D ie anderen warteten bereits am Ausgang des Ewigen Tempels auf uns. Celine, Dina und Cedric standen unter dem hohen Torbogen beieinander, vor ihnen Zorya und zwei weitere Magiehäscher.
Von den Rebellen war keine Spur zu sehen.
Adam und ich liefen auf die Gruppe zu, und mein Herz schlug noch immer schneller, als es sollte. Mit aller Kraft zwang ich mich, das Gefühl von Adams Lippen an meinen in die hinterste Ecke meines Verstandes zu verdrängen. Und tatsächlich gelang es mir. Denn die finsteren Ausdrücke in ihren Gesichtern ließen keinen Zweifel: Irgendetwas Schlimmes war passiert.
»Eine Magiehäscherin wurde in der Stadt schwer verletzt«, sagte Celine an Adam gewandt. »Offenbar ist ein Gebäude über ihr zusammengestürzt.«
»Ein Gebäude?«, wiederholte ich erschrocken.
Celine schaute zu mir. »Ja. Ein Gebäude , Harwood. Ich denke, du kennst das Konzept, oder?«
Ich ignorierte sie. »Ist sonst noch jemand verletzt worden?«, fragte ich stattdessen und schluckte, als Zorya ernst nickte.
»Ein halbes Dutzend meiner Häscher sind nicht mehr einsatzfähig.« Sie wandte sich an Adam. »Nessa Greenwater scheint mehr über Nova zu wissen, als sie bislang zugegeben hat, mein Lord. Sie hat ihre Leute zielgerichtet in den Nordbezirk der Stadt geführt und dort nach Hinweisen zur Athame gesucht. Es kam zu einer Art … Magieentladung. Wir können noch nicht sagen, was genau passiert ist. Mehrere Häuser wurden davon getroffen, während einige Rebellen und wir noch darin waren. Aber verletzt wurden nur wir.«
»Was für ein Zufall«, murmelte Celine, und ich starrte sie ungläubig an. Wollte sie damit etwa andeuten, die Rebellen seien dafür verantwortlich? Das war doch Schwachsinn! Was würde es Nessa bringen, die Häscher anzugreifen – ohne das Desimeter könnte sie sich niemals auf die Suche nach der Athame machen. Es befand sich schließlich immer noch in Adams Besitz.
Ich schaute zu ihm, in der Hoffnung, dass Adam die Anschuldigungen einfach beiseitewischen würde, aber seine Miene war ernst.
»Führ uns hin«, sagte er zu Zorya. »Ich will mir selbst ein Bild machen.«
Noch immer hatte die Sonne sich nicht bewegt. Sie war eine gleißend helle Kugel, die ihr Licht über die Dächer und Wände, den kreisförmigen Fluss und die Gärten warf. Die markanten pyramidenförmigen Dächer im Norden der Stadt waren deshalb schon von weitem zu erkennen. Die Luft war schwül und drückend, und als wir schließlich dort ankamen, war ich völlig außer Atem.
Wir folgten Zorya durch die Gassen zwischen den weißgetünchten Häusern und kamen schließlich an einem kleineren Platz heraus. Ein Brunnen stand in der Mitte, und ringsum zweigten zu allen Seiten Straßen ab, gesäumt von weiteren leerstehenden Wohnhäusern.
Die Zerstörung war nicht zu übersehen. Der hell gepflasterte Boden war aufgebrochen, als hätte hier ein Erdbeben gewütet. Tiefe Risse zogen sich über den Platz und auf drei Häuser zu, die mehr oder weniger in sich eingestürzt waren. Sie mussten ursprünglich drei Stockwerke gehabt haben, so wie die anderen Häuser drum herum, doch außer den Grundfesten existierten jetzt nur noch Trümmer.
Dazwischen standen Rebellen und Magiehäscher. Letztere hatten offenbar einen Großteil des Auges zusammengetrieben und umkreist. Beide Gruppen waren in wilde Wortgefechte verwickelt. Vorwürfe und Flüche flogen nur so durch die Luft. Ich späte umher, aber ich konnte Nessa, Dorian und Lily im Getümmel nirgendwo entdecken.
»Wir haben die Verletzte dort drüben untergebracht«, sagte Zorya und deutete auf eins der intakten leerstehenden Häuser.
