21

M ein Herz klopfte, während ich durch die Korridore lief, um Adam zu finden. Es war immer noch hell, trotzdem schienen die Bewohner des Tempels eine Art von Nachtruhe einzuhalten und das, obwohl sie ja nicht schlafen mussten.

Ich war dankbar dafür, denn so konnte ich mich ungestört von der Verbindung zu Adam leiten lassen. Ich folgte seinem Gedankenstrom durch die Gänge, dann eine Treppe hinab, bis ich im ersten Stockwerk des Tempels ankam. Hier gab es anscheinend keine Wohnbereiche der Hüter, denn aus den offenen Durchgängen drang kein Ton zu mir.

Es dauerte nicht lange, da fand ich Adam in einem der Gänge. Er trug seinen schwarzen Mantel und stand mit dem Rücken zu mir. Ich spürte keine Überraschung in seinem Geist, als ich mich näherte.

Sein Kopf lag im Nacken, den Blick hielt er nach oben gerichtet. Dabei wirkte er, als wäre er gedanklich in tausend anderen Zeiten, an tausend anderen Orten, in unzähligen Möglichkeiten.

Ich stellte mich neben ihn und schwieg für einen Moment, aber ich hielt es nicht lange aus.

»Das sieht immer so anstrengend aus.«

Adam neigte den Kopf zu mir. »Was?«

»Dein ständiger Kampf, der schwermütigste Mensch der Welt zu sein.«

»Es ist ein Vollzeitjob«, erklärte er so trocken und mit einem derart finsteren Blick, dass ich gar nicht anders konnte, als ihn anzulächeln.

 

»Es tut mir leid, falls ich dich geweckt habe«, fuhr Adam nach kurzem Zögern fort. »Meine Träume sind in letzter Zeit … voll mit Erinnerungen, die ich tief vergraben habe. Und etwas in mir verzerrt sie, bis alles Echte – alles, das eigentlich mal gut war – nicht mehr zu erkennen ist.«

Ich musste an die Träume der letzten Monate denken, in denen ich – oder besser gesagt: mein Unterbewusstsein – immer wieder Adam getötet hatte, und vergrub meine Finger im Stoff des Leinenshirts, als sie zu zittern begannen.

»Welche Träume sind schon echt?«, flüsterte ich.

Adam schaute mich an. »Jeder einzelne Traum von dir.«

Ich schloss die Augen, nur eine Sekunde lang. Die ganze Zeit hielt er mich auf Distanz, und dann … dann sagte er so was.

»Was wolltest du mir zeigen?«, fragte ich. Es musste etwas mit dem Dolch zu tun haben, von dem er geträumt hatte.

Adam hielt meinen Blick noch einen Moment, dann schaute er zurück nach oben, und ich tat es ihm gleich.

Es war eins der unzähligen Wandgemälde, die den gesamten Tempel zierten, und die Szene, die hier dargestellt wurde, war mehr als blutrünstig. Ein Mann mit weißblonden Haaren saß in einem Kerker, sein Gesicht war vor Verzweiflung verzerrt. Um ihn herum schwebten Silhouetten von Geistern, die ihn zu bedrängen schienen.

Eine Gänsehaut zog sich über meine Arme. Ein weißblonder Mann im Kerker. War das etwa auch eine dieser Malerei-Prophezeiungen?

»Nein«, beruhigte mich Adam sogleich. »Das ist keine Prädiktion. Sondern einfach nur ein Bild. Die Hüter in Nova sind Chronisten – sie malen die Geschichte der Sigils. Diese Szene hier zeigt einen meiner Vorfahren.«

Erleichterung durchflutete mich. Beinahe hatte ich geglaubt, er wollte mir seine eigene furchtbare Zukunft zeigen.

Adam verzog den Mund, als hätte er einen sauren Geschmack auf der Zunge, und ich spürte eine Welle von Scham durch sein Bewusstsein gleiten, die ich nicht verstand. Ich wollte danach fragen, doch da redete er bereits weiter.

