36

»D er Mirrorlord«, hörte ich den Archivar – den echten Archivar  – zischelnd sagen. Er hatte sich vor Adam aufgebaut, schaute ihn gierig an, vom Kopf bis zu seinen Füßen. Ein boshaftes Lächeln huschte über seinen Mund, und eine Hand hob sich, um Adams Gesicht zu berühren. Scharfe Knöchel kratzten über seine Wange, aber Adam blieb ganz still stehen.

»Ich habe dich schon viele Jahre beobachtet. Konntest du mich fühlen? Konntest du im Dunkeln meine Augen auf dir spüren?«

Adam antwortete nicht. Er hielt seine Würfel in der Hand, die weißen Lichtmale glühten auf seiner Haut, aber sonst regte er sich nicht.

»Deine Magie duftet … vorzüglich«, hauchte der Archivar. Er umrundete Adam, zwar mit einem gewissen Abstand, doch es wirkte, als würde er ihn langsam wie eine Schlange umwickeln wollen.

Dina, Celine, Cedric und ich warfen uns ängstliche Blicke zu. Die Abbilder hatten einen Kreis rund um das Pult gebildet, genau dort, wo die Einkerbung im Boden war. Unsere Angriffe gegen sie verpufften einfach. Wie sollten wir also zu Adam durchkommen?

Da hob der Archivar beide Hände, und ich hörte noch das Klacken der Metallketten um die Bücher, bevor uns erneut Bilder vor Augen traten.

 

Sterne fielen vom Himmel. Es war ein riesiger Kometenschauer. Doch es waren keine Sterne. Es waren Gebäude, die aus Magie geschaffen worden waren. Sie brachen entzwei, verloren das, was sie einst hatte echt werden lassen. Sie wurden zu Magie, die durch eine Barriere am Himmel strömte und die die Welt, die zwischen den Wolken gelegen hatte, wie ein enormer Schlund verschluckte.

Gleichzeitig richteten sich zwei hellgraue Augen zufrieden nach oben. Eine in Schatten gehüllte Person hob ihre Arme in die Höhe, ganz langsam, bis sie zu beiden Seiten ausgestreckt und in einer Linie zum Horizont gerichtet waren. Und während sie so dort stand und ihre Magie sie langsam in die Höhe hob, stiegen Schatten aus der Stadt vor ihr empor. In dünnen Fäden, die sich zu intensiven Schwaden zusammenfanden, wanden sie sich hinauf, und ihre Dunkelheit umhüllte erst Gebäude um Gebäude, dann die Stadt und schließlich die gesamte Welt.

 

Die Bilder endeten so abrupt, wie sie begonnen hatten. Die Vision verblasste, aber der Schrecken blieb.

Was … was zur Hölle war das gewesen?

Ich merkte Dina, Cedric und Celine an, dass sie dasselbe gesehen hatten wie ich. Auch sie wirkten, als wären sie in ihren Grundfesten erschüttert worden.

Doch war es echt? Würde so der Mirror enden?

Ich dachte an die jüngste Prädiktion des Ältesten, erinnerte mich an die Hoffnung, die in mir aufgekeimt war. Doch all das war falsch, oder? Wir würden die Prophezeiung nicht stoppen können. Ich wusste es mit einer unheimlichen Klarheit, die sich tief in meinen Verstand bohrte. Ja, die Waage neigte sich in die falsche Richtung. Wir konnten es nicht ändern. Warum sollten wir also noch kämpfen?

»Suche die Dunkelheit, Adam Tremblett«, drang die Stimme des Archivars zu mir. Er streckte eine Hand in Adams Richtung, als wollte er ihn am Kopf berühren. »Suche die Dunkelheit, dann wird die Dunkelheit zu dir kommen.«

Nein! In mir regte sich etwas, ein letzter Funke Verstand. Ich wusste, wir mussten etwas tun, sonst würden wir das hier nicht überleben. Verzweifelt versuchte ich, nach Dinas Hand zu greifen, doch auch sie starrte nur hilflos geradeaus. Ich wollte mich bewegen, einen Schritt nach vorne machen, aber ich konnte nicht. Eine Mutlosigkeit, wie ich sie noch nie gespürt hatte, brach über mir zusammen. Sie begrub mich unter einer Decke aus Trauer, aus der es kein Entkommen mehr gab.

Ein Chor aus Stimmen erfüllte meinen Kopf. Und diesmal klangen sie fast tröstlich.

Das Ende.

Erwarte das Ende.