Während die anderen ihr folgten, blieb ich jedoch stehen. Irgendetwas kribbelte in meinem rechten Arm, so als würde Ignis mir etwas sagen wollen. Ich ging in die Hocke und legte die Hand, über der das Drachenarmband saß, auf den Boden.
»Was ist los?«, fragte Dina. Sie hatte mein Zögern bemerkt und kam wieder zurück.
»Fühlst du das?«, fragte ich leise, aber Dina schüttelte den Kopf.
»Nein. Was denn?«
Ich ging in mich. Vom Stein drang etwas zu mir empor – es dauerte keine Sekunde, bis ich es entziffert hatte. »Da ist ungeheuer viel Magie«, flüsterte ich.
Dina beugte sich zu mir. »Die Quelle?«
»Nein.« Die Quelle nahm ich dank Ignis’ Verbindung zu sämtlicher Magie auf der Welt zwar auch wahr, aber weiter entfernt, in Richtung des Tempels. Das hier war etwas anderes, also horchte ich tiefer in mich hinein, während ich mit der Hand über die Risse im Boden fuhr. Die Zerstörung war von zwei unterschiedlichen Magieformen ausgelöst worden. Eine von ihnen war … warm. Und irgendwie vertraut. Die andere kroch wie eisige Fäden unter dem Boden entlang. War das etwa Chaosmagie? Aber woher sollte sie kommen?
Da zog Dina mich weiter. Adam war bereits zu Zorya, Celine und Cedric gelaufen, die bei dem Haus auf uns warteten. Zusammen gingen wir hinein, und ich presste die Lippen stark aufeinander, als ich im schattigen Innenraum die verletzte Magiehäscherin sah, von der Celine gesprochen hatte. Sie lag ganz still und zusammengekauert auf einem schmalen Feldbett.
Auf ihrem Körper war kein Blut, nicht soweit ich es sehen konnte. Aus der Nähe allerdings erkannte ich, dass ihr Gesicht an vielen Stellen stark aufgeschrammt war, und in der Mitte ihrer Brust klaffte eine furchtbare Wunde. Es sah schrecklich aus, wie eine Verletzung, die man unmöglich überleben konnte. Doch zu meiner Verwunderung atmete die Häscherin noch. Bloß flach und unregelmäßig. Aber sie atmete.
Erst da erkannte ich, dass auch Nessa, Dorian, Lily, Edge und Blicker anwesend waren. Sie standen etwas abseits, abgeschirmt durch zwei weitere Häscher. Nessa fixierte Adam mit einem intensiven Blick, der mir einen Schauer über den Rücken jagte. Lily wollte einen Schritt auf mich zu machen, aber der Häscher vor ihr hielt sie mit einem Arm zurück.
Ist das wirklich nötig?, wollte ich sagen, schluckte die Worte aber herunter, als Adam sich zu der verletzten Häscherin kniete.
»Kadira«, sprach er sie mit Namen an, und die Frau blinzelte bloß und reagierte nicht. Auch nicht, als Adam eine Hand auf ihre Stirn legte. »Wie ist das passiert?«, fragte er mit bemerkenswert ruhiger Stimme.
Der Häscher, der vor Nessa stand, kam näher gelaufen und verneigte sich leicht vor Adam.
»Kadira war vorausgegangen, um nach der Rebellenanführerin zu sehen, mein Lord. Eine Explosion zog sich über den kompletten Platz hinweg. Der Boden bebte, und als die Gebäude eingestürzt sind, war sie mit diesen drei«, er deutete mit ernster Miene nacheinander auf Nessa, Edge und Blicker, »in einem der unteren Stockwerke. Wir wissen weder, was das Beben ausgelöst hat, noch, wie es zu der schweren Verletzung kam.«
»Es war ein Unfall«, sagte Nessa, den Blick noch immer auf Adam gerichtet.