»Der Mann auf dem Bild … er heißt Alicar Payne. Er hat vor einigen Jahrhunderten gelebt und gehörte zu meiner Träger-Linie. Ich habe selbst erst vor ein paar Wochen über ihn gelesen, als ich etwas über die Verbindung zwischen dir und mir herausfinden wollte.«

»Er hat die Schicksalswürfel getragen?«, fragte ich, und nachdem Adam es bejaht hatte, setzte ich nach: »Und was soll das Bild zeigen?«

»Sein Ende.« Adam schaute kurz zu mir. »In den Chroniken stand, er hätte in dieser Nacht, die hier dargestellt wird, all sein Mitgefühl verloren. Offenbar war zuvor ein geliebter Menschen gestorben, und Alicar versuchte nächtelang, mit der Macht von Alius und Etas so weit in der Zeit zurückzureisen, um das Leben dieses Menschen zu retten. Er versuchte es viele Male, bis sein Körper beinahe von der Magie verzehrt worden wäre.«

»Hat er es geschafft?«, flüsterte ich.

Adam schüttelte den Kopf. »Alicar war davon überzeugt, dass die Würfel ihm das volle Ausmaß seiner Kräfte verweigert hatten. Er fühlte sich von seiner eigenen Magie betrogen und beschloss, sein Leid über die ganze Welt zu bringen.«

»Wie?«, hauchte ich, auch wenn ich die Antwort fürchtete.

»Indem er alle Menschen in seinem Umfeld auslöschte«, sagte Adam leise. »Er verfiel dem Wahnsinn. Sein Hass war überwältigend, und in einem Rausch entfesselte er all seine Magie. Er verschonte niemanden, nicht einmal die Sieben.«

Meine Augen weiteten sich überrascht. »Er hat die anderen Sieben getötet? Alle?«

»Beinahe, ja. Es löste die zweite der drei großen Katastrophen auf der Erde aus. Tausende starben, bevor die Dark Sigils wieder mit neuen Blutlinien verbunden werden konnten.«

»Und was passierte mit ihm?«

»Er sperrte sich selbst ein, bis sein Nachfahre alt genug war, um Alius und Etas von ihm zu übernehmen. Dann brachte er sich um.« Adam schaute mich an. »Es heißt, Alicar Payne war der erste von vielen Trägern der Schicksalswürfel, die dem Wahnsinn verfielen.«

Ich zitterte. Natürlich erinnerte ich mich noch gut daran, wie Sebastian – und sogar Adam – immer wieder davon gesprochen hatten, dass sämtliche Träger, die vor uns die Dark Sigils getragen hatten, ein Stück ihrer Seele abgaben, wenn sie starben. Und dass die Seelen, die in Alius und Etas lagen … alle neuen Träger nach und nach mit ihrer Dunkelheit umhüllten.

Ich starrte hinab auf Ignis, in dessen Magiekern das vertraute warme Flackern lag. Zwar ahnte ich, wie Adams Antwort lauten würde, und doch musste ich die Frage stellen. »Wer war es? Wer war der geliebte Mensch, wegen dem Alicar dem Wahnsinn verfallen ist?«

Für einen Moment umgab uns eine Stille, die so vollkommen war, als wäre sie ebenfalls in der Zeit eingefroren worden. Dann sagte Adam das, was ich auf keinen Fall hatte hören wollen.

»Es war die damalige Trägerin von Ignis.«

Mein Herz zog sich zusammen. Die Trembletts hatten schon immer eine Schwäche für die Harwoods. Doch es betraf offenbar nicht nur unsere Blutlinien, sondern sämtliche Träger unserer Sigils. Dieses Verlangen zwischen unserer Magie war wie ein Schwelbrand, der alles in seiner Nähe auszulöschen drohte. Und es wiederholte sich, Generation für Generation, gebrochene Herzen nach gebrochenen Herzen.

War dieses Schicksal womöglich allein in der Verbindung unserer Magien begründet? Erzeugte etwa nur sie diese Gefühle in mir?

War es … war es am Ende gar nicht echt , was ich für Adam empfand?