Gerade als ich die Augen schließen wollte, flammte ein Licht auf. Es war durchzogen von einem flackernden Lila, das den Archivar für einen Moment vollständig zu umhüllen schien. Und bevor ich wusste, was passierte, verblassten sämtliche Abbilder um uns herum.

Erst erkannte ich die Gestalt nicht, die mit unsicherem Gang die Treppe heruntertaumelte und auf das Pult zulief. Sie hielt eine Hand hoch in die Luft gehoben. Ein Ring leuchtete daran, es war … Anima.

Matt!

Irgendwie war er aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht und hielt nun sein Sigil in Richtung des Archivars. Der stieß einen wütenden Schrei aus, während er verzweifelt versuchte, seine Spiegelbilder erneut zu rufen. Als es nicht gelang, rauschte er so schnell auf Matt zu, dass die Wucht seiner Bewegung uns alle zu Boden warf.

Nachdem ich mich wieder aufgerappelt hatte, erkannte ich, wie Matt den Kopf des Archivars umklammerte. Der öffnete seinen Mund und schrie. Es war ein schreckliches Geräusch – voller Wahnsinn, Kummer, Zorn und den schlimmsten Gefühlen, zu denen ein Wesen überhaupt fähig war. Ich sah, wie Blut an den Seiten von Matts Hals herunterlief, wie sich sein Gesicht vor Schmerz verzerrte, je länger der Schrei dauerte, aber er hielt den Kopf des Archivars fest und zwang die Illusion, die er mit seinem Sigil hervorrief, direkt in ihn hinein. Das lilafarbene Licht glühte grell in den Augen des Archivars, bis sein Kreischen den Raum vollständig erfüllte und dann, ganz plötzlich, verstummte.

All die Trauer, die mich bis eben noch fest im Griff gehabt hatte, fiel von jetzt auf gleich von mir ab. Trotzdem konnte ich mich mehrere Sekunden lang kaum bewegen, so erschöpft war ich. Als ich endlich auf die Füße kam, war Cedric bereits auf allen vieren zu Matt gekrochen. Er hatte sich über ihn gebeugt, seine Augen waren vor Schreck weit aufgerissen. »Wach auf!« Er tätschelte Matts Gesicht. »Matthew, bei allen Sieben, wach auf. Komm schon, bitte  …«

Doch Matt stöhnte nur. Aus seinen Ohren sickerte noch immer Blut, als wäre sein Trommelfell geplatzt, und er sackte in sich zusammen, sein Atem zittrig und angestrengt.

Ich schaute besorgt zu Adam. Er kniete neben Celine und Dina am Boden. Vor ihm lag der Archivar, oder vielmehr die Reste von ihm. Er trug eine lange, schwarze Robe und hatte sich bereits fast vollständig in Magie aufgelöst. In dem geisterhaften Körper konnte ich seine Rippen sehen und einen Teil seines Schädels. Es war ein furchtbarer Anblick.

»Frische Luft … Stille …«, hauchte der Archivar geistesabwesend. Von Matts Illusion übermannt kauerte er auf dem Boden, und für eine winzige Sekunde glaubte ich, Erleichterung über sein schreckliches Gesicht ziehen zu sehen, bevor sein Körper sich – wie der Älteste – in unzählige Magiepartikel auflöste.

Ganz so, als hätte er sich nur durch puren Willen über die vielen Jahrhunderte hinweg zusammengehalten.

Die blauen Lichtfunken schwebten zur gewölbten Decke der Ewigen Bibliothek, und Adam, Celine und Dina standen langsam auf und neigten ihre Köpfe in die Höhe. Auch ich schaute auf die Emporen, wo die Magiefunken sich sammelten und dann verglühten, bis nur noch das Leuchten der Juwelen zurückblieb, das seinen geheimnisvollen Schimmer aus allen erdenklichen Farben auf die Bücher warf. Und mit einem Mal fühlten wir es alle.

Dieser uralte Ort, voller Geheimnisse und kostbarem Wissen, hatte endlich Frieden gefunden.

 

Eine gute Stunde später befanden wir uns in einer komplett anderen Welt. Celine hatte uns in irgendein Hotel in London gebracht, ich wusste nicht mal, welches, aber es war mir auch ganz egal. Es war wohl eins der Hotels, die von den Oberen als Zugang zum Mirror genutzt wurden und das demnach den Sieben unterstand.

Die Suite war luxuriös, in einem Kamin loderte ein Feuer, und Celine hatte von irgendwoher Getränke und Essen organisiert, das wir jedoch kaum anrührten.