Er neigte den Kopf zu ihr. »Inwiefern?«
»Ich vermute, dass die Schattenathame direkt unter Nova liegt. Tiefer noch als die Magiequelle, versteckt in einem riesigen Höhlensystem. Der Zugang dazu liegt genau hier« – sie zeigte auf den Boden unter ihren Füßen – »doch offenbar ist er besser geschützt, als ich dachte. Als das Gebäude einstürzte, wollten wir uns gerade zurückziehen. Die Häscherin war zur falschen Zeit am falschen Ort – sie wurde von einem heruntergestürzten Stück Decke getroffen. Es ging zu schnell, als dass wir ihr noch hätten helfen können.«
Adam schaute zurück zu der Verletzten. Er begutachtete ihre Wunden, und ich hörte seine Gedanken so deutlich, als wären es meine eigenen. Er glich das, was er sah, mit Nessas Worten ab und versuchte so herauszufinden, ob sie die Wahrheit sagte. Ich spürte, dass er zu keinem endgültigen Schluss kam, aber die Sache fürs Erste beiseiteschob.
»Seit wann wissen Sie schon, wo der Zugang liegt?«, fragte Adam Nessa stattdessen. »Und von wem?«
Nessas Mundwinkel hob sich. Für einen Moment wirkte sie beinahe amüsiert, was ich im Angesicht der Verletzten einfach nur kaltherzig fand.
»Ich gebe meine Informanten niemals preis«, entgegnete sie.
Natürlich nicht, hörte ich Adam denken, dann wandte er sich von Nessa ab und beugte sich wieder zu der Häscherin.
Kadiras Pupillen wanderten ziellos umher, und undeutliche Laute kamen über ihre Lippen. Es sah aus, als wäre ihr Brustkorb von den Steintrümmern völlig zerschmettert worden. Wieso lebte sie noch?
»Es ist die Zeit«, sagte Adam. »Die Zeit lässt sie nicht sterben. Ihr Körper wird hier noch sehr lange weiterleben.«
Dina wandte sich an Cedric. »Denkst du, wir können sie retten, wenn wir sie aus Nova herausbringen?«
Cedric schob sich im Rollstuhl näher zu Adam und schaute für einige Sekunden auf die Häscherin hinab. Dann schüttelte er voller Bedauern den Kopf. »Selbst, wenn du deine Würfel einsetzt …«, sagte er zu Adam, »die Reise von der Barriere zurück zum Wüstendorf dauert Stunden. Mit dieser Verletzung würde sie das niemals überleben.«
Meine Augen füllten sich mit Tränen. »Können die Hüter nicht helfen? Wenn man sie operiert oder …«
Celine schnaubte. »Ihr Körper heilt nicht. Soll sie bis in alle Ewigkeit Schmerzen leiden? Besser nicht. Sie stirbt … und hier in Nova wird der Prozess Jahre dauern.«
»Aber …«
Was dann?
»B-bitte«, wimmerte die Häscherin da auf einmal. Gefolgt von einigen gequälten Atemzügen. Sie schaute Adam eindringlich an, und dabei zuckten ihre Hände immer wieder in Richtung des Schwertes, das an ihrem Gürtel befestigt war. »B-bitte … beendet es. «
Alles in mir erstarrte. Sie wollte … sie wollte, dass man sie erlöste?
Zorya trat auf Adam zu. »Mein Lord, ich kann –«
»Nein.« Adam schüttelte Kopf. Er legte eine Hand auf Kadiras Stirn, genau dort, wo die Siebeneck-Tätowierung zu sehen war. »Verlasst den Raum.«
Sofort kam Bewegung in Zorya und die beiden Wachen. Sie eskortierten Nessa, Lily, Dorian, Edge und Blicker aus dem Haus, und während Celine und Cedric ihnen mit traurigem Blick folgten, legte Dina eine Hand auf meine Schulter. Ich starrte sie fassungslos an, als sie mir mit einem Nicken bedeutete, sie zu begleiten.
Adam hatte bereits das Schwert der Häscherin in der Hand, und mein Körper fühlte sich wie festgefroren an. Es war nicht fair – wieso musste er das auf sich nehmen?
»Komm schon.« Dina zog erneut an meiner Schulter. Ich wollte erst ihre Hand abschütteln, da drang Adams Gedanke zu mir.
Bitte, Rayne. Ich kann das nicht, wenn du hier bist.