Angestrengt versuchte ich, diesen furchtbaren Gedanken zu verstecken, aber Adam hatte ihn längst wahrgenommen.

Und der Gedanke überraschte ihn nicht.

Schweigen breitete sich zwischen uns aus. Wir hatten uns unbewusst aufeinander zubewegt, und nun streifte Adams Hand meine, und, ohne darüber nachzudenken, umschloss ich seine Finger.

»Ich verstehe nur nicht, was das mit dem Dolch zu tun hat«, sagte ich leise zu ihm. »Du hast von einem Brief geträumt, in dem die Athame abgebildet war. Von wem hast du den bekommen?«

Adams Griff an meiner Hand festigte sich, und er führte mich sanft von dem Bild von Alicar Payne weg. »Komm mit. Ich habe dir auf der Fahrt nach Nova nicht alles erzählt, weil ich glaube, du musst es mit eigenen Augen sehen.«

 

Wir liefen in eine Art finsteres Gewölbe hinein. Als wir einen bogenförmigen Durchgang durchquerten, beugte sich Adam zum Boden und hob eine Fackel auf. Dann drehte er sich zu einem Gefäß an der Seite, und bevor ich wusste, wie er es gemacht hatte, loderte Feuer darin auf.

Ich starrte ihn an. »Du warst doch schon mal hier, oder? In Nova?«

Adam nickte. »Ja. Einmal.«

»Aber hat Cedric nicht gesagt, dass du noch nie …?«

»Ich bin heimlich nach Nova gereist. Kurz nach meiner Krönung.«

Ich schaute in den vor uns liegenden Gang, der vom flackernden orangeroten Licht beleuchtet wurde. »Und was wolltest du hier?«

Adam deutete nur in die Dunkelheit. Ich seufzte und lief langsam los.

Es dauerte nur ein paar Minuten, bis wir in einem weiteren Gewölbe ankamen. Ein schweres Eisengitter versperrte den Weg, und alles hier erinnerte mich so sehr an einen mittelalterlichen Kerker, dass mir ganz anders wurde. Aber Adam zog das Gitter mühelos zur Seite, und statt Handschellen und Folterbänken gab es nur einige Kisten sowie ein großes, flaches Objekt, das mit einem Tuch verdeckt war.

»Der Älteste hat etwas hier verwahrt, das eigentlich vor vielen Jahren hätte zerstört werden sollen«, erklärte Adam. »Auf Befehl meines Großvaters hin, Victor Tremblett.«

»Ich habe noch nie von ihm gehört«, gab ich zu.

Adam lächelte. »Ich weiß. Es ist auch nicht wichtig. Er war Mirrorlord, trug die Schicksalswürfel, heiratete eine Obere, zeugte meine Mutter. An seiner Geschichte ist nichts wirklich ungewöhnlich.«

Jeder Mensch aus Prime würde wohl widersprechen, aber ich wusste natürlich, worauf Adam hinauswollte. Victor Tremblett hatte sein Leben pflichtbewusst geführt, wie die meisten Sigil-Träger auch.

»Der Brief, den du in meinem Traum gesehen hast, war von ihm. Ich habe meinen Großvater nie persönlich kennengelernt. Als er gestorben ist, war ich noch kein Jahr alt. Trotzdem hat er mir diesen Brief hinterlassen. Er wurde mir unmittelbar nach meiner Krönung zum Mirrorlord übergeben.«

Ich runzelte die Stirn. »Wieso dir? Wieso nicht deiner Mutter, als sie Mirrorlady wurde? Sie war doch seine Tochter.«

»Das Verhältnis zwischen ihnen war offenbar völlig zerrüttet. Mein Großvater war … sehr deutlich, dass seine Zeilen für mich bestimmt waren. Und nicht für meine Mutter.«

»Das ist ziemlich … hart«, sagte ich leise.