Die Sorge um Matt war viel zu groß.

Wir hatten seine Wunden gesäubert und ihn dann in einen Sessel neben dem Kamin gesetzt. Im Licht der Suite erkannte man die schweren Verletzungen auf Matts Gesicht noch deutlicher, aber wenigstens ging sein Atem regelmäßig.

Niemand von uns wusste, was geschehen würde, wenn er aufwachte. Ja, Matt hatte uns mit dem Archivar geholfen. Ja, er hatte ihn angegriffen und uns gerettet – aber war er wirklich wieder ganz er selbst oder war Sebastian dafür zu tief in seinen Kopf eingedrungen?

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Matts Augen schließlich aufflatterten. Diese wunderschönen bernsteinfarbenen Augen, die ich so sehr vermisst hatte. Ein paar Minuten lang sagte niemand etwas. Auch Matt nicht, obwohl ich sicher war, dass er unsere Anwesenheit bemerkt hatte. Während die anderen vor seinem Sessel standen, hockten Dina und ich direkt vor ihm und schauten Matt geradewegs an.

Er wand sich etwas, blinzelte mehrfach. »Ihr hättet mich zurücklassen sollen«, sagte er dann mit heiserer Stimme. Ein erleichterter Atemzug entwich mir, und ich hörte auch Dina neben mir seufzen. Das hier war unser Matt. Eindeutig.

»Wir würden dich niemals zurücklassen, das weißt du«, erwiderte Adam leise. »Nirgendwo.«

Matt drückte seine Hand, an der Anima saß, schützend gegen seine Brust. Sein Blick wanderte dabei von einem zum anderen – es war nicht schwer zu erkennen, wie überfordert er war. »Hey«, sagte er schließlich etwas hilflos.

»Oh, schieb dir dein ›Hey‹ sonst wohin«, fauchte Dina. Sie beugte sich nach vorne und umarmte Matt fest.

»Wirst du jetzt etwa sentimental?«, fragte Adam sie, und die Erleichterung war auch in seiner Stimme klar zu hören.

»Halt die Klappe, Adam.« Dina drückte Matt Küsse auf Wangen und Stirn. »Das hier ist ein Moment der Liebe.«

Matt schnaubte, halb schmerzhaft, halb lachend, erwiderte aber Dinas Umarmung. »Es ist auch schön, euch zu sehen.«

Sogar Celine kniete mit einem breiten Lächeln neben ihm, was Matt ein raues Lachen entlockte. »Nicht du auch noch, Cee.«

»Dieser Wichser hat dich zu seiner Marionette gemacht«, sagte Celine. »Einen der Sieben! Ich …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich war mir wirklich nicht mehr sicher, ob wir dich je zurückbekommen.«

»Habt ihr aber.« Matt lächelte wieder, und es wurde noch etwas breiter, als er zu Cedric hochschaute. »Hey, Bücherwurm.«

»Hey«, erwiderte Cedric, und es war nicht schwer zu erkennen, dass er Tränen in den Augen hatte. Er blieb stehen, und ein Teil von mir wollte Cedric dafür gegen das Schienbein boxen, doch ich ließ es bleiben.

»Hast du Schmerzen?«, fragte Adam und reichte Matt ein Glas Wasser. »Brauchst du etwas?«

Matt atmete zitternd ein und sagte langsam: »Nein … ich brauche nichts.« Er trank einen Schluck. »Hab nur ein Rauschen im Ohr, das geht schon wieder weg.« Dann blinzelte er, und ich sah ihm deutlich an, wie er versuchte, seine Erinnerungen zu sortieren.

Als er schließlich zu mir aufblickte, atmete er tief durch. »Rayne, ich habe gegen dich gekämpft. Im … Labyrinth.«

»Nichts, was ich nicht ertragen kann«, flüsterte ich.

Matts Blick richtete sich in die Ferne. Er schien mit aller Macht darauf konzentriert, nicht zusammenzubrechen. Dann schaute er langsam zu Cedric. »Und dich … ich hätte dich fast umgebracht.«

Es war wahr. Die Blutergüsse an Cedrics Kehle sahen heute noch schlimmer aus als gestern. Aber er war stärker, als sein kränklicher Körper es vermuten ließ. Er würde es schaffen.

»Es geht mir gut«, sagte Cedric.

Matt seufzte. »Was ist passiert?«

»Erinnerst du dich nicht daran?«, fragte ich vorsichtig.