Mein Herz verkrampfte, aber ich ließ mich trotzdem von Dina aus dem Gebäude hinausführen. Ein letztes Mal schaute ich zu Adam. Doch er hatte sich bereits von uns abgewandt, und sein Gesicht war in Schatten getaucht, so dass ich es nicht mehr sehen konnte.
Zorya sorgte dafür, dass die Rebellen und Häscher, die draußen auf dem Platz standen, sich zusammenrissen. Sie trennte die beiden Lager voneinander und sprach auf ihre Leute ein. Trotzdem konnte ich die Verabscheuung in den Gesichtern der Magiehäscher deutlich sehen.
Sie misstrauten den Rebellen. Mehr als je zuvor.
Wir warteten darauf, dass Adam aus dem Haus kam. Ich blieb erst für einige Minuten bei Dina, Celine und Cedric sitzen, bevor ich zu Lily lief. Sie stand neben Dorian, aber ich zog sie zur Seite, um allein mit ihr zu sprechen.
»Hast du gesehen, was passiert ist?«, fragte ich sie leise, und Lily schüttelte bloß den Kopf.
»Nessa, Edge und Blicker waren die Einzigen, die noch in dem Haus waren. Abgesehen von dieser Soldatin. Es ging alles furchtbar schnell.« Sie schaute mich erschöpft an. »Zum Glück ist ihnen nichts passiert.«
Nichts passiert? »Die Häscherin wird sterben.«
»Sie hätte Nessa eben einfach in Ruhe lassen sollen«, gab Lily zurück und biss sich auf die Unterlippe. Zerknirscht rieb sie sich über ihre dunklen Locken und warf mir dann einen entschuldigenden Blick zu. »Das meinte ich nicht so. Die Frau tut mir natürlich leid. Ich … ich glaube einfach nur, das wäre alles nicht passiert, wenn Adam Nessa nicht so misstrauen würde.«
Oder sie ihm, wollte ich erwidern, allerdings wollten die Worte nicht über meine Lippen kommen. Seit wir aus London aufgebrochen waren, fühlte ich mich völlig verloren. Ständig war ich hin und her gerissen zwischen den Fronten. Ich war keine Untere mehr, aber auch keine Obere. Stattdessen kam ich mir auf allen Ebenen ungenügend vor.
»Ray …« Gerade wollte Lily nach meinen Händen greifen, als auf einmal ein ohrenbetäubendes Grollen durch den Boden ging. Wir wichen erschrocken zurück, während sich die Risse zwischen den Steinplatten vergrößerten. Sie führten vom Brunnen bis hin zu den Gassen, die ringsum vom Platz wegführten, fast wie …
Wie Sonnenstrahlen.
Ich blinzelte und lief an Lily vorbei in Richtung der Mitte des Platzes. Dort, am Brunnen, beugte ich mich nach unten und strich über den Stein des Beckens. Tatsächlich. Darauf war dasselbe Symbol abgebildet, das der Älteste immer und immer wieder an die Wand gemalt hatte. Wie ein Tapetenmuster zog es sich über das Brunnenbecken: eine Sonne mit sieben Strahlen und eine blaue Spirale in der Mitte. Genauso wie der Brunnen in der Mitte dieses Platzes stand und sieben Gassen in alle Richtungen abzweigten.
»Du hast den Zugang gefunden.«
Nessa tauchte plötzlich neben mir auf. Sie schaute mich mit einem eindringlichen, erwartungsvollen Ausdruck an. »Versuch ihn zu öffnen«, forderte sie mich auf. »Einem Dark-Sigil wird er sich nicht widersetzen. Jetzt kannst du zeigen, was du wirklich willst.«
Ich starrte Nessa an. Dorian und Lily standen ein paar Schritte hinter ihr, ebenso Edge und Blicker. Sie alle schauten mich erwartungsvoll an.
Mein Blick wanderte in Richtung des Gebäudes, in dem sich Adam befand und vor dem Dina und die anderen warteten.
»Es ist nicht ihre Entscheidung«, schob Nessa hinterher und verengte ihre Augen. »Sondern deine.«
Meine? Nein, das stimmte nicht. Es ging um die Dark Sigils. Und wenn diese Prädiktion tatsächlich wahr war, ging es vor allem um Adam.
