A ls wir bereits über vier Stunden unterwegs waren, kam das Shuttle leicht ins Schlingern. Die Glasscheiben vibrierten, und Dorian warf uns einen unruhigen Blick zu.
»Sieht so aus, als würden wir in die Nähe mächtiger Barriere-Sigils kommen«, sagte er leise, eine Hand an die Wand des Shuttles gelegt. »Die Sigil-Motoren, die in diesen Dingern verbaut sind, würden sich von Witterungen nicht beeinflussen lassen. Die Hydraulik kann eigentlich nur verrücktspielen, wenn eine Gegenmagie auf sie wirkt.«
»Hast du das von deiner Oma gelernt, oder wie?«, fragte Dina von ihrem Sitz aus. »Sag bloß, du bist ihr Schmiede-Lehrling. Irgendwelche weiteren Talente, die wir kennen sollten?«
Dorian warf ihr einen kühlen Blick zu. »Ich kann auch hervorragend hochnäsige Mitglieder der Sieben ertragen.«
Dina lachte – von uns allen fand sie die ganze Situation wohl mit Abstand am unterhaltsamsten. Oder sie kaschierte damit bloß ihre Anspannung.
Als das Shuttle ein paar Minuten später anhielt und wir ausstiegen, schlug uns eisige Wüstenluft entgegen, die von dicken Sandschwaden durchzogen war. Alles war in einen konstanten Zustand bräunlicher Düsternis gehüllt, unterbrochen nur von vereinzelten Sonnenstrahlen, die sich bis zur Erde durchkämpften.
Die Temperatur bohrte sich sofort in meine Haut. Als wir auf halbem Weg die Rampe heruntergelaufen waren, war die Kälte mir tief in die Knochen gefahren.
»Ich w-wusste nicht, dass es in der Wüste so k-kalt sein kann«, murmelte ich und versuchte vergeblich, den Schauer zu unterdrücken, der mich durchlief.
Da wurde etwas um meine Schultern herumgelegt. Es war Adams Mantel. Als ich zu ihm schaute, fixierte er mich bloß.
Nimm ihn einfach, in Ordnung?, schob er den Gedanken in meine Richtung, und bevor ich ihm eine Grimasse zuwerfen konnte, war er schon weitergelaufen.
»Steht dir«, sagte Dina vergnügt. »Besonders mit dem mürrischen Gesichtsausdruck.«
»Sehr witzig«, raunte ich. Die Gruppe setzte sich in Bewegung und verteilte sich wie auch schon die letzten Male: Die Sieben liefen vorneweg, während das Auge sich eher hinten hielt. Ich ließ mich zu Lily zurückfallen, die neben Edge, Blicker und Dorian durch den Sand stapfte.
»Und?«, brach Dorian zuerst die Stille. »Willst du uns jetzt endlich mal einweihen, was gestern mit dir und Tremblett gelaufen ist?«
»Was genau meinst du?«, fragte ich Dorian, weniger, weil ich nicht wusste, worauf er hinauswollte, sondern weil ich Zeit brauchte, um meine Gedanken zu sortieren.
War es klug, ihm jetzt davon zu erzählen?
»Bei dem Gespräch im Hangar habt ihr euch minutenlang angestarrt, ohne etwas zu sagen«, bohrte Dorian weiter. »Das war auch der Grund, warum er von der Athame wusste, oder?«
Ich zögerte und schaute unsicher zu Lily. Doch sie nickte nur, ein zuversichtliches Lächeln auf den Lippen.
»Also?« Dorian schaute mich erwartungsvoll an.