»Ich weiß, dass Sebastian mich mit Divinus unter Kontrolle hatte. Aber ich …« Er furchte die Stirn. »Habe ich etwas … habe ich jemanden …«

Sofort zogen die Bilder an mir vorbei, wie Matt einen Dolch in Jareks Bauch gebohrt hatte. Der Anblick des Magiehäschers und das gequälte Lauf weg hatte sich für immer in mein Gedächtnis gebrannt.

»Du warst nicht du selbst«, wischte Adam Matts Frage fort. »Es spielt keine Rolle.«

Matts Gesicht verzerrte sich, und er verbarg es in seinen Händen. »Ich wusste … ich wusste , dass es wieder passieren kann«, sagte er leise. »Sebastian hat früher schon an mein Unterbewusstsein angedockt. Ich habe es ihm sogar erlaubt, ich wollte es, und … mir war klar, tief in mir drin, dass er immer noch einen Zugang hat. Er konnte darauf zugreifen. Alles, was er tun musste, war, mir seinen Spiegel für eine Sekunde vor die Augen zu halten. Ich bin nicht … sicher. Für euch. Er könnte mich jederzeit wieder zu seiner Marionette machen.«

Adam trat einen Schritt nach vorne, und ich beobachtete, wie er ein paar Münzen aus seiner Hosentasche zog.

Es waren Trites. Und ich wusste auch, welche. Diese Magiehemmer hatte er genutzt, um mich aus seinen Gedanken auszusperren.

»Wenn Sebastian es wirklich darauf anlegt, würden sie ihm wahrscheinlich nicht standhalten, aber sie sollten dich zumindest vor einem ersten Versuch schützen. Und dann kannst du ihn abwehren.«

Matt nahm die Münzen entgegen und nickte. »Danke.«

Ich warf Adam einen fragenden Blick von der Seite zu, und er erwiderte ihn.

Wenn du mich in deinem Kopf aushältst, brauche ich sie nicht mehr, sagte er zu mir, und ich konnte mir ein kleines Lächeln nicht verkneifen.

Wenn du dich benimmst, stehen die Chancen ganz gut.

Ein Stöhnen drang über Matts Lippen. Er neigte den Kopf so tief, dass ich sein Gesicht nicht mehr sehen konnte.

»Was ist?«, fragte Dina.

»Ich erinnere mich jetzt an Jarek«, antwortete er leise, mit kläglicher Stimme. »Ich erinnere mich, wie er mich ansah . Ich erinnere mich, dass es mir nichts bedeutet hat, ihn zu töten. Ich konnte nichts fühlen. Es war mir egal, und ich … Wenn ich zurückgehen könnte und wüsste, was ich tun würde, hätte ich mir eine Kugel durch den Kopf jagen lassen, bevor ich Jarek jemals berührt hätte.«

Matts Wangen wurden feucht. Er sah so verloren aus, und ich wollte ihn gerade umarmen, doch Cedric war schneller. Er lehnte sich zu Matt hinab und schloss ihn in seine Arme.

Ich sah es ihm an: In diesem Moment hätte er alles getan, um den Kummer aus Matts Blick zu nehmen.

»Adam hat recht. Es ist nicht deine Schuld. Wenn du nicht gewesen wärst, dann hätte es keiner von uns aus der Bibliothek geschafft. Du hast uns das Leben gerettet. Uns allen.«

»Das bringt Jarek auch nicht zurück«, schluchzte Matt. »O Gott.«

Dina fuhr Matt sanft durch die Haare. »Wir haben ihn im Garten von Septem beerdigt. Der Palast ist eine Ruine, aber … wir haben ihm einen schönen Platz ausgesucht. Sobald wir Sebastian und Leanore aufgehalten haben, besuchen wir ihn, in Ordnung?«

Matt nickte, doch es liefen noch immer Tränen über seine Wangen.

»Matt«, setzte Adam vorsichtig an. »Kannst du dich erinnern, was passiert ist, während du bei Sebastian und Leanore warst? Kann du uns mit irgendwelchen Informationen weiterhelfen?«

Matts Augen schlossen sich. Er atmete zitternd aus und schüttelte den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher …«

»Versuch es«, drängte Adam.