»Vielleicht. Aber nicht überraschend. Vertrauen hatte in Septem schon immer Seltenheitswert. Gerade innerhalb der Familien.«

Ich tastete nach Adams Hand. Es war schrecklich, wie er aufgewachsen war. In diesem kalten Palast, mit einer Mutter, die ihn stets von sich ferngehalten hatte, und seiner jüngeren Schwester Pris, die seinetwegen todkrank war. Es tröstete mich, dass Adam immerhin die anderen gehabt hatte – Matt, Cedric, Dina, und ja, auch Celine.

»Mein Großvater hatte meine Mutter für eine Gefahr gehalten«, sagte Adam. »Das hat er mir in dem Brief geschrieben. Er wollte mich vor ihr warnen. Und zwar aus einem bestimmten Grund, der in diesem Gewölbe begraben liegt.«

Damit beugte Adam sich zu dem Tuch und zog daran. Es blieb an einigen Kanten hängen, also half ich ihm, das freizulegen, was darunter verwahrt worden war. Wäre Nova nicht in der Zeit eingefroren, hätte uns jetzt wohl eine riesige Staubwolke umgeben. Doch das Tuch sah aus, als wäre es erst vor Sekunden darauf drapiert worden.

Nachdem wir es beiseitegezogen hatten, erfasste ich im ersten Moment nicht, was da vor mir lag. Es waren … Steinbrocken. Größere und kleinere, die wie ein Puzzle zusammengelegt worden waren. Es war ein Stück Wand, begriff ich schließlich, auf das ein Bild gemalt worden war. Die Farben sahen so frisch aus, als hätte sie jemand gerade erst mit dem Pinsel aufgetragen.

»Es ist eine Prädiktion«, sagte Adam. »Über meine Familie.«

Ich starrte hinab. Nur mit dem Licht der einen Fackel, die Adam in der Hand hielt, war es schwer zu erkennen, was die Hüter auf den Stein gemalt hatten. Vor allem, weil die Farben allesamt so dunkel waren.

Da war die Silhouette eines Menschen. Sie hielt die Arme zu den Seiten gestreckt und schien in der Luft zu schweben, während ihr Mantel im Wind umherwehte. Vor der Silhouette lag eine Stadt am Horizont. Und in der Ferne stiegen dunkle Schwaden empor und verdunkelten nach und nach den Himmel.

Erst da sah ich, dass das Bild sich bewegte. Es veränderte sich, je länger ich es anschaute. Die feinen Pinselstriche waberten langsam über die Risse zwischen den Steinen hinweg.

Das war eine Prädiktion? Über die Trembletts? Aber was zeigte sie? Und wieso sah sie aus, als hätte sie jemand aus der Wand herausgelöst und dann in tausend Teile zerschmettert?

»Volle Transparenz, ja?«, flüsterte Adam, und ich nickte. Sanft zog er meine Hand näher zu sich. Doch statt unsere Finger ineinander zu verschränken, beugte er sich mit mir zusammen nach vorne, bis sie beinahe den Stein berührten.

Ich hatte ein seltsames Déjà-vu an das erste Mal, als Adam mich so berührt hatte. »Da kommt aber nicht gleich ein Abby heraus, das mich töten will, oder?«

»Ausnahmsweise nicht«, erwiderte Adam, und sein Tonfall war dabei so ernst, dass mir eine Gänsehaut über den Körper lief. Ich konnte nur noch tief Luft holen, dann stießen meine Fingerkuppen gegen den Stein.

Ein Tremblett, schien das zerbrochene Gemälde zu flüstern. Ein Tremblett mit fehlgeleitetem Herzen wird das Ende des Mirrors herbeiführen. Mit dem Sigil, das verlorenging, werden beide Welten in Dunkelheit getaucht. Ein Tremblett mit fehlgeleitetem Herzen wird das Ende des Mirrors herbeiführen. Mit dem Sigil, das verlorenging, werden beide Welten in Dunkelheit getaucht. Ein Tremblett mit fehlgeleitetem Herzen –

Erst, als die geflüsterten Worte zum dritten Mal durch meinen Kopf wisperten, riss ich meine Hand von dem Bild los.

