«
Keine Türen.
In der ganzen Stadt nicht?
Ich hatte Fragen. So viele Fragen. Aber bevor ich sie stellen konnte, trat Celine nach vorne, den Saphirschlüssel bereits in der Hand. Es war wie gestern – sämtliche Rebellen des Auges starrten sie und ihr Dark Sigil mit einer Mischung aus Faszination und Ehrfurcht an. Nur Nessa blieb unbeeindruckt.
Celine lief auf die Tür zu, aus der sie und die anderen gerade erst gekommen waren. Dort steckte sie den Saphirschlüssel hinein, drehte ihn und wartete, bis sich der Magiekorridor vollständig gebildet hatte.
Ich versuchte, Adam einen Blick zuzuwerfen. Unsere Verbindung lag weiterhin brach, ich konnte keinen seiner Gedanken auffangen. Woran das lag, war mir ein Rätsel – schließlich hatte ich ihn gestern glasklar hören können. Aber Adam beachtete mich nicht. Er wechselte ein paar Worte mit Dina, dann setzte er sich in Bewegung und tauchte, gefolgt von Celine, Cedric, Dina und Zorya, in den Gang aus Leere und Magie. Es dauerte nur Sekunden, bis alle anderen ihm folgten.
Das Erste, was mir entgegenschlug, war Hitze, gefolgt von Sand, der mir rau ins Gesicht blies. Ich hielt die Hand vor Augen, blinzelte. Wir waren umgeben von halbverfallenen Steinmauern und Wegen, die nur aus Sand bestanden – keine Straßen, keine richtigen Häuser, außer dem Haus direkt hinter uns, dessen Tür noch immer in dem Magiekorridor mündete.
»Wir bleiben nicht hier«, sagte Adam an den Tross gerichtet. »Folgt uns.«
Damit gingen er, Zorya, Dina und Celine voran. Cedrics Rollstuhl hatte mit dem Sand keine Probleme – wahrscheinlich funktionierte auch das im Mirror irgendwie mit Sigils –, jedenfalls folgte er ihnen mühelos.
Wir liefen entlang der Ruinen, die einst vielleicht Behausungen gewesen waren, ich wusste es nicht. Es wirkte wie ein Wüstendorf, das aufgegeben worden war, vor vielen, vielen Jahren. Der Sand hatte seither alles überweht, und jeder der engen, verschlungenen Wege, die von den Mauerresten umgeben waren, sah in meinen Augen völlig gleich aus. Doch Adam wusste offenbar sehr genau, wo es langging, und auch Nessas Blick war fokussiert nach vorne gerichtet.
»Schön, dich wiederzusehen«, sagte da auf einmal jemand neben mir. Es war Cedric, der sich zu Lily und mir hatte zurückfallen lassen. Er stellte sich kurz vor und gab Lily die Hand, dann schaute er zu mir. »Geht es dir gut?«
»Ja«, sagte ich und schluckte eine Erwiderung wie Sollte ich das nicht eher dich fragen? sogleich herunter. Cedric wusste sicherlich von allen am besten, wie er aussah. Ich musste es ihm nicht noch unter die Nase reiben. Aber mein Magen verdrehte sich förmlich vor Sorge.
Lily musterte mich kurz und ließ sich dann zu Dorian und den anderen zurückfallen. Wieder spürte ich einen kurzen Stich. Sie kannte mich so gut und wollte mir von sich aus Freiraum geben. Ich sah ihr einen Moment hinterher, dann legte ich eine Hand auf Cedrics Schultern. »Ich habe mir so gewünscht, dass du dabei bist«, sagte ich und freute mich, als wieder ein Lächeln auf seinen Lippen auftauchte.
»Celine war dagegen. Aber Adam hat zugestimmt, weil er weiß, dass ihr mich in Nova brauchen werdet.«
»Was ist das für eine Stadt? Kennst du sie? Warst du schon einmal da?«
Cedric schüttelte den Kopf. »Nein. Nova wird nur vom Ersten Träger und der Höchsten Magistratin besucht. Adam war selbst noch nie dort. Ich dagegen habe alles über Nova gelesen.«
»Natürlich hast du das«, neckte ich und seufzte gleichzeitig. Den anderen war das Wissen über Städte wie Nova vermutlich schon in der Kindheit eingepflanzt worden. Auch ich hätte das gelernt, wenn ich wie sie im Mirror aufgewachsen wäre. Gefangen zwischen den Welten, schoss es mir durch den Kopf. Das bist du – und wirst es auch immer bleiben.
Cedrics kluger Blick ruhte auf mir. »Wir mögen vielleicht von Nova gehört haben. Aber wir sehen es auch zum ersten Mal, Rayne. Genau wie du.«
Ich atmete tief ein und aus. Wie konnte er so genau erraten, was in mir vor sich ging?
»Es ist jedenfalls schön, euch wiederzusehen«, sagte ich schließlich.
Cedric nickte. »Ja, finde ich auch. Du hast in den letzten Monaten gefehlt. Uns allen natürlich, aber …« Er zögerte, und was auch immer er hatte sagen wollen – er schluckte die Worte herunter. »Gut, dass du jetzt hier bist.«
Ich weiß nicht, ob ich bleibe, schoss es mir durch den Kopf, ich behielt es aber für mich. So schnell, wie sich die Dinge änderten, konnte ich ohnehin nur bis zum nächsten Tag denken. Alles Weitere würde sich fügen. Irgendwie.
»Habt ihr etwas von Matt gehört?«, fragte ich mit gedämpfter Stimme. Der Schmerz, der sich auf Cedrics Gesicht abzeichnete, war im Grunde Antwort genug.
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Er und Sebastian sind wie vom Erdboden verschwunden.«
»Und Nikki? Sie war beim Empfang auf dem Plateau, wusstet ihr das?«
»Ja. Sie hatte wohl mit Adam Kontakt. Die Situation ist schwierig. Aber angeblich hat sie Sebastian seit Wochen nicht mehr gesehen.«
Ich runzelte die Stirn. »Und das glaubt ihr?«
»Ich fürchte, für den Moment haben wir keine andere Wahl. Sebastian wird früher oder später wieder auftauchen. Und dann …« In Cedrics Gesicht erschien ein entschlossener Ausdruck, der seine Krankheit, seine Blässe und seine Zerbrechlichkeit schlagartig überdeckte. »… Dann holen wir Matt zurück.«