Nein, ich würde diese Entscheidung nicht ohne ihn treffen.
Ehe Nessa mich aufhalten konnte, lief ich zu Dina, Celine und Cedric und erreichte sie in dem Moment, als Adam ins Freie trat.
Sein Gesichtsausdruck war versteinert, wie so oft, und er versuchte, seine Gefühle vor mir zu verbergen. Doch es gelang ihm nicht vollständig, sie abzuschirmen. Selbsthass, Wut, Trauer und Schuldgefühle waberten wie ein unantastbarer Nebel durch sein Innerstes, und es kostete mich viel Kraft, keine tröstenden Worte zu ihm hinüberzuschicken.
Denn für das, was er hatte tun müssen, gab es keine.
»Der Brunnen ist der Zugang«, sagte ich stattdessen zu ihm. »Das wollte der Älteste uns mit seinem Bild zeigen. Diesen Ort hier.« Ich deutete zur Mitte des Platzes. »Nessa ist der Meinung, dass die Magie eines Dark Sigils den Eingang offenlegen kann.«
»Nessa weiß sehr viel, dafür, dass sie noch nie in Nova war«, kommentierte Celine, aber ausnahmsweise fehlte der beißende Unterton in ihrer Stimme. Sie wirkte eher nachdenklich. »Wenn nur ein Dark Sigil den Eingang öffnen kann«, fuhr sie fort, »könnte es dann nicht sein, dass genau das passiert ist, als die Gebäude eingestürzt sind?« Sie schaute von einem zum anderen, und Dina und Cedric nickten langsam. Offenbar war ich die Einzige, die keine Ahnung hatte, wovon Celine redete. Ihr Blick blieb an mir heften. »Kennst du die Magie, die hier gewirkt hat?«
Ich runzelte die Stirn. »Was?«
»Oh, bei allen Sieben.« Celine griff an meine Hand, und ich war so perplex, dass ich mich nicht wehrte, als sie mich mit sich in die Hocke zwang und meine Finger gegen den Steinboden drückte. »Fühl die Magie. Was spürst du?«
Ich tat das, was ich vorhin auch gemacht hatte. Ich horchte in Ignis hinein und ließ meinem Sigil freien Lauf. Wieder spürte ich die unterschiedliche Magie im Boden. Da war definitiv Chaosmagie – tief unter uns. Doch diesmal konzentrierte ich mich auf die Wärme. Eine goldschimmernde Magie, die von der Mitte des Platzes, dort, wo Nessa und die anderen am Brunnen auf uns warteten, zu mir herüberdrang. Sie war mächtig und strahlend schön, aber auch durchtrieben und hinterlistig und … Ja, ich kannte sie eindeutig.
»Sebastian«, flüsterte ich, und mein Herz raste. Bedeutete das, er war hier? Ich starrte die anderen fassungslos an. »Ihr denkt, er hat den Brunnen vor uns geöffnet? Und dass er jetzt dort unten nach der Athame sucht? Aber … woher sollte er überhaupt davon wissen?«
»Sebastian hat viele Unterstützer im Mirror«, sagte Dina. »Viele Obere, die ihm sämtliche Entwicklungen auf dem Silbertablett servieren würden. Er hat garantiert von eurem Einbruch auf dem Plateau gehört. Außerdem hat er eine Zeitlang mit dem Auge zusammengearbeitet, vielleicht hat er dort von Nessas Plan erfahren, ohne dass sie es bemerkt hat.«
Es wäre Sebastian definitiv zuzutrauen. Und trotzdem.