»Was …«, keuchte ich. »Was war das?«

Ich war so weit nach hinten getaumelt, dass Adam nun mehrere Meter von mir entfernt stand.

»Die Prädiktion«, sagte er ausdruckslos.

Mein Atem kam stoßweise. Wollte Adam damit ernsthaft sagen, es gab eine verdammte Prophezeiung , die besagte, jemand aus der Tremblett-Familie würde die Welt untergehen lassen ?

Adams Gesicht verzerrte sich bei meinem Gedanken, trotzdem nickte er. »Mein Großvater hat den Ältesten damals gezwungen, die Prädiktion zu zerstören. Er wusste, dass sie das Ansehen der Trembletts im Mirror für immer zunichtemachen würde. Doch der Älteste hat den Stein mit Hilfe von Magie wieder, so gut es ging, zusammengefügt. Er fand es wichtig, die Prädiktion zu bewahren.«

»Aber … wie hast du dann davon erfahren?«

»Mein Großvater hat den Brief an mich erst kurz vor seinem Tod geschrieben. Er hatte die Prädiktion jahrelang ignoriert, doch am Ende seines Lebens offenbar Zweifel bekommen. Ich schätze, er wollte nicht, dass sein Wissen mit ihm verlorenging, war aber zu feige, jemandem davon zu erzählen. Also schrieb er in dem Brief, was er in der Prädiktion gehört hatte. In der Hoffnung, dass sein Enkelkind es eines Tages lesen würde und eine Lösung für das Problem findet.« Der zynische Unterton in Adams Worten war nicht zu überhören. »Ich wusste nicht, dass die Prädiktion all die Zeit hier verwahrt wurde. Ich hatte den Ältesten damals nur nach Informationen über dieses verlorene Sigil befragt.«

Mit dem Sigil, das verlorenging, werden beide Welten in Dunkelheit getaucht.

Ich spürte, wie meine Hände anfingen zu zittern. »Du denkst …« Ein tonnenschweres Gewicht drückte auf meine Schultern. »Du denkst, es geht dabei um die Athame?«

Adam nickte. »Ja. Mein Großvater glaubte es zumindest. Nachdem er die Prädiktion gehört hatte, stellte er anfangs einige Nachforschungen an. In den Prime-Städte rund um Nova lebten vor der Entstehung des Mirrors viele Sigil-Schmiede. Offenbar ist er dort auf die Unterlagen über die Schattenathame gestoßen.«

Meine Augen weiteten sich. »Dann wusstest du also, dass der Dolch hier in Nova sein soll?«

Adam schüttelte den Kopf. »Nein. Wo auch immer Nessa diese Information her hat … mein Großvater ahnte nichts davon. Und auch der Älteste hat mir nicht weiterhelfen können, als ich nach meiner Krönung hier war. Mein Großvater hat nur geschrieben, dass er die Schattenathame für den Kern der Prädiktion hält. Er glaubte, wenn man sie einsetzte, um die Dark Sigils von ihren Trägern zu befreien … dass dann die Welt mit Chaosmagie geflutet wird.«

Ich schaute zurück auf das Bild. Es bewegte sich immerzu. Die Dunkelheit breitete sich über die gesamte Welt aus, während der Mensch im Vordergrund bloß dabei zusah.

Und da verstand ich endlich, was Adam mir mit alldem sagen wollte.

»Du denkst, die Prädiktion bezieht sich auf dich«, flüsterte ich, während in seinem Inneren so viele Gefühle umhertobten, dass ich sie nicht zu fassen bekam. »Du glaubst, dass du den Untergang des Mirrors herbeiführen wirst.«