Ich gab mir einen Ruck. Er würde es in den nächsten Tagen so oder so herausfinden. »Es besteht eine Verbindung zwischen seiner Magie und meiner«, begann ich. »Ich kann Adam … denken hören. Manchmal.«
Dorians Augen weiteten sich. »Und er dich auch?«
Meine inneren Abwehrmechanismen kamen sofort in Gang. »Ohne mich wärt ihr gar nicht erst auf das Plateau gekommen. Ich hätte so oder so mitkommen müssen! Außerdem sind wir jetzt immerhin hier.«
Dorian wirkte offensichtlich wenig überzeugt. »Du hättest es uns sagen müssen. Wir haben alles dafür getan, um bloß nicht von dieser einen, bestimmten Person entdeckt zu werden. Und du hast eine direkte Telepathieverbindung zu exakt dieser einen, bestimmten Person? Hast du sie noch alle? Er hätte uns doch schon vor Wochen finden können!«
»Es ist keine Telepathie!«, blaffte ich zurück und versuchte dabei, meine Stimme halbwegs gedämpft zu halten, damit uns nicht der gesamte Tross hörte. »Die Verbindung war auch nicht aktiv, als wir in London angekommen sind.« Ich schluckte, biss mir auf die Unterlippe. »Zumindest nicht am Anfang.«
Dorian schnaubte bloß und lief dann leise vor sich hin fluchend weiter durch den aufgewirbelten Wüstensand.
Wir schwiegen. Edge und Blicker sahen sich vielsagend an, aber enthielten sich eines Kommentars. Es war Lily, die sich zu mir beugte. »Es ist nicht deine Schuld«, wiederholte sie leise, was sie mir schon einmal gesagt hatte, und ich nickte. Worte brachte ich gerade keine mehr zustande.
Als Adam und die anderen schließlich zum Stehen kamen, lag vor uns … nichts. Keine eingefallenen Mauern, keine Ruinen. Wir waren vielleicht drei oder vierhundert Meter von den Shuttles geradewegs in die Wüste gelaufen, und jetzt standen wir … mitten im Nirgendwo.
»Soll hier die Stadt sein?«, fragte ich verwirrt.
»Ja.« Es war Nessa, die geantwortet hatte. »Wir sind da.«
Ich drehte mich zu Lily. Wo?, formte ich mit den Lippen und schaute dann zurück auf die Abermillionen Tonnen von Sand um uns herum. Es war rein gar nichts zu sehen. Der Horizont war hier so gerade, dass man ein Lineal hätte darauflegen können. Doch natürlich hatte ich inzwischen genügend Reisen ins Unbekannte unternommen, um zu wissen, dass etwas hier sein musste.
Adam lief einige Schritte vor. Er überprüfte irgendetwas auf dem Spectum-Sigil, das er in der Hand hielt. Ich rechnete bereits damit, dass er sich wieder in die Hocke begeben würde, um irgendeinen versteckten Geheimschalter oder etwas Ähnliches zu drücken. Aber er drehte sich nur etwas nach links und lief dann weiter.
Wir folgten. Erst nach ein paar Schritten merkte ich, dass auf dem Sandboden seltsame Steinformationen zum Vorschein kamen, immer mehr, je weiter wir gingen. Sie waren in Rechtecken angeordnet, und die Steine hatten unterschiedliche Farben: Schwarz, Rot und Weiß. Einige von ihnen wirkten, als wären sie in der Mitte entzweigebrochen, ihre Kanten waren scharf und zerklüftet. Und in ihrem Inneren … schien Sand herauszuquellen. Seltsam schimmernder Sand, der weder weiß noch rot noch schwarz war, sondern …
… Blau. Winterblau.
So wie Magie.
Ich beugte mich zu einer der Steinformationen herab, schnappte mir eine Faust der seltsam leuchtenden Körner und ließ sie zwischen meinen Fingern hindurchrinnen. Tatsächlich. Sie rochen ganz leicht nach Aschezucker.
Als ich wieder zu Adam schauen wollte, bemerkte ich, dass er verschwunden war. Auch von Zorya war nichts mehr zu sehen, und ein Großteil der Magiehäscher war … einfach weg. Lily und Dorian dagegen waren wie erstarrt stehen geblieben und schauten auf einen Punkt in der Wüste, wo bereits Fußspuren vom Wind verweht wurden.