»Aber wie soll er durch den Zugang gekommen sein? Der Platz war doch die ganze Zeit voll mit Soldaten. Und Nova ist nach außen hin unsichtbar . Wie …?«
Celine schnaubte. »Sebastian ist einer der Sieben. Wir alle wissen, wo Nova liegt. Wir würden nur niemals ohne Einladung in die Stadt gehen. Ich schätze, Sebastian ist inzwischen wirklich alles egal. Und was die Soldaten angeht – er hatte Matt bei sich. Mit ihm wäre er ohne Probleme an ihnen vorbeigekommen. Wahrscheinlich haben wir auch die Magieentladung Sebastian zu verdanken.«
»Er will Mirrorlord werden«, warf Dina ein. »Und wir stehen ihm dabei im Weg, und das heißt … die Schattenathame wäre sein größter Trumpf. Was könnte ihm Besseres passieren, als wenn er uns damit ersetzt?« Sie deutete auf Adam. »Angefangen mit dir.«
»Aber er hat kein Desimeter«, warf Cedric ein. »Wenn die Informationen, die Nessa Greenwater bekommen hat, stimmen, dann hat er ohne ein Desimeter keine Chance, bis zur Athame vorzudringen.«
»Willst du es wirklich darauf ankommen lassen?«, entgegnete Dina und schaute dann zu Adam. »Wir müssen ihm folgen. Das weißt du. Wir können Sebastian nicht einfach freien Lauf lassen.«
Adam war während des gesamten Austauschs völlig still gewesen. Er lehnte an der Hauswand, den Blick in die Ferne gerichtet, und ich fühlte deutlich, was in ihm vor sich ging.
Das hier war ein Scheideweg. Und der nächste Schritt, den wir nahmen, entschied womöglich über die gesamte Zukunft.
»Sollte es die Athame geben«, sagte er dann, bedächtig jedes Wort wählend, »und sollten wir sie tatsächlich bergen und sollte sie das können, was Nessa Greenwater sich davon verspricht, dann … dann muss jedem von euch klar sein, dass wir damit etwas in die Welt gebracht haben werden, das uns als Sieben angreifbar macht.« Er schaute jedem von uns die Augen. »Ich kann diese Entscheidung nicht allein treffen.«
Dina verschränkte die Arme vor dem dunkelgrünen Mantel. »Wenn es den Dolch gibt und er für immer versteckt wurde, dann bedeutet das, unsere Vorfahren wollten bloß ihre eigene Macht retten. So konnten sie behaupten, dass nur ihre eigene Blutlinie die Dark Sigils tragen kann. Sie waren egoistisch.« Dina legte eine Hand auf das Schlangenband, das sie stets um ihre Taille gewickelt trug. »Ich denke, wir sollten selbst herausfinden, was es damit auf sich hat. Bevor es jemand anderes tut.«
Celine nickte. »Dina hat recht«, sagte sie, und als Dina ihr daraufhin einen schockierten Blick zuwarf, boxte Celine sie fest in den Arm. »Halt die Klappe. Ich meine nur: Es wissen jetzt schon zu viele Leute von der Athame. Wenn sie also hier vergraben wurde, ist sie jetzt nicht mehr sicher. In unseren Händen schon.«
Ich spürte, ohne zu Adam zu sehen, was diese Worte in ihm anrichteten. Er versuchte noch, seine Gefühle zu zügeln, aber ich merkte, wie die Sorge sogleich in ihm hochkochte.
Diese Prädiktion ist noch nicht unsere Realität, schickte ich sanft durch die Verbindung zu ihm. Du würdest nie tun, was die Stimmen in der Prophezeiung sagen. Und wenn du schon keine Hoffnung hast, dann hab wenigstens etwas Vertrauen in die anderen. Sie werden an deiner Seite stehen, Adam. Jeder von ihnen. Und ich auch.
Adam schaute zu mir. Sein Kiefer war angespannt, ebenso wie seine Schultern, und ich spürte auch, wie er sich innerlich wappnete.
Sein Großvater war zu feige gewesen, sich seinen inneren Dämonen zu stellen. Er hatte sich geweigert, die Prädiktion anzuerkennen und mit den anderen Sieben nach einer Lösung zu suchen. Aber Adam war anders. Er würde nicht den Kopf in den Sand stecken und hoffen, dass das Problem von selbst verschwand.
Unsere Blicke trafen aufeinander, und es war dieser Moment, in dem Adams dunkelstes Geheimnis offen zwischen uns lag, dass ich keinen Zweifel mehr hatte: Die Gefühle in mir waren echt. Ich liebte Adam, und das hatte nichts mit der Magieverbindung zwischen uns zu tun.
Rein gar nichts.
»In Ordnung«, sagte er und dann, nach einem tiefen Atemzug, wandte er sich zu den anderen. »Wir suchen den Dolch. Aber vorher muss ich euch noch etwas sagen.«