Als ich meinen Blick wieder auf Adam richtete, sah er mich geradewegs an. »Die Prädiktionen Novas reichen nicht sehr lange in die Zukunft. Meistens nur wenige Jahre, höchstens drei oder vier Jahrzehnte. Diese hier ist bereits über dreißig Jahre alt. Und ich …« Adam holte tief Luft. »Ich bin der letzte Tremblett, der noch dazu imstande wäre, die Prädiktion zu erfüllen. Verstehst du, Rayne? Mein Großvater glaubte, die handelte von meiner Mutter. Deshalb hat er mir den Brief gegeben und nicht ihr. Aber er hat sich getäuscht. Meine Mutter ist gestorben, ohne dass etwas passiert ist. Ein Tremblett mit fehlgeleitetem Herzen … « Adams Mundwinkel hoben sich zu einem verzerrten Lächeln. »Die Prädiktion muss sich auf mich beziehen.«

Ich legte meine Hände auf Adams Brust und schaute ihn an, so gut ich konnte. Er war immer noch ein verdammter Riese , und im schummrigen Fackellicht sah ich nur einen Teil seines Gesichts. Ich wartete, bis ich seine volle Aufmerksamkeit hatte, erst dann sagte ich, was ich tief im Herzen fühlte.

»Du würdest niemals im Leben dem Mirror oder Prime schaden. Das muss dir doch klar sein.«

»Alius und Etas vereinnahmen ihre Träger«, sagte Adam. »Mit meinem Großvater war es so. Er war ein furchtbarer Mirrorlord, nur auf seine eigenen Vorteile bedacht. Und meine Mutter …« Ein Seufzen. »Du weißt ja, was sie in den Armenvierteln Primes getan hat. Sie war dafür verantwortlich, dass die Chaosmagie sich dort ausbreiten konnte. Sie allein. Und was mich angeht: Es gibt schon jetzt Tage, da erkenne ich mich kaum wieder. Manchmal denke ich, es wäre um so vieles leichter, wenn ich es machen würde wie alle vor mir: Ich müsste mich nur nicht mehr um die Belange anderer kümmern, dann könnte ich sehr viel effektiver regieren. Und ich bräuchte nicht ständig gegen den Strom zu schwimmen, sondern könnte allen meine Richtung vorgeben.«

»Adam …«, hauchte ich, aber da wandte er sich bereits von mir ab und rieb sich mit einer Hand über die Augen.

»Du hast ja keine Ahnung, wie oft ich in deine Gedanken eindringen wollte, um zu erfahren, wo du bist. Wie oft ich versucht war, sämtliche Verstecke des Auges stürmen zu lassen. Das war einer der Gründe, warum ich die Verbindung zwischen uns lahmgelegt habe. Ich konnte mir selbst nicht mehr trauen.«

Tränen stiegen mir in die Augen. Denn ich begriff es jetzt. Alles . Warum Adam tat, was er tat. Warum er glaubte, auf keinen Fall aus den Fußstapfen seiner Vorgänger heraustreten zu dürfen. Warum er sein gesamtes Leben seinen Pflichten unterwarf, statt aus diesem schrecklichen, rigiden System auszubrechen. Himmel, ich verstand sogar, warum er sich mit Pandora Cavendish verlobt hatte.

Alius und Etas waren das mächtigste Dark Sigil, daran hatte ich keinen Zweifel, auch wenn Agrona Soverall Ignis für noch mächtiger hielt. Adam wäre ganz sicher imstande, beiden Welten einen furchtbaren Schaden zuzufügen, wenn er es darauf anlegte. Deshalb zwang er sich dazu, unbeirrt dem vorgeschriebenen Weg zu folgen, in der Hoffnung, die Prädiktion dadurch abzuwenden.

Weil er Angst davor hatte, was er tun würde, wenn er tatsächlich nach seiner Freiheit griff.

»Hat sich eine dieser Prophezeiungen jemals nicht erfüllt?«, flüsterte ich und spürte durch unsere Verbindung, dass Adam sich diese Frage auch schon gestellt hatte.

Und dass seine Hoffnung ebenso zerstört worden war wie meine.

»Nein. Die Prädiktionen Novas sind immer eingetreten. Ohne Ausnahme.«

Wie gelähmt starrte ich auf die bemalten Steine hinab, während in meinem Kopf die Gedanken umherflogen.