»Nova liegt in Prime, aber auf einer anderen … Ebene«, erklärte Cedric an mich gerichtet. »Die Stadt will sich vor allen Eindringlingen schützen, deshalb gibt es auch keine Türen. Man kann Nova nur betreten, wenn man exakt an der richtigen Position steht und der Magie zeigt, dass man die Ebene wechseln möchte. Ansonsten bleibt Nova verborgen.«
»Klingt komplizierter, als es ist«, fügte Dina hinzu. »Lauft einfach weiter und seid bereit, der Magie zu folgen. Mehr ist es nicht. Ihr wollt nach Nova. Macht den Gedanken wahr.«
Mach es wahr. Dieselben Worte hatten Dina und Adam immer wieder zu mir gesagt, als sie Ignis mit mir trainiert hatten. So schien alles zu funktionieren, wenn es um Magie ging. Man musste das, was man sich vorstellte, mit purem Willen zur Wirklichkeit machen.
Bevor ich wusste, was geschah, machte Dina einen Schritt nach vorne und … verschwand. Von jetzt auf gleich war sie einfach nicht mehr zu sehen. Celine und Cedric folgten, dann Nessa und die ersten Rebellen, die ihr mit ehrfürchtigen Mienen hinterherliefen.
»Erinnerst du dich noch daran, als wir die Spieleabende im Waisenhaus für total aufregend gehalten haben?«, flüsterte Lily mir zu. Ich lächelte sie an, hakte mich bei ihr unter und zog sie nach vorne. Dann liefen Lily und ich hinein in die Wüste, die Sekunden später keine Wüste mehr war.
Ich konnte nicht glauben, was ich direkt vor mir sah.
Es war wie eine Fata Morgana, die von jetzt auf gleich einfach in der Wüste aufgetaucht war. Statt der eisigen Nachtluft spürte ich die Hitze der Sonne auf meinem Kopf und das Brennen des Sandes unter meinen Schuhsohlen.
Ich drehte mich noch einmal um, dorthin, von wo wir hergekommen waren. Doch diese Welt gab es nicht mehr. Aus der Wüste war eine Oase geworden, deren sattes Grün uns einhüllte. Von den Palmen und hohen Bäumen, die uns umgaben, drang das Kreischen von Vögeln zu uns.
Staunend zog ich Adams Mantel von meinen Schultern und hielt ihn an meine Brust gedrückt. Hinter uns: dichter Dschungel. Und vor uns: eine beeindruckende Insel, deren Mittelpunkt ein kegelförmiger Berg bildete. Entlang seiner Hänge erstreckte sich eine Stadt mit uralt aussehenden weißen Gebäuden, die sich spiralförmig den Berg hinaufzogen. Dazwischen leuchteten blaue Wasserkanäle.
»Absoluter Wahnsinn«, flüsterte Lily, und ich nickte wie benommen. Logisch betrachtet, machte all das keinen Sinn. Wo war die Wüste hin? Die Dunkelheit? Die Kälte? Es war, als hätten wir uns einfach an einen anderen Ort der Erde gebeamt.
Wir standen vor der Stadt, und der Boden des Dschungels schien feucht zu sein. Meine Füße sanken im Sand ein, der eine schöne helle Farbe hatte, vollkommen anders als der Strand in Los Angeles. Die Luft roch frisch und lebendig und ganz schwach durchzogen von … Aschezucker.
Nova, sagte ich den Namen in Gedanken und wusste nicht, was ich mir vorgestellt hatte. Alles, nur nicht das: die weißen Überbleibsel einer alten Zivilisation, angeordnet in dieser wundersamen Spirale, das blaue Wasser in den Kanälen, das üppige Grün der Palmen dazwischen … es wirkte, als hätte man mich in eine paradiesische Illusion gezogen.