»Leanore hat uns alle getäuscht …«, begann Matt. »Sie wollte dem Auge … Informationen zuspielen. Über das Plateau. Und über Nova.«

»Hongkong«, hauchte ich. Es war also wirklich, wie ich vermutet hatte. »Leanore hat Nessa genau die Informationen gegeben, die sie brauchte, um nach Nova zu kommen. Sie hatte von Anfang an keine Chance.«

»Sonst weiß ich nicht viel«, sagte Matt hilflos. »Sie haben mich die meiste Zeit über eingesperrt, und … Sebastian war nicht da. Nur … ein anderer Mann. Ich … kann mich nicht erinnern, ich …«

Ich schloss die Augen und versuchte, meinen Kopf freizubekommen. Irgendetwas war längst im Gange, und wir hatten es einfach noch nicht verstanden. Leanore würde das alles nicht tun, wenn sie kein größeres Ziel damit verfolgte.

Plötzlich weiteten sich Matts Augen, und er starrte auf seine Sigil-Hand hinab. »Es war Pelham. Kornelius Pelham. Leanore hat mit ihm gesprochen. Sie wollte … etwas über das Plateau wissen. Sie wollte wissen, welche Regierungsvertreter aus Prime dort sein würden.«

Regierungsvertreter aus Prime? Was interessierten Leanore irgendwelche Politiker? Und was hatte Kornelius Pelham damit zu schaffen? Seit Adam ihn vom Posten des Höchsten Magistrates enthoben hatte, um ihn durch Agrona Soverall zu ersetzen, war Pelham sicherlich nicht gut auf uns zu sprechen. Und es wunderte mich nicht, dass er mit Leanore gemeinsame Sache machte. Schließlich hatte er auf ihren Befehl hin über Jahre hinweg die verdünnte Magie in die Armenviertel Primes geliefert und dadurch die Chaosmagie überhaupt erst heraufbeschworen.

Aber trotzdem  …

»Warum sollte sie das wissen müssen?«, vollendete Adam meinen Gedanken.

Das Unbehagen war Matt deutlich anzusehen. Doch er schüttelte nur ein weiteres Mal den Kopf. »Ich … ich bin mir nicht … ganz sicher.«

»Matt! Denk nach!«, bat Dina.

»Ich glaube, sie will sie dort abfangen«, sagte er vorsichtig, als würde ihm die Information gerade erst wieder einfallen. »Ich – sie hatten mich in dieser Phase so oft mit Divinus kontrolliert und wieder freigelassen, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich mir das alles nur eingebildet habe, aber …«

»Sie?« , drängte Adam, eine Spur von Alarm in seiner Stimme. »Die Politiker aus Prime? Wo will sie sie abfangen? Auf dem Plateau?«

Matt nickte, und mit einem Mal schien er nicht mehr verwirrt und gequält. Stattdessen stand ihm der Schrecken voll und ganz ins Gesicht geschrieben.

»Deine Mutter …«, sagte er. »Sie wollte nicht länger im Schatten von Prime stehen, das waren ihre Worte. Sie will sich vom Mirror befreien und die richtige Welt neu formen.«

Adam atmete ein … und wieder aus. Dann griff er in seine Tasche und holte sein Spectum hervor. »Ich informiere Agrona«, sagte er knapp. »Sie muss sofort die Wachen auf dem Plateau verstärken.«

Doch als Adam den Deckel des Handspiegels winterblau aufleuchten ließ, erschrak ich, denn das Gesicht von Agrona Soverall sah völlig verstört aus.

»Mein Lord, ich habe schlechte Nachrichten«, platzte es aus ihr heraus, bevor Adam überhaupt sprechen konnte, woraufhin Dina ein genervtes Stöhnen entwich.

»Dem Nächsten, der diese Worte in genau dieser Reihenfolge sagt, verpasse ich eine«, murmelte sie und rieb dabei mit der Hand über das Schlangenband an ihrer Taille. »Ich habe schlechte Nachrichten satt.«

Agrona verzog das Gesicht missbilligend, aber bevor sie Dina zurechtweisen konnte, hakte Adam ein.

»Sag schon, Agrona. Was ist es?«

»Leanore … Deine Mutter ist vor wenigen Minuten am Plateau aufgetaucht.«

Adams Miene wurde zu Eis. »Wo ist sie jetzt?«

»Sie hat die Konferenzsäle bisher nicht betreten, sondern sich in die Privaträume zurückgezogen. Im Moment hat sie, bis auf wenige Magiehäscher, niemand zu Gesicht bekommen. Und ich will, dass es dabei bleibt.«

»Was hat sie vor?« Ich schaute von einem zum anderen. »Was meint sie damit, dass sie die richtige Welt neu formen will?«

»Was, wenn sie diesen Auftritt nur veranstaltet, um uns dorthin zu locken und dann an unsere Sigils zu kommen?«, fragte Celine.