Wenn diese Prädiktion stimmte und Adams Großvater sie richtig interpretiert hatte, war die Chance, dass die Schattenathame existierte, um ein Vielfaches größer. Doch mit einem Mal wusste ich nicht mehr, ob ich diesen Dolch überhaupt jemals finden wollte.

Was, wenn die Athame überhaupt nichts Gutes bedeutete? Was, wenn sie wirklich Dunkelheit über die Welt brachte … und über Adam?

Es würde bedeuten, dass ich ihn davon überzeugt hatte, nach Nova zu kommen. Dass ich diesen Pfad für ihn geebnet hatte und –

»Nein.« Adam hob eine Hand und legte sie an meine Wange. »Es ist meine Entscheidung, hier zu sein. Nur meine

»Aber … wieso hast du überhaupt zugestimmt, mit uns zu kommen? Wenn du denkst, dass die Athame die Prädiktion auslöst, dann …« Ich ließ den Satz ins Leere laufen. Weil ich unfähig war, die richtigen Worte zu finden. Und weil ich mir sicher war, dass Adam mich trotzdem verstand.

Sein Daumen fuhr beruhigend über meine Wange, und ich lehnte mich in die Berührung, weil ich gar nicht anders konnte.

»Als ich von dir erfahren habe, dass Nessa die Schattenathame sucht …«, setzte er an, »… da musste ich mehr wissen, verstehst du? Was, wenn die Prädiktion bereits begonnen hat? Was, wenn das Schicksal längst seinen Lauf nimmt? Ich konnte nicht einfach mit dem Desimeter in den Mirror zurückkehren und darauf hoffen, dass sich alles schon irgendwie zum Guten wendet.« Adam sah mich eindringlich an. »Vielleicht werde ich die Prädiktion nicht aufhalten können. Aber ich darf mich auch nicht vor ihr verstecken, wie es mein Großvater getan hat. Dina, Celine, Cedric … sie müssen davon erfahren. Ich hätte es ihnen längst erzählen sollen. Ihr sollt so viel wie möglich über diesen Dolch herausfinden. Damit ihr eine Möglichkeit habt, euch mir entgegenzustellen, wenn es nötig ist.«

Sich ihm entgegenzustellen ? Ich starrte Adam an. Was er da sagte, war unvorstellbar. Niemals würde es so weit kommen, ich wollte es einfach nicht glauben.

Adam ließ die Hand von meiner Wange zu meinem Nacken wandern. An jedem einzelnen Punkt, an dem er mich berührte, breitete sich ein kalter Schauer zu allen Seiten aus. »Rayne …«, sagte er, und ich vergrub meine zitternden Finger im Kragen seines Mantels.

»Ich wäre bei dir geblieben, weißt du?«, flüsterte ich. »Ich hätte das Angebot des Auges ignoriert. Ich hätte Nessa niemals bei ihrer Suche geholfen … wenn du mir nur die kleinste Hoffnung gegeben hättest, dass du mich nicht aus deinem Herzen schneidest, bloß um all deine Regeln zu befolgen.«

Adam wiegte meinen Kopf in seiner Hand. »Wenn die Dinge anders wären … ich hätte dich niemals gehen lassen. Das weißt du, oder?«

Ja, ich wusste es. Hatte es immer gewusst. Vorsichtig hob ich mein Kinn, und näherte mich ihm. Langsam rieb ich mit meiner Nase über seine, während ich weiterhin geradewegs in seine Augen schaute.

Adam hielt meinen Blick, dann beugte er sich hinunter. Als unsere Lippen sich trafen, bewegte ich mich nicht. Mein Herz setzte einen Schlag aus, so dass ich wie erstarrt vor ihm stand – einfach, weil ich nicht geglaubt hatte, dass Adam diesen Kuss tatsächlich zulassen würde.

Doch schon nach wenigen Sekunden schloss ich die Augen und ließ meine Zweifel ziehen. Adams Lippen rieben sanft gegen meine, und es war wie ein eisiger Windhauch auf meiner Haut, als er beide Hände auf meinen Rücken legte und mich fest an sich zog.