»Es ist die erste Stadt, die von denjenigen erbaut wurde, die sich später die Sieben nannten«, sagte Nessa zu Dorian. »Hier hat alles seinen Anfang genommen.«
»Anfang?«, fragte Dorian. »Wie meinst du das?«
Nessa legte den Kopf schief, während sie ihren Enkel betrachtete. »Die Magie. Die Quelle der Magie liegt hier. Unter dem Berg, direkt in der Mitte der Stadt.«
Ich glaubte, mich verhört zu haben. »In Prime ?«, hauchte ich und versuchte nicht einmal, meine Fassungslosigkeit zu überspielen. Die Quelle für die Magie lag in der unteren Welt? Schon immer? Während sich die Menschen von den Oberen abhängig machten, um etwas von deren Reichtum abzubekommen?
Es war einfach nicht zu glauben.
»Aber …«, setzte ich nur mühsam an, »aber ich dachte, die Magie kommt aus dem Nexus.«
Am Nexus, der irgendwo mitten im Mirror lag, hatte Adam mir damals Ignis angelegt. Ich erinnerte mich noch genau daran, wie literweise blaue Flüssigkeit in ein großes Becken geflossen war. Wie hatten sie es damals genannt? Dass die Magie dort entsprang ?
Ich war mir deshalb sicher gewesen, dass die Magie am Nexus ihren Ursprung hatte. Jetzt wurde mir allerdings klar, dass niemand das je behauptet hatte.
»Der Nexus ist der Ort, an dem die Magie von Prime in den Mirror befördert wird«, sagte Nessa zu mir. »Von dort wird sie in die Städte verteilt. Aber die Quelle selbst liegt in Nova.«
»Wie ein Brunnen?«, fragte ich sie, und Nessa nickte.
»So ähnlich, ja.«
Die Gruppe setzte sich wieder in Bewegung, während die meisten Rebellen – sogar die Magiehäscher – sich immer noch staunend umblickten. Adam führte uns über einen gepflasterten Weg hinein in die Stadt, vorbei an hohen, weißgetünchten Mauern, die den ersten Spiralring umschlossen.
Die Gebäude waren von einem seltsamen Glanz überzogen, voller Lichtreflexe, die mich immer wieder blendeten. Die Sonne fiel hinab durch die ausladenden Palmen, die entlang des Weges wuchsen. Die Häuser schienen jedoch verwaist, und das, was Celine gesagt hatte, stimmte: In Nova gab es keinerlei Türen. Lediglich Durchgänge, bei denen hier und da noch ein Stoffvorhang die Innenräume abschirmte.
Wir folgten dem einzigen Pfad, den es gab und der uns in einem konzentrischen Kreis über die erste von vielen Steinbrücken führte, die offenbar gebaut worden waren, um die Ringe der Insel miteinander zu verbinden.
Die Stadt war atemberaubend schön, aber alles wirkte völlig aus der Zeit gefallen, wie eine antike Zivilisation. Es gab Springbrunnen und Streitwagen, die ungenutzt am Wegrand standen. Je weiter wir den Berg erklommen, desto dichter standen die Häuser und desto enger wurden die Landringe. Nur ganz oben auf dem Gipfel thronte auf einer Freifläche ein riesiges Gebäude, das im Sonnenlicht silbern leuchtete.
Es war nicht so hoch wie der Palastturm von Septem, aber dafür breit und solide, und wenn nicht die hundert Fenster und Balkone gewesen wären, die die Fassade zierten, hätte ich glauben können, es sei ein massiver, gigantischer Block glitzernden Steines.
»Wie ist Nova entstanden?«, fragte ich Cedric. Er fuhr neben mir den Berg hoch, und sein Rollstuhl gab ein leises Sirren von sich.
»Sicher, dass du das wissen willst?«, gab er zurück. »Die Geschichte Novas umfasst inzwischen eine dreißigbändige Chronik.«
Ugh. »Die Kurzfassung?«, bat ich.