Dina nickte. »Es könnte eine Falle sein. Aber was haben wir für eine Wahl? Wenn Leanore es wirklich auf die Prime-Regierungsvertretungen abgesehen hat, können wir nicht tatenlos zusehen. Wir haben diese Leute eingeladen, um die Welten näher zueinander zu bringen. Nicht, um sie jetzt einer Verrückten …«, sie warf Adam einen entschuldigenden Blick zu, »… zum Fraß vorzuwerfen.«

»Was ist mit Nikki?«, fragte Adam an Agrona gewandt, die daraufhin den Mund verzog.

»Ein Häscher meinte, sie bei deiner Mutter gesehen zu haben.«

Plötzlich kam Bewegung in Cedric. Er drängte sich neben Adam, und seine Stimme klang ungewohnt scharf. »Ihr müsst dafür sorgen, dass sie in Sicherheit ist! Egal, was es kostet!« Er schaute zu uns, sein Blick besorgt. »Es gibt etwas über die Athame, das ich euch noch nicht gesagt habe.«

»Was ist es?«, fragte ich leise, während Adam sein Spectum langsam schloss und damit die Verbindung zu Agrona trennte.

Cedric schaute zu mir auf, wieder mit diesem Ausdruck des Bedauerns im Gesicht, und seufzte. »Ich hatte es richtig übersetzt«, erklärte er. »Als wir unten im Labyrinth waren. Die Symbole an der goldenen Tür, die Warnungen … Ich verstehe es jetzt. Weil die Schattenathame nicht dauerhaft über eine Blutverbindung mit einem Träger verknüpft wird, braucht sie etwas anderes, um Magie wirken zu können. Und zwar die Lebenskraft desjenigen, der die Athame führt.«

Ich starrte Cedric an. Ich fühlte mich, als würde ich mich durch tiefes dunkles Wasser kämpfen.

»Also gibt es doch ein Opfer?«, fragte ich. »Jemand muss sterben?«

Cedric nickte langsam, und furchte dabei die Stirn. »Dieses Buch, das ich in der Bibliothek gefunden habe, muss geschrieben worden sein, nachdem die Athame bereits in Nova versteckt war. Die Informationen waren auffällig … zurückhaltend formuliert, aber in einem war es sehr klar: Wer die Athame führt, wird alle Lebenskraft verlieren und in einen ewigen Schlaf sinken, aus dem es kein Erwachen mehr gibt.«

Kein Erwachen. Cedric hatte recht. Das war letztlich nichts anderes als sterben.

Ich zitterte. Denn ich wusste, was das bedeutete. Meine Hoffnung auf Freiheit … sie war nur ein naiver Wunsch gewesen. Niemals würde jemand von uns dieses Opfer in Kauf nehmen, um unser eigenes Glück zu finden.

»Das ist aber noch nicht alles«, flüsterte Cedric. »Was die Prädiktion angeht … es gab einen Satz in dem Buch, der mich stutzig gemacht hat. Die Athame wurde darin als Wegbereiter bezeichnet. Für etwas, das die Macht hat, alle Magie auf der gesamten Welt zu kontrollieren.«

»Du meinst … ein weiteres Sigil?«, fragte Adam, und Cedric hob nur die Schultern.

»Ich weiß es nicht. Aber in jedem Fall bestätigt es das, was in den Inschriften im Labyrinth zu lesen war. Der Dolch ist gefährlich. Nicht nur für euch, nicht nur wegen der Dark Sigils. Er könnte den Untergang für alle bedeuten.«

Wundervoll, dachte ich bitter. Was zum Teufel hatten wir da bloß auf die Welt losgelassen?

»Wir müssen meiner Mutter so schnell wie möglich die Athame abnehmen«, sagte Adam und schaute dann zu mir.

Wir werden sie zurückholen, sagte er über unsere Verbindung hinweg, und zu meinem Erstaunen nahm er dabei vor allen anderen meine Hand, um sie zu umschließen. Wir werden die Athame zurückholen – und dann finden wir eine Lösung.

Ich drückte Adams Finger, ein warmes Gefühl in meinem Bauch. Doch da war auch noch etwas anderes. Eine furchtbare Vorahnung. Denn wie hatte der Älteste gesagt? Es lag an uns, in welche Richtung sich die Waage neigen würde.

Heilung oder Verderben.

Und sosehr ich auch daran glauben wollte, dass wir das Richtige taten … es konnte keine Gewissheit geben. Nicht, bis wir am Ende des Weges angekommen waren.