Ein Seufzen rollte von meinen Lippen, während wir uns küssten. Sein Geschmack raubte mir die Sinne. Ich bemerkte nicht einmal, dass wir uns bewegt hatten, bis Adam mich mit dem Rücken gegen die Wand des Gewölbes presste.

Ein ersticktes Keuchen entkam meinen Lippen, so schnell ging alles. Eine von Adams Händen glitt von meiner linken Schulter hinab zu meinem Schlüsselbein, genau zu der Stelle, wo seine Sigil-Gravur als Lichtmal auf meiner Haut auftauchte. Die beiden schrägstehenden, leicht verzerrten Kreuze, die Alius und Etas repräsentierten und die sich nahtlos in die restlichen Zeichen auf meinem Körper eingefügt hatten.

Adam rieb mit seinem Daumen darüber, und das Gefühl war so überwältigend, dass mir beinahe die Beine wegknickten. Schon ließ er seine Hände weiter wandern. Eine wanderte meinen Rücken hinab, während die andere meinen Nacken umfasste, und überall, wo er mich berührte, tanzten Lichtmale über meine Haut. Er hielt meinen Kopf in seiner Hand wie ein Puppenspieler seine Marionette, sanft, zart, als fürchtete er, die Fäden könnten sich verheddern, die Gliedmaßen brechen oder die Farbe absplittern. Doch sein Kuss … sein Kuss war alles andere als sanft. Im Gegenteil. Die Verbindung zwischen uns sang ein Lied von dem, was in den letzten Wochen verlorengegangen war und unsere Körper trotzdem nicht vergessen hatten. Und dennoch fühlte es sich so furchtbar flüchtig an. Als würde ein Schatten über unseren Köpfen hängen, als würde das Schicksal nur darauf warten, uns beide zu packen und in unterschiedliche Richtungen zu zerren.

Ich zwang mich, die Zweifel fernzuhalten. Es stand mir frei, den Kuss zu genießen. Es stand mir frei, mehr zu wollen.

»Rayne«, murmelte Adam in unseren Kuss hinein, seine Stimme ein bisschen heiser. Ihn nach all der Zeit wieder zu küssen war … alles, und ich versuchte, jede seiner Bewegungen mit einer eigenen zu beantworten.

Ich hatte solche Angst gehabt. Angst, dass er mich nicht mehr wollen könnte.

Ich werde dich immer wollen, schickte Adam den Gedanken in völliger Klarheit durch die Verbindung zu mir hindurch. Er legte den Kopf schief und küsste mich noch heftiger. Mein Verstand verstummte unter den vielen Empfindungen. Die Vernunft löste sich vollständig auf und machte mich leer und hilflos gegen das Kribbeln in meinem Körper.

Als Adam seine Lippen von meinen entfernte, dachte ich schon, er wollte sich zurückziehen. Stattdessen drückte er sein Gesicht an meine Halsbeuge, und ich spürte, wie seine Zungenspitze über meine Haut fuhr, während eine Hand unter mein Shirt wanderte. Mir entwich ein Keuchen, weil alles plötzlich so schnell ging, und ich vergrub beide Hände hilflos in Adams Haaren.

Ich will …

… dich, hatte ich ihm eigentlich als Gedanken zuschieben wollen, weil ich mich in diesem Moment nicht traute, die Worte laut auszusprechen. Doch mein Unterbewusstsein spielte mir Streiche, denn der Gedanke, der stattdessen durch die Verbindung drang, war: Ich will nicht, dass du sie heiratest.

Adam hielt inne. Seine Lippen lagen noch auf meiner Haut, aber seine Hand, die sich eben an meinem Oberteil zu schaffen gemacht hatte, löste sich von mir. Er zog sich zurück und schaute mich an. Sein Brustkorb hob und senkte sich keuchend, und er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, als …

Rufe ertönten. Sie kamen aus dem Tempel, direkt über uns. Gefolgt von eiligen Schritten und einem Schrei, der selbst hier, tief im Gewölbe, noch deutlich zu vernehmen war.