Cedric grinste. »Die Historiker tappen über die Zeit, in der die Magie gefunden wurde, noch sehr im Dunkeln. Aber es muss grob in den Jahren gewesen sein, als der nördliche Teil des afrikanischen Kontinents als Provinz zum Römischen Reich gezählt hat. Kurz vor dessen Zusammenfall. Die Magiequelle, die unter Nova liegt, wurde damals von einem Nomadenstamm gefunden. Zumindest steht es so in den Geschichtsbüchern. Gerüchte über eine wundersame, blaue Flüssigkeit verbreiteten sich schnell, und eine Gruppe von Entdeckern kam hierher. Das Nomadenvolk teilte die Magie mit den Gästen, weil sie davon überzeugt waren, dass ihr Fund allen Menschen gehören sollte. Doch als die Entdecker wiederkamen, hatten sie Waffen bei sich und wollten die Magie für sich selbst. Also töteten sie das Nomadenvolk, damit niemand je von dem Geheimnis erfahren sollte.«
Ich seufzte innerlich. Ich hatte es ja wissen wollen.
»Und lass mich raten: Diese Leute wurden die ersten Sieben?«
Cedric schüttelte den Kopf. »Nein, aber ihre Kinder. Es brauchte Jahrzehnte, um die richtigen Gefäße herzustellen, die Magie bündeln konnten.«
»Die Dark Sigils«, sagte ich.
»Ja.« Cedric nickte. »Sie wurden hier erschaffen. In Nova.«
Ich drehte mich um, schaute über die vielen leeren Behausungen hinweg. In dieser Stadt gab es keinerlei Leben, zumindest hatte ich noch keine Menschenseele gesehen. Es war … gruselig.
»Und … wo sind alle?«
»Sie sind später umgesiedelt«, erklärte Cedric. »In den Mirror. Nur eine Handvoll Leute wurde in Nova zurückgelassen, um die Stadt und die Quelle zu bewachen. Wir nennen sie die Hüter . Sie leben im Ewigen Tempel, im Zentrum der Stadt, und werden angeführt vom Ältesten. Dorthin gehen wir gerade.«
Ich fuhr im Laufen mit einer Hand über die Hausmauer direkt neben mir. Kleine Sukkulenten und Weinreben ragten aus den Spalten zwischen den Steinen heraus, doch es gab kaum Risse darin. Obwohl diese Stadt Jahrtausende alt war, sah sie nicht aus, wie Ruinen sonst aussehen. Nicht verfallen, marode, brüchig oder nur anhand weniger Steinformationen überhaupt noch erkennbar, sondern vollständig intakt und … sehr altertümlich.
»Nova ist eingefroren«, sagte Cedric, der die Frage in meinem Gesicht offenbar hatte ablesen können. »In der Zeit, meine ich. Und das schon sehr lange.«
Ich öffnete den Mund, schloss ihn wieder. »Du meinst, die Zeit läuft hier nicht weiter? Gar nicht?«
»Na ja, für die Hüter sind genauso viele Jahre vergangen wie für uns. Sie erleben die Zeit wie wir, können sich bewegen und all das, aber ihre Körper altern so langsam, als wären in hundert Jahren nur ein paar Tage vergangen. Die Zeit vergeht in so winzigen Schritten, dass es in Nova schon sehr lange keine Nacht mehr gegeben hat. Die Gebäude bleiben erhalten, die Pflanzen benötigen kein Wasser, und die Menschen … sterben nicht.«
Ich verstand, was Cedric mir sagte. Aber ich verstand es nicht. Das bedeutete ja: Diese Hüter waren schon seit einer Ewigkeit hier – dazu verdammt, Nova zu bewachen, ohne jemals ein richtiges Leben führen zu können.
»Und das alles nur wegen der Magiequelle?«
Cedric nickte. »Ja. Sie wurde schwächer, je mehr Magie die damaligen Sieben förderten. Also verlangsamten sie die Zeit rund um die Quelle so stark, dass sie niemals versiegen würde. Und dieser … Stillstand … er strahlt auch auf den Rest der Stadt aus. Bis alles Leben, alles, was mal vergänglich war, praktisch für immer konserviert ist.« Cedrics Blick wanderte kurz zu Adam. »Nicht einmal Alius und Etas können die Zeit in Nova beeinflussen.«
Eine Gänsehaut zog sich bei Cedrics Worten über meine Arme. »Du meinst … er kann seine Magie hier nicht anwenden?«
»Na ja, die coolen Angriffsgesten schon«, sagte Cedric und grinste amüsiert zu mir hoch. »Nur die Zeit zu manipulieren ist in Nova unmöglich. Aber keine Sorge. Adam wusste, worauf er sich einlässt. Und unter uns: Ich glaube, es tut ihm mal ganz gut, nicht jede Entscheidung und jede Handlung sofort zu hinterfragen. Quasi ein kleiner Magie-Detox.«
Ich schnaubte, und während wir den Weg in Richtung des großen Gebäudes an der Hügelspitze weiter folgten, wanderte mein Blick immer wieder unwillkürlich zu Adam. Sein Bewusstsein war oberflächlich so ruhig wie der Bergsee, der seine Magie symbolisierte. Erst tief am Grund spürte ich die Anspannung in ihm. Und wie sehr er diesen Kontrollverlust verabscheute.
Wir stiegen die letzten glatten Stufen hinauf und standen oben zwei Frauen gegenüber, die unseren Weg blockierten.
Ich hatte keine Ahnung, was ich erwartet hatte, als Cedric mir erzählt hatte, die Bewohner in dieser Stadt wären schon seit Jahrhunderten hier gefangen. Am ehesten wahrscheinlich wettergegerbte Gesichter wie das von Agrona Soverall. Doch im Gegensatz zu der Magistratin, die ihr Lebensalter mit Magie verlängerte, hatten diese Menschen sich offenbar der Zeit und damit auch dem Alterungsprozess vollständig entzogen. Die Frauen sahen jung aus, nicht älter als Zwanzigjährige, schätzte ich, und ihre Körper waren von einem blauen Schimmern bedeckt, als läge Magie direkt unter ihrer Haut. Auch ihre Augen leuchteten winterblau – so etwas passierte normalerweise nur, wenn jemand gerade ein Grain injiziert bekommen hatte. Diese Frauen hingegen … sie schienen kaum von dieser Welt zu sein. Es gab kein noch so kleines Anzeichen dafür, wie alt sie tatsächlich waren. Nichts, was darauf schließen ließ, dass diese Leute, in Ermangelung eines besseren Wortes, unsterblich waren.
Sie trugen weiße Gewänder, wie in einem Film über das antike Rom, und keinerlei Sigils oder andere Waffen, soweit ich es sehen konnte.
»Qui’e-so?«, fragte die linke Frau. »Qui’hi-vise?«
Bitte was?
Ich verstand kein Wort. Im Gegensatz zu Adam. Er stimmte in ein schnelles Hin und Her mit den beiden Frauen ein und alles, was aus seinem Mund kam, waren Laute, die mir völlig fremd waren. Ich starrte ihn an, unsicher, was ich fühlen sollte. Wann immer ich allein mit ihm war, konnte ich schnell vergessen, wer er war und worauf er seit seiner Geburt vorbereitet worden war. Doch in Momenten wie diesen wurde mir wieder mit aller Wucht klar, wie unterschiedlich unsere Leben verlaufen waren.
In den Schulen der Armenviertel wurden keinerlei Fremdsprachen unterrichtet. Ich konnte außer Englisch deshalb nur einen Satz Französisch und der war: Je ne parle pas français.
Nach einigen Augenblicken nickte Adam den Frauen zu, die daraufhin den Weg für uns frei machten.
»Sie werden uns durch den Ewigen Tempel eskortieren«, erklärte er, »und dann hoffentlich zum Ältesten.«
»Was für eine Sprache war das?«, flüsterte ich Cedric zu.
»Die Sprache von Nova. Sie hat sich aus dem Lateinischen abgeleitet, aber von dort an ganz eigen entwickelt. Keine Sorge, die meisten hier sprechen auch Englisch.«
»Se-diquer n’e-os«, sagte eine der Frauen und nickte in den Gang, der hinein in den Tempel führen würde. Dieses Mal brauchte ich keine Fremdsprachenkenntnisse, um sie zu verstehen, ihre Körperhaltung sagte es ganz deutlich.
Sie wollte, dass wir ihnen